Nr. 40/2011
Wahrheitssuche / Anhörung bei schweren Vorwürfen / Persönlichkeitsschutz

(Stadt Biel c. «Bieler Tagblatt»)

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I. Sachverhalt

A. Am 16. November 2010 veröffentlichte das «Bieler Tagblatt» unter dem Titel «Wenn der Koch zum Revisor wird» einen längeren Artikel, der sich, wie bereits mehrere vorangegangene Beiträge, kritisch mit der Leiterin des Bieler Amts für Erwachsenen- und Jugendschutz (EJS) auseinandersetzte. Sie habe einen ehemaligen Arbeitskollegen aus ihrer Zeit beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zum Leiter des Revisorats gemacht, obwohl dieser, ein ehemaliger Koch, nicht genügend qualifiziert gewesen sei. Dies sei «Nepotismus», zitiert der Autor ungenannte Informanten. Die EJS-Leiterin habe sich zu den Vorwürfen des «Bieler Tagblatt» nicht äussern wollen und dies mit zwei laufenden Untersuchungen begründet. Über den Leiter des Revisorats hiess es im Artikel: «Als Arbeitsloser kam der heutige Chef der Zentralen Dienste und dem daran angegliederten Revisorat zum RAV. Statt einer neuen Stelle erhielt er im RAV Arbeit als Berater für Hotelfachleute. Hier lernte er die aktuelle EJS-Leiterin kennen. Und nachdem diese im Dezember 2000 den Chefposten erhalten hatte, besetzte sie im Frühjahr 2001 die frei gewordene Führungsposition im Revisorat des EJS mit dem gelernten Koch. Dieser war vorher mit seinem Restaurant in Konkurs gegangen.»

B. Eine Woche später, am 23. November 2010, schrieb das «Bieler Tagblatt» in seiner Rubrik «Frage der Woche»: «Soll die Leiterin in Ausstand treten?» Beim Bieler Erwachsenen- und Jugendschutz brodle es, der Leiterin werde vorgeworfen, «ein despotisches Regime zu führen». Die Leserschaft wurde eingeladen, auf der Internetseite der Zeitung ihre Meinung abzugeben, ob die Leiterin in Ausstand treten müsse. Wiederum eine Woche später, am 30. November 2010, veröffentlichte das «Bieler Tagblatt» unter dem zitierenden Titel «‹Linker Filz ist dicht gewoben›» eine Reihe von abfälligen Kommentaren aus der Leserschaft. Es hätten 121 Personen an der Umfrage teilgenommen; 81 Prozent seien der Meinung gewesen, die EJS-Leiterin müsse in Ausstand treten.

C. Mit Schreiben vom 12. April 2011 erhob die Stadt Biel, vertreten durch den Gemeinderat (Exekutive), Beschwerde beim Presserat gegen diese Beiträge im «Bieler Tagblatt». Der Artikel vom 16. November 2011 enthalte Behauptungen, die unwahr und persönlichkeitsverletzend seien. Zwar habe die EJS-Leiterin wegen der laufenden Untersuchungen tatsächlich keine Auskünfte geben können, doch habe der Journalist die beiden anderen Personen, gegen die er Vorwürfe erhob, nie dazu befragt. Der kritisierte Revisoratsleiter habe zwar eine Grundausbildung als Koch absolviert, daran anschliessend aber das Diplom einer Hotelfachschule erworben. Weder er noch das von ihm geführte Hotel hätten jemals Konkurs gemacht. Auch sei der Mann nie bei der Arbeitslosenversicherung eingeschrieben gewesen. Bei seiner Anstellung im Revisorat des EJS sei Nepotismus bzw. Vetternwirtschaft ausgeschlossen gewesen, da nicht die EJS-Leiterin, sondern – wie die Zeitung sogar geschrieben habe – der gemeinderätliche Direktor für die Anstellung verantwortlich gewesen sei. Auch wenn der Name des Revisoratsleiters nicht genannt worden sei, könne er aufgrund der Angaben in der Zeitung identifiziert werden. Der Journalist habe seine Pflicht zur Wahrheitsfindung (Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» – nachstehend kurz «Erklärung» genannt) und die Pflicht, bei schweren Vorwürfen Betroffene anzuhören (Richtlinie 3.8 zu Ziffer 3 der «Erklärung» – nicht Ziffer 7, wie die Beschwerdeführerin irrtümlich schreibt), verletzt.

