I. Sachverhalt
A. Am 19. Dezember 2010 berichtete Felicitas Witte in der «NZZ am Sonntag», laut einer neuen wissenschaftlichen Studie könnten Menschen mit normalen Cholesterinwerten getrost auf die Einnahme vorbeugender Statine verzichten (Titel: «Cholesterinsenker sind nichts für Gesunde»). Entgegen der vor zwei Jahren veröffentlichten «Jupiter-Studie», die zum ersten Mal gezeigt habe, dass auch Menschen ohne Herz-Kreislauf-Krankheiten von cholesterinsenkenden Statinen profitieren könnten, liefere nun eine neue Übersichtsstudie klare Hinweise, dass Menschen mit normalen Cholesterinwerten beruhigt auf Statine verzichten könnten. Unbestritten sei hingegen, dass Statine Menschen mit einer Krankheit am Herz oder an Blutgefässen sehr nützten. «Auch Menschen, die noch keine Herz-Kreislauf-Krankheiten haben, aber ein hohes Risiko dafür, profitieren davon.»
Die neue Metaanalyse habe bei der «Jupiter-Studie» Ungereimtheiten und Widersprüche aufgezeigt. Wichtigster Kritikpunkt sei der frühe Abbruch der Studie, was die Ergebnisse massiv verfälschen könne. Zudem bestünden Zweifel, dass die Studie frei von Interessenkonflikten sei. 9 von 14 Autoren hätten finanzielle Unterstützung vom Sponsor der Studie, dem Hersteller von Rosuvastatin erhalten. Ausserdem halte der Erstautor ein Patent auf dem hsCRP-Test. Laut einer umstrittenen Theorie weise ein erhöhter hsCRP-Wert auf ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfälle hin.
Nicht unerheblich seien auch die Nebenwirkungen der Einnahme von Statinen. «Am häufigsten Schmerzen in Muskeln oder Gelenken, Bauchschmerzen oder allgemeines Unwohlsein. Der beste Schutz vor Herz-Kreislauf-Krankheiten ist neben Nichtrauchen und gesunder Ernährung körperliche Bewegung. ‹Wenn man aber Muskelschmerzen hat, bewegt man sich natürlich nicht so gerne.›»
Illustriert ist der Bericht mit einem Bild, das ältere Frauen beim Hanteltraining zeigt. Die Bildlegende lautet: «Der beste Schutz vor Herz-Kreislauf-Krankheiten ist körperliche Betätigung sowie gesunde Ernährung.»
B. Am 22. Dezember 2010 gelangte Michael Romanens namens des Vereins Ethik und Medizin Schweiz (VEMS) mit einer Beschwerde an den Presserat und beanstandete, der Bericht von Felicitas Witte verstosse mehrfach gegen Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Wahrheit).
Falsch sei die Aussage der Bildlegende «Der beste Schutz vor Herz-Kreislauf-Krankheiten ist körperliche Betätigung sowie gesunde Ernährung.» Tatsächlich könne bloss ein Teil des Cholesterins durch Ernährung und Bewegung günstig beeinflusst werden. Bei erblich bedingt hohem Cholesterin helfe nur ein Statin. Und entgegen der Behauptung der Autorin komme die Studie nicht zum Schluss, dass Menschen mit normalen Cholesterinwerten getrost auf die Einnahme von Statinen verzichten könnten. «Bei entsprechender erblicher Vorbelastung wäre dies sogar gefährlich.» Die Studie stelle lediglich in Frage, ob alle Menschen mit normalen Cholesterinwerten von der präventiven Einnahme von Statinen profitierten.
Dass auch Menschen ohne Herz-Kreislauf-Krankheiten von der präventiven Einnahme von Statinen profitieren könnten, sei nicht erst seit der «Jupiter-Studie» bekannt. Zudem hätten nicht die Forscher, sondern das Safety Monitoring Board die Studie vorzeitig abgebrochen. «Dies, weil noch in keiner Statinstudie das Risiko nach zwei Jahren plötzlich wieder angestiegen ist und es unethisch ist, Versuchspersonen weiterhin einem Risiko auszusetzen, wenn dadurch nicht neue, nicht zu erwartende Erkenntnisse gewonnen werden.» Entgegen der falschen Behauptung im Bericht habe die «Jupiter-Studie» schliesslich gezeigt, dass Probleme mit der Muskulatur nicht häufiger als mit Placebo aufgetreten seien.
Überdies genüge der Artikel nicht den Anforderungen an eine ausgewogene Berichterstattung. Es sei nicht nachvollziehbar, dass sich die Autorin bloss auf die Aussagen von zwei Kardiologen stütze, ohne andere Spezialisten zumindest zu Wort kommen zu lassen, die sich auf diesem Gebiet über Jahre einen Namen gemacht hätten. Ebenfalls fehle der Hinweis auf die umfangreiche Fachliteratur, was einer Vorenthaltung von Informationen gleichkomme und damit gegen Ziffer 3 der «Erklärung» verstosse.
