I. Sachverhalt
A. Am 1. Dezember 2010 berichtete «Tages-Anzeiger Online» über einen Strafprozess vor dem Geschworenengericht Zürich (Titel: «Ich würde Y. wieder in Marks Obhut geben»). Der Lead des Artikels lautet: «Zwei seiner Kinder soll Mark W. schwer misshandelt haben – ihre Mütter mussten heute vor Gericht aussagen. Eine davon ist von der Unschuld des Peinigers überzeugt.»
Am 10. Mai 2006 sei die kleine X. gestorben – nach jahrelangen Qualen. Ihr Vater, ein 44-jähriger Brite und eine 62-jährige Sozialpädagogin aus der Schweiz stünden vor Gericht. Laut dem Bericht räumte die Mutter der verstorbenen X. bei ihrer Befragung ein, sie habe ihre Tochter der Obhut des angeschuldigten Vaters anvertraut, obwohl sie dessen strenge «Erziehungsmethoden» gekannt habe. Dazu gehörte, dass er Kinder zur Strafe kalt abduschte und hungern liess. Nicht gewusst habe sie, dass der Vater das Mädchen schlug. Keine Zweifel habe hingegen die Mutter der Halbschwester von X., Y., die ihr Kind erneut in die Obhut des Angeschuldigten geben würde.
B. Gleichentags berichteten auch Viktor Dammann und Georg Nopper auf «Blick Online» über den Geschworenenprozess (Titel: «Das sagt die Schwester der toten X.»). Am heutigen Prozesstag sei dem Gericht eine Videoaussage der Halbschwester Y. der totgeschüttelten X. vorgespielt worden. Neun Tage nach dem Drama habe eine Polizistin die damals Siebenjährige befragt, was passiert sei. Der Bericht zitiert aus dem Video und beschreibt die «Erziehungs»- und Misshandlungsmethoden des Angeschuldigten. Illustriert ist der Bericht mit einem Bild der beiden Halbschwestern. Das Gesicht von Y. ist unkenntlich gemacht. Die Bildlegende nennt die Vornamen.
C. Am 3. Dezember 2011 berichtete «Blick Online» erneut über den Prozess («Arzt von X. [†4] ist noch heute geschockt»). Die verstorbene X. sei am Tag des Dramas ins Kinderspital Zürich eingeliefert worden. Der erstbehandelnde Arzt habe noch nie so etwas Schlimmes gesehen. Das Mädchen sei bereits praktisch hirntot gewesen. «Ich bin noch heute schockiert darüber.» X. habe praktisch am ganzen Körper blaue Flecken gehabt. Die Gesamtheit der Befunde hätte auf schwerste Misshandlungen hingewiesen. Zudem sei X. total abgemagert gewesen. Dass der Angeschuldigte seine Töchter hungern liess, zeigten auch die Aussagen der Kindergärtnerin von Y. Illustriert ist der Bericht mit dem gleichen Bild wie derjenige vom 1. September 2010.
D. Am 8. Dezember 2010 gelangte der Verein Espoir mit einer Beschwerde gegen die obengenannten Berichte von «Tages-Anzeiger Online» und «Blick Online» an den Presserat. Die Berichte hätten Y. ohne Not identifizierbar gemacht und damit die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Identifizierung; Kinder) verletzt.
Durch die Nennung des seltenen Vornamens Y. sowie die gleichzeitige Beschreibung von Lebensumständen (Pflegefamilie) und des heutigen Alters des Mädchens sei Y. ohne weiteres erkennbar. Zudem verletze die zweimalige Publikation des Fotos der beiden Mädchen durch «Blick Online» die Privatsphäre von Y.
E. Am 2. Januar 2011 wies die anwaltlich vertretene Redaktion von «Blick Online» die Beschwerde unbegründet zurück. Die beiden Berichte hätten lediglich die Vornamen der beiden Mädchen genannt. «Weitere Angaben namentlich über deren Familiennamen, heutige Unterbringung, Schulbildung etc. unterblieben.» Zudem sei das Gesicht von Y. auf dem Bild aus der Kindheit unkenntlich gemacht. Allein aufgrund der Angabe des Namens «Y.» sei diese nicht identifizierbar.
F. Am 31. Januar 2011 wies der Rechtsdienst der Tamedia AG die Beschwerde namens der Redaktion «Tages-Anzeiger Online» ebenfalls als unbegründet zurück. Der «Tages-Anzeiger» operiere bei der Gerichtsberichterstattung grundsätzlich dann mit einem Namen, wenn mehrere Parteien in den Fall involviert sind, da so die Verständlichkeit des Textes gefördert werde. Bei Einzeltätern genüge in der Regel die Nennung von Alter und/oder Beruf. «Erfundene» Namen würden nur benützt, wenn dies zur Anonymisierung nötig sei. Diese Vorgaben entsprächen der Richtlinie 7.2 (Identifizierung) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».