In der «Frage der Woche» und dem Abdruck ausgewählter Antworten eine Woche später sieht die Beschwerdeführerin eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte der betroffenen Leiterin des EJS. Die abgedruckten Antworten zeigten, dass die sich zu Wort Meldenden «die Behauptungen und Unterstellungen aus den früheren Artikeln kritiklos übernommen» hätten. Die Vorwürfe der Vetternwirtschaft und der Inkompetenz seien aber durch die beiden externen Untersuchungen nicht bestätigt worden. Mit den «Umfrageergebnissen» sei die Leiterin aber öffentlich vorverurteilt worden.

D. In ihrer Antwort vom 12. April 2011 forderten die Chefredaktorin des «Bieler Tagblatt» und der Autor des Artikels eine Abweisung der Beschwerde. Im Artikel sei nirgends geschrieben, dass der Leiter des Revisorats Arbeitslosengelder bezogen habe. Die Tatsache, dass ein Mensch vorübergehend keine Anstellung habe, sei zudem kein schwerer Vorwurf und auch nicht persönlichkeitsverletzend. Der Autor des Artikels habe sich bemüht, die Angaben seiner Informanten «bei den offiziellen Stellen und dem direkt Betroffenen zu verifizieren, leider erfolglos». Der Beschwerdeantwort sind E-Mail-Kopien von Anfragen an die EJS-Leiterin und ihren vorgesetzten Gemeinderat und deren abschlägige Antworten beigefügt.

Zur Frage, ob der Leiter des Revisorats mit seinem Restaurant (tatsächlich war es ein Kleinhotel in Biel) Konkurs gemacht hatte, beruft sich die Beklagte auf fünf unabhängige Quellen. In der Beschwerdeantwort räumt sie allerdings ein, gemäss den Einträgen im Schweizerischen Handelsamtsblatt habe der Betreffende sein Hotel selbst liquidiert. Doch, meint die Beschwerdebeklagte, wenn der Leiter des Revisorats trotz der Liquidation bestreite, Konkurs gemacht zu haben, sei dies «eine Spitzfindigkeit, die keine presseethische Verfehlung des ‹Bieler Tagblatt› zu begründen vermag». Ohne Anerkennung einer Rechtspflicht habe das «Bieler Tagblatt» die Falschmeldung am 21. Mai 2011 korrigiert. Der Vorwurf eines Konkurses sei aber nicht schwerwiegend genug, dass der Journalist dem Betroffenen hätte Gelegenheit zur Stellungnahme geben müssen; ein schwerer Vorwurf wäre beispielsweise der eines betrügerischen Konkurses gewesen.

Das «Bieler Tagblatt» bestreitet, dass die «Frage der Woche», ob die EJS-Leiterin in Ausstand zu treten habe, die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen verletzt habe. Für den Schutz der Persönlichkeitsrechte seien die Gerichte zuständig und nicht der Presserat, der sich laut Reglement ausschliesslich mit presseethischen Fragen befasse. Bei der Umfrage habe es sich um «ein im Rahmen des Grundrechts der freien Meinungsäusserung zulässiges Vorgehen» gehandelt. Schliesslich verweist die Beschwerdebeklagte auf die Verdienste des «Bieler Tagblatt» in der Berichterstattung über Mängel im Amt für Erwachsenen- und Jugendschutz. Die Stadtregierung und die Verwaltung von Biel hätten mehrmals die Auskunft verweigert. Und der direktbetroffene Revisoratsleiter des RAV sei abends unter seiner Privatnummer im Gegensatz zu anderen Auskunftspersonen aus dem Amt nicht erreichbar gewesen. Nach Abschluss der beiden externen Untersuchungen habe die EJS-Leiterin ihr Amt abgegeben und das Revisorat sei reorganisiert worden.

E. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin an sowie Jan Grüebler, Claudia Landolt Starck, Peter Liatowitsch, Markus Locher, Daniel Suter und Max Trossmann.

F. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 24. August 2011 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Die von beiden Beschwerdeparteien eingereichten Dokumente zeigen einen Ausschnitt aus einer monatelangen, zähen Auseinandersetzung zwischen einem kritischen Presseorgan und den Stadtbehörden, deren Informationspolitik offenbar restriktiv war.

Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben unabhängiger Medien, die Arbeit von Behörden kritisch zu begleiten und auf mögliche Missstände deutlich hinzuweisen. Dabei darf ein Medienorgan durchaus auch die Absetzung einer Amtsperson – und nicht nur die Abwahl eines verantwortlichen Exekutivpolitikers – fordern. Voraussetzung ist aber, dass den Medienkonsumenten eine sachlich nachvollziehbare Begründung vorgelegt wird. Das Wächteramt der Medien muss verantwortungsvoll ausgeübt werden, sonst besteht die Gefahr von Willkür.

Wie schwer die Missstände in der Bieler Stadtverwaltung und wie berechtigt die Vorwürfe des «Bieler Tagblatt» tatsächlich waren, kann und muss der Presserat nicht beurteilen. Bei allem journalistischen Engagement muss sich das «Bieler Tagblatt» aber auch im vorliegenden Fall an den Massstäben messen lassen, die durch die «Erklärung» und die zugehörigen Richtlinien festgelegt sind.

2. Der Artikel «Wenn der Koch zum Revisor wird» behauptet einerseits, die EJS-Chefin betreibe «Vetternwirtschaft» oder «Nepotismus», indem sie freie Stellen in ihrem Amt mit Leuten besetzt habe, die sie von ihrer früheren Arbeitsstelle im RAV her kannte. Da es sich bei diesen Personen nicht um Verwandte handelte, müsste der Vorwurf – sollte er denn zutreffen – eher auf Günstlingswirtschaft als auf Vetternwirtschaft lauten. Doch diese Unschärfe allein verstösst noch nicht gegen berufsethische Pflichten. Auch der Umstand, dass der ihr vorgesetzte Gemeinderat juristisch für die Anstellung verantwortlich war, ändert nichts an der Tatsache, dass die EJS-Leiterin diese Personen aus ihrem früheren Berufsumfeld gekannt hatte, sie auswählte und ihrem Vorgesetzten vorschlug. Allerdings ist es nichts Ungewöhnliches, dass ein Abteilungsleiter bei der Neubesetzung von Stellen Personen berücksichtigt, die er in einem früheren Abschnitt seines Arbeitsleben kennengelernt hat und denen er deshalb vertraut. Problematisch und als Günstlingswirtschaft vorwerfbar wird dieses Prozedere erst, wenn die ausgewählten Personen nicht die nötigen Qualifikationen für die zu besetzenden Stellen besitzen. Der Artikel des «Bieler Tagblatt» kritisiert drei solche Stellenbesetzungen. Nur in einem der drei Fälle – dem des Revisoratsleiters – kann der Presserat auf Grund der eingereichten Unterlagen die erhobenen Vorwürfe teilweise beurteilen.

3. Schon der Titel «Wenn der Koch zum Revisor wird» weckt die Erwartung, dass hier die ungerechtfertigte Karriere einer inkompetenten Person dargestellt werde. Der Lead salzt nach und insinuiert Korruption: «Wie ist das Bieler Amt für Erwachsenen- und Jugendschutz derart ins Schlamassel geraten? Die Geschichte beginnt beim RAV und handelt von Vetternwirtschaft.» Nach einer längeren Einleitung wendet sich der Artikel dann der Karriere des Revisoratsleiters zu: «Als Arbeitsloser» sei er zum RAV gekommen, und «statt einer neuen Stelle erhielt er im RAV Arbeit als Berater für Hotelfachleute».

Nun behauptet die Stadt Biel aber, dass der Betreffende eben nicht «als Arbeitsloser» zum RAV kam, sondern als aus- und weitergebildeter Hotelfachmann und künftiger RAV-Berater. Mit anderen Worten: Das «Bieler Tagblatt» habe in diesem Punkt die Unwahrheit veröffentlicht. Dazu wendet die Beschwerdegegnerin ein, nirgends geschrieben zu haben, dass der Betroffene Arbeitslosengelder bezogen habe. Im Artikel heisse es vielmehr, er habe die Stelle als RAV-Berater erhalten, als er auf Stellensuche war.