C. Am 23. Februar 2011 wies die anwaltlich vertretene Redaktion der «NZZ am Sonntag» die Beschwerde als unbegründet zurück.
Die beanstandete Bildlegende – «Der beste Schutz vor Herz-Kreislauf-Krankheiten ist körperliche Betätigung sowie gesunde Ernährung» – enthalte eine von der Präventivmedizin seit Jahren gepredigte und in der Bevölkerung allgemein anerkannte Aussage. Die nicht belegte «Richtigstellung» des Beschwerdeführers ziele daran vorbei. Denn der Artikel behaupte nicht, «erblich bedingt hohes Cholesterin» könne durch körperliche Betätigung sowie gesunde Ernährung günstig beeinflusst werden. Hingegen sei das Ergebnis der im Bericht der «NZZ am Sonntag» referierten Studie klar: «Es wurde kein Beweis dafür gefunden, dass eine prophylaktische Therapie mit Statinen die allgemeine Sterblichkeit günstig beeinflusst.» Zudem mache der Artikel klar, dass auf Statine nicht verzichtet werden könne, wenn im Einzelfall ein erhöhtes Risiko besteht, wie zum Beispiel eine erbliche Vorbelastung.
Der Beschwerdeführer liefere auch keinen Nachweis für seine Behauptung, es sei hinlänglich bekannt gewesen, dass auch Menschen ohne Herz-Kreislauf-Krankheiten von cholesterinsenkenden Statinen profitieren könnten. Dass die «Jupiter-Studie» neue Erkenntnisse enthalten habe, zeige nur schon die Tatsache, dass sie in den Medien Schlagzeilen machte. Im Übrigen habe der Artikel ihren Gegenstand korrekt beschrieben.
In Bezug auf den vorzeitigen Abbruch der Studie sage der Beschwerdeführer nichts anderes als der Artikel, nämlich, dass die Studie wegen der eindeutigen Ergebnisse abgebrochen wurde. Schliesslich werde entgegen der Darstellung des Beschwerdeführers im Artikel nicht behauptet, Probleme der Muskulatur seien in der Rosuvastatin-Gruppe häufiger aufgetreten als in der Placebo-Gruppe. Es werde lediglich darauf hingewiesen, dass, wer Muskelschmerzen hat, sich nicht so gerne bewege, dass aber unter anderem körperliche Bewegung der beste Schutz vor Herz-Kreislauf-Krankheiten sei. Hinzu komme, dass die «Richtigstellung» des Beschwerdeführers nicht korrekt sei. Gemäss der Studie seien in der Rosuvastatin-Gruppe 1421 Fälle von Muskelproblemen festgestellt worden, in der Placebo-Gruppe nur 1375.
In Bezug auf den Vorwurf der Unterschlagung von Informationen wendet die «NZZ am Sonntag» schliesslich ein, der Artikel zitiere zwei ausgewiesene und erfahrene Spezialisten. Zudem sei sie nicht verpflichtet gewesen, ein Verzeichnis der Fachliteratur zum Thema oder gar einen inhaltlichen Überblick über diese zu publizieren. Beiträge in der «NZZ am Sonntag» seien keine wissenschaftlichen Arbeiten, welche die Kriterien von wissenschaftlichen Publikationen erfüllen müssten.
D. Am 2. März 2011 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.
E. Nach Abschluss des Schriftenwechsels reichte der Beschwerdeführer am 3. März 2011 unaufgefordert eine Entgegnung zur Beschwerdeantwort der «NZZ am Sonntag» ein.
F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 29. April 2011 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Soweit der Beschwerdeführer die aus seiner Sicht nicht ausgewogene Berichterstattung beanstandet, ist die Beschwerde offensichtlich unbegründet. Gemäss seiner ständigen Praxis leitet der Presserat aus der «Erklärung» keine Pflicht zu «objektiver Berichterstattung» ab (vergleiche hierzu beispielsweise die Stellungnahmen 54/2009 und 20/2010). Ungeachtet davon, ob der beanstandete Bericht überhaupt als einseitig und/oder parteiergreifend zu werten ist, war die «NZZ am Sonntag» jedenfalls nicht verpflichtet, neben den beiden Kardiologen, die im Artikel zu Wort kommen, weitere Fachleute zu befragen.
2. Der Presserat hat bereits in seiner Stellungnahme 28/2000 darauf hingewiesen, dass von tagesaktuellen Medien nicht erwartet werden kann, dass sie ein Forum für fachspezifische wissenschaftliche Diskussionen zur Verfügung stellen. Es wäre deshalb unverhältnismässig, von einem Publikumsmedium eine Berichtigung zu verlangen, wenn eine von diesem abgedruckte Agenturmeldung eine lediglich für Insider relevante wissenschaftliche Unschärfe enthält.