Die behauptete Identifizierbarkeit von Y. aufgrund des beanstandeten Medienberichts werde durch die Fakten nicht gestützt. Dagegen spreche insbesondere, dass beide Vornamen keineswegs so selten seien, wie der Beschwerdeführer behaupte. Sämtliche Beteiligten hätten zudem unterschiedliche Familiennamen. Ebenso wenig lasse die Altersangabe auf eine bestimmte Y. schliessen. Zudem wisse in der Regel nur ein begrenztes Umfeld davon, dass ein Kind in einer Pflegefamilie lebe. In Wila, wo sich das Geschehen ereignete, seien sowohl die Vorfälle als auch die Identität der Betroffenen bekannt. Y. und die Angeklagten lebten schon seit über vier Jahren nicht mehr an diesem Ort. An ihrem heutigen Wohnort wisse nur ihr engstes Umfeld von der Geschichte.
G. Am 8. Februar 2011 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.
H. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 8. April 2011 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Ziffer 7 der «Erklärung» verpflichtet Medienschaffende, die Privatsphäre der einzelnen Person zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Die Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» (Identifizierung) verlangt eine sorgfältige Interessenabwägung und nennt eine Reihe von Fällen, in denen eine Namensnennung und/oder identifizierende Berichterstattung zulässig ist. «Überwiegt das Interesse am Schutz der Privatsphäre das Interesse der Öffentlichkeit an einer identifizierenden Berichterstattung, veröffentlichen Journalistinnen und Journalisten weder Namen noch andere Angaben, welche die Identifikation einer Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld des Betroffenen gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden.»
Gemäss der Richtlinie 7.3 zur «Erklärung besonders zu schützen sind Kinder, auch Kinder von Prominenten und von weiteren im Fokus der Medien stehenden Personen. Höchste Zurückhaltung ist bei Recherchen und Berichten über Gewaltverbrechen angezeigt, von denen Kinder tangiert sind (sei es als Opfer, mögliche Täter/innen oder als Zeug/innen).
2. Der Presserat hat in seinen Stellungnahmen mehrfach darauf hingewiesen (vgl. hierzu beispielsweise den Entscheid 21/2007), dass sich die Gefahr einer Identifizierung über das engere soziale Umfeld hinaus zumindest erhöht, wenn ein Medienbericht den richtigen Vornamen und den ersten Buchstaben des Nachnamens von Betroffenen nennt. Er empfiehlt deshalb, nach Möglichkeit auf entsprechende Angaben zu verzichten und stattdessen beispielsweise Pseudonyme zu verwenden. Trotzdem ist die Nennung des richtigen Vornamens für sich allein weiterhin nicht als Verletzung der Ziffer 7 der «Erklärung» zu werten. Vielmehr ist aufgrund der Umstände des konkreten Einzelfalls abzuwägen, ob aufgrund der im Medienbericht enthaltenen Angaben der Kreis derjenigen, denen eine Identifizierung möglich ist unverhältnismässig gross erscheint beziehungsweise ob die Gefahr besteht, dass Personen, welche die Betroffenen kennen, durch den Bericht Kenntnis von vertraulichen Informationen erhalten, über die sie zuvor kaum informiert waren (Stellungnahme 51/2010).
3. Beim Bericht von «Tages-Anzeiger Online» ist es nach Auffassung des Presserates unwahrscheinlich, dass Y. in ihrem neuen Umfeld allein aufgrund der Angabe von Vornamen, heutigem Alter und des Umstands erkennbar ist, dass sie bei einer Pflegefamilie lebt. Zum
al der beschwerdeführende Verein die Gefahr einer Identifizierung im heutigen Alltagsumfeld lediglich abstrakt geltend macht, ohne dazu konkrete Anhaltspunkte ins Feld zu führen. Ist die konkrete Gefahr einer Identifizierung von Y. über den Kreis der ohnehin Eingeweihten hinaus zu verneinen, ist auch dem besonderen Schutzbedürfnis von Kindern im Sinne der Richtlinie 7.3 zur «Erklärung» Genüge getan. Insgesamt ist deshalb eine Verletzung der Ziffer 7 der «Erklärung» zu verneinen.
4. Ebenso gilt dies für die beiden Berichte von «Blick»-Online vom 1. und 3. Dezember 2010. Diese enthalten abgesehen von den beiden Vornamen keine weiteren für eine Identifizierung hilfreiche Anhaltspunkte. Eine Identifizierung von Y. erscheint zudem auch mit Hilfe des einige Jahre zurückliegenden Bildes schon deshalb ausgeschlossen, weil ihr Gesicht darauf unkenntlich gemacht ist.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. «Tages-Anzeiger Online» («Ich würde Y. wieder in Marks Obhut geben» vom 1. Dezember 2010) und «Blick Online («Das sagt die Schwester der toten X.» vom 1. Dezember 2010 und «Arzt von X. [†4] ist noch heute geschockt» vom 3. Dezember 2010) haben die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Identifizierung; Kinder) nicht verletzt.