Ist der im Bericht vom 16. November 2010 enthaltene Satz, «Als Arbeitsloser kam der heutige Chef der Zentralen Dienste und dem daran angegliederten Revisorat zum RAV» falsch? Der Presserat kann dies gestützt auf die ihm von den Parteien eingereichten Unterlagen nicht mit genügender Sicherheit beurteilen. Zwar geht er aufgrund der unbestrittenen Darstellung davon aus, dass der Betroffene nie Arbeitslosenunterstützung beantragt und bezogen hat. Dies schliesst aber nicht aus, dass er nach Aufgabe seiner gastronomischen Tätigkeit und vor dem Antritt der Stelle beim RAV vorübergehend stellenlos war. Zumal die von der Stadt Biel eingereichten Unterlagen gerade zu diesem Punkt keine aussagekräftigen Informationen enthalten. Mithin ist eine Verletzung der Ziffer 1 der «Erklärung» in diesem Punkt nicht erstellt.

4. Weiter heisst es im Artikel über den «gelernten Koch»: «Dieser war vorher mit seinem Restaurant in Konkurs gegangen.» Diese Behauptung ist nicht wahr. Es ist juristisch ein grosser Unterschied, ob ein Unternehmer seinen Betrieb liquidiert, oder ob er Konkurs anmelden muss. Noch grösser ist der Unterschied im moralischen Urteil der Öffentlichkeit: Während jemand, der seinen Betrieb liquidiert, als verantwortungsvoll Handelnder angesehen wird, hält man einen Konkursiten in der Regel für einen Versager. Die Unterscheidung von Konkurs und Liquidation ist daher mehr als eine Spitzfindigkeit und keineswegs von untergeordneter Bedeutung, wie dies die Beschwerdegegnerin nachträglich geltend macht. Da jeder Konkurs im «Schweizerischen Handelsamtsblatt» (SHAB) publiziert werden muss, hätte eine seriöse Recherche sich auf diese Quelle und nicht auf irgendwelche Zeugen vom Hörensagen stützen müssen. Die fehlerhafte Darstellung im Artikel verletzt deshalb die Wahrheitspflicht im Sinne von Ziffer 1 der «Erklärung».

5. Der ganze Artikel will die Qualifikation des Leiters des Revisorats so negativ als möglich darstellen: Ein arbeitsloser Konkursit wird zuerst (ungerechtfertigt) RAV-Berater und später (ebenso ungerechtfertigt) Abteilungsleiter in einem städtischen Amt. Durch diese Kumulation erhalten die Vorwürfe ein Gewicht, das es unumgänglich macht, dem Betroffenen die Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Es genügt nicht, nur den Kontakt zu den vorgesetzten Stellen zu suchen. Wer so angegriffen wird wie der Leiter des Revisorats, der muss sich persönlich äussern können. Dies gilt erst recht, wenn der Betroffene – wie vorliegend – aufgrund der Angaben im Bericht für Dritte ausserhalb seines näheren familiären und beruflichen Umfelds identifizierbar ist. Die Identifizierung ist gemäss der Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» bei Angestellten der öffentlichen Verwaltung mit einer leitenden Funktion zwar hinzunehmen. Umso wichtiger ist es aber, dass sich Betroffene bei identifizierender Berichterstattung zu schweren Vorwürfen äussern können.

Nun hat aber der Journalist – wie seine eingereichten E-Mail-Kopien zeigen – bloss die EJS-Leiterin ganz allgemein nach den Qualifikationen des Revisoratsleiters und seiner Zeit im RAV gefragt. Gerade die schwersten Vorwürfe – dass er Konkurs gemacht haben und als Arbeitsloser zu seinem Beraterposten beim RAV gekommen sein soll – erwähnt er in dieser Anfrage nicht einmal. Den direkt Betroffenen hat der Journalist offenbar nie mit den Vorwürfen konfrontiert, sondern bloss versucht, ihn am Abend unter seiner Privatnummer telefonisch zu erreichen. Er hätte die Vorwürfe aber gegebenenfalls auch schriftlich – per E-Mail oder Brief – unterbreiten müssen. Mit dieser Unterlassung hat er die Pflicht zur Anhörung bei schweren Vorwürfen verletzt (Richtlinie 3.8 zu Ziffer 3 der «Erklärung»).