Wie die «NZZ am Sonntag» einwendet, dürfte es selbst für medizinische Laien auf der Hand liegen, dass es zum Thema Statine neben den beiden im Bericht von Felicitas Witte angesprochenen wissenschaftlichen Studien weitere Fachpublikationen gibt. Mit seiner Forderung, der beanstandete Artikel hätte einen ergänzenden Hinweis auf die umfangreiche Fachliteratur enthalten müssen, verkennt der Beschwerdeführer den Unterschied zwischen wissenschaftlicher und journalistischer Tätigkeit. Insbesondere, wenn er sich in einem Publikumsmedium an ein breites Publikums wendet, bezweckt Wissenschaftsjournalismus immer, wissenschaftliche Sachverhalte in eine für Laien verständliche Sprache zu übersetzen und dabei Komplexität zu reduzieren. Vor diesem Hintergrund erscheint die vom Beschwerdeführer geforderte Ergänzung des beanstandeten Medienberichts mit einem Literaturverzeichnis kaum geeignet, zum besseren Verständnis der Leserschaft beizutragen. Zumal es für Leser/innen, die an vertiefter Information zum Thema interessiert sind, im Internetzeitalter problemlos möglich ist, Hinweise auf weiterführende Literatur auch selbstständig zu finden.
3. Im Artikel «Cholesterinsenker sind nichts für Gesunde» fasst die Autorin die aus ihrer Sicht wichtigsten Ergebnisse der am 28. Juni 2010 in den «Archives of Internal Medicine», Band 170 (Nr. 12), S. 1024ff. veröffentlichten Metanalyse von 11 früheren Studien («Statins and All-Cause Mortality in High-Risk Primary Prevention») zusammen und stellt sie den Ergebnissen einer früheren Studie entgegen. Gemäss dem von «NZZ am Sonntag» eingereichten Artikel des «Archives of Internal Medicine» hält die Metastudie einleitend fest, es sei unbestritten, dass Statine das Sterberisiko bei Personen mit einer klinischen Vorgeschichte in Bezug auf Herz-Kreislauf-Krankheiten verringern. Umstritten sei hingegen, ob die präventive Einnahme von Statinen bei gesunden Personen, welche zu den Risikogruppen gehören, die gleich positive Wirkung haben. In ihrer literaturbasierten Studie kommen die Forscher zum Schluss, dafür gebe es bisher keine eindeutigen Beweise.
Gestützt auf diese Analyse erscheinen die von der «NZZ am Sonntag» in Titel («Cholesterinsenker sind nichts für Gesunde»), Lead («Menschen mit normalen Cholesterinwerten können getrost auf die Einnahme vorbeugender Statine verzichten») und Bildlegende («Der beste Schutz vor Herz-Kreislauf-Krankheiten ist körperliche Betätigung sowie gesunde Ernährung») formulierten Zuspitzungen aus Sicht des Presserats zumindest vertretbar, weshalb eine Verletzung der Ziffer 1 der «Erklärung» zu verneinen ist. Ob sich – wie dies der Beschwerdeführer geltend macht – bei erblich vorbelasteten Personen eine andere Schlussfolgerung aufdrängt, kann der Presserat gestützt auf die ihm von den Parteien eingereichten Unterlagen nicht beurteilen. Der Beschwerdeführer belegt seine Tatsachenbehauptung nicht näher, während der Befund der Metastudie eher in die gegenteilige Richtung zu deuten scheint («This literature-based meta-analysis did not find evidence for the benefit of statin therpay on all-cause mortality in a high-risk primary prevention setup»). Nicht Thema des Berichts von Felicitas Witte ist es zudem, in welchem Umfang körperliche Betätigung und gesunde Ernährung geeignet sind, die Cholesterinwerte positiv zu beeinflussen.
4. Gemäss seiner Praxis stellt der Presserats bei Fehlern und Ungenauigkeiten in Medienberichten nur dann eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» (Wahrheit) fest, wenn sie im Gesamtzusammenhang für das Verständnis der Leserschaft relevant erscheinen (vergleiche dazu beispielsweise die Stellungnahme 64/2009 und 20/2010). Dies ist in Bezug auf die weiteren Beanstandungen des Beschwerdeführers zu verneinen, wonach bereits vor der «Jupiter-Studie» bekannt gewesen sei, dass auch Menschen ohne Herz-Kreislauf-Krankheiten von der präventiven Einnahme von Statinen profitieren könnten und dass nicht die Forscher, sondern das Safety-Monitoring-Board die Studie vorzeitig abgebrochen habe.
5. Schliesslich ist festzustellen, dass die Darstellungen der Parteien bei der Frage, ob als Nebenwirkung der Einnahme von Rosuvastatin übermässig Muskelschmerzen auftreten oder nicht, diametral auseinandergehen. Gestützt auf die eingereichten Unterlagen ist der Presserat nicht in der Lage, diesen Punkt zu beurteilen. Im Ergebnis ist deshalb festzuhalten, dass auch hier keine Verletzung der Ziffer 1 der «Erklärung» erstellt ist.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die «NZZ am Sonntag» hat mit der Veröffentlichung des Berichts «Cholesterinsenker sind nichts für Gesunde» vom 19. Dezember 2010 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagung von Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.