6. a) Die Beschwerdeführerin sieht sodann in der «Frage der Woche» im «Bieler Tagblatt» vom 23. November und in den abgedruckten Antworten vom 30. November 2010 eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte der kritisierten EJS-Leiterin. In ihrer Beschwerdeantwort weist die Beklagte darauf hin, dass Persönlichkeitsrechte gemäss Art. 28 ff. ZGB nicht Inhalt einer Beschwerde an den Presserat sein können. Das ist richtig, doch übersieht die Beklagte, dass Ziffer 7 der «Erklärung» («Respektierung der Privatsphäre») durchaus auch persönlichkeitsrechtliche Komponenten enthält. So verlangt Ziffer 7, zweiter Satz, von Journalistinnen und Journalisten: «Sie unterlassen anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen.»

b) So sachlich die «Frage der Woche» auf den ersten Blick erscheint («Soll die Leiterin in Ausstand treten?»), so ist sie doch ein Pranger, der zu anonymen und sachlich nicht gerechtfertigten Anschuldigungen reizt. Und genau diese Stimmung zu erzeugen, war offensichtlich die Absicht des «Bieler Tagblatt». Denn wie sonst ist es zu erklären, dass die Redaktion in der Folgewoche nur anonyme Pauschalverurteilungen aus der Umfrage abdruckt – vom Titel «Linker Filz ist dicht gewoben» über «Diese Tragödie voller Egoismus und Vetternwirtschaft muss gehörig ‹ausgemistet› werden!» bis zu «Die Zustände ähneln denen einer Bananenrepublik. In Biel ist der Filz so dicht gewoben, dass keine Schere durchkommt».

Doch verletzt die Veröffentlichung dieser anonymen Kommentare die geschützte individuelle Persönlichkeit der kritisierten Amtsleiterin? Der Presserat hat die Frage kontrovers diskutiert und letztlich verneint. Die Mehrheit der Kammer berücksichtigt in ihrem Entscheid, dass die Kommentarfreiheit auch polemische Kommentare zulässt (Stellungnahme 50/2002) und dass sich die zitierten Pauschalurteile in einer für die Leserschaft erkennbaren Weise nicht primär an die Leiterin des Amts für Erwachsenen- und Jugendschutz, sondern vielmehr an ihre vorgesetzten Behörden und generell an den «Linken Filz» richten. Zudem ist die Leserschaft in der Lage, die Tragweite derartiger Pauschalvorwürfe zu werten und einzuordnen.

Trotzdem wäre es aber besser gewesen, wenn das «Bieler Tagblatt» diese oder ähnliche Sätze wenn schon in einem namentlich gezeichneten, redaktionellen Kommentar geschrieben und begründet hätte, wie es zu diesem Urteil gekommen ist. Hingegen ist es problematisch, unter dem Deckmantel der Meinungsäusserungsfreiheit die gleichen Aussagen als anonyme Anwürfe abzudrucken und sich nachher die Hände in Unschuld zu waschen. Wie man in die Leserschaft ruft, so schallt es zurück. Aber es liegt in der Verantwortung der Redaktion, ob und wie sie diese Reaktionen auch publiziert. Auch wenn der Presserat eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» verneint: Das «Bieler Tagblatt» handelte wenig verantwortungsvoll, ein anonymes Scherbengericht zu veranstalten, indem es mittels Leserumfrage den «Ausstand» einer Amtsperson anregte – was de facto nichts anderes als deren Absetzung meinte und von der Leserschaft auch nur in diesem Sinne verstanden wurde.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Mit seinem Artikel «Wenn der Koch zum Revisor wird» hat das «Bieler Tagblatt» in seiner Ausgabe vom 16. November 2010 die Wahrheitspflicht im Sinne von Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt, indem es behauptete, der Leiter des Revisorats im Bieler Amt für Erwachsenen- und Jugendschutz sei «vorher mit seinem Restaurant in Konkurs gegangen».

3. Weil das «Bieler Tagblatt» den Betroffenen nicht zu den wegen ihrer Kumulation schweren Vorwürfen angehört hat, hat es gegen die Ziffer 3 der «Erklärung» (Anhörung bei schweren Vorwürfen) verstossen.

4. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.

5. Das «Bieler Tagblatt» hat mit der Veröffentlichung der Antwort der Woche: «Linker Filz ist dicht gewoben» die Ziffer 7 der «Erklärung» nicht verletzt.