Nr. 23/2015
Publikation von Leserbriefen

(X. c. «Tages-Anzeiger») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 11. Mai 2015

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I. Sachverhalt

A. «Der Tages-Anzeiger» publizierte am 27. August 2014 einen Gerichtsbericht mit dem Titel «Mädchen schamlos ausgenutzt». Ein ehemaliger Kommunikationsfachmann gab sich in einem Chat als Mädchen aus und brachte Dutzende von Mädchen dazu, ihm ihre Nacktbilder zu schicken. Diese Bilder sandte er einem in Deutschland lebenden Mann, der ihm wiederum Bilder schickte, die ihn beim Masturbieren vor den Fotos zeigen. Im Artikel wird das Vergehen des Verurteilten dargestellt sowie über die Argumentation von Staatsanwalt und Verteidiger berichtet. Der Staatsanwalt forderte ein Strafmass von fünf Jahren, der Verteidiger zwei Jahre bedingt kombiniert mit einer Therapie. Der Richter verurteilte den Mann zu viereinhalb Jahren unbedingt.

B. Am 24. September 2014 reichte X. beim Schweizer Presserat eine Beschwerde ein. Sie beanstandete, die Redaktion des «Tages-Anzeiger» habe ihren Leserbrief zum Artikel «Mädchen schamlos ausgenutzt» nicht publiziert. Die regelmässige Leserbriefschreiberin kritisiert darin die Forderung des Pflichtverteidigers nach einer bedingten Strafe von zwei Jahren. Sie verweist auf die Konsequenzen für die Opfer und erachtet sein Vorgehen als «‹Glanzleistung› einzig zum Schutz der Täterschaft».

C. Am 30. Dezember 2014 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» einen Artikel mit dem Titel «Nun erzählt die Frau von Roberto A.». Roberto A. hatte als unheilbar kranker Krebspatient an einer klinischen Studie der Dermatologischen Universitätsklinik Zürich teilgenommen, bei der ein neues Medikament getestet worden war. Er erlitt dabei eine schwere Gesichtslähmung. Der Fall wurde von der kantonsrätlichen Aufsichtskommission Bildung und Gesundheit aufgenommen. Im Artikel zieht die Ehefrau von Roberto A. nach dessen Tod Bilanz.

D. Am 8. April 2015 reichte X. beim Presserat eine weitere Beschwerde ein, in der sie wiederum beanstandete, die Redaktion des «Tages-Anzeiger» habe ihren Leserbrief vom 3. Januar 2015 zum Artikel «Nun erzählt die Frau von Roberto A.» nicht veröffentlicht. Auf Nachfrage habe ihr die Leserforumsredaktion am 12. Januar 2015 geantwortet, sie könne nur eine Minderheit der Leserbriefe veröffentlichen. Auch die Leserreaktion der Beschwerdeführerin sei dem nur beschränkt vorhandenen Platz zum Opfer gefallen. Am Tag darauf habe sie sich an Ignaz Staub, Ombudsmann der Tamedia AG, gewandt und ihn gebeten, darauf hinzuwirken, dass ihr Leserbrief doch noch nachträglich veröffentlicht werde. Eine Antwort habe sie auf diesen Brief nicht erhalten.

E. Mit Schreiben vom 20. April 2015 teilte der Presserat der Beschwerdeführerin mit, dass die beiden Beschwerden vom 24. September 2014 sowie vom 8. April 2015 zu einem Verfahren vereinigt werden.

F. Gemäss Art. 13 Abs. 1 des Geschäftsreglements behandelt das Presseratspräsidium Beschwerden, auf die der Presserat nicht eintritt.

G. Das Presseratspräsidium, bestehend aus Dominique von Burg, Präsident, Francesca Snider, Vizepräsidentin, und Max Trossmann, Vizepräsident, hat die vorliegende Stellungnahme per 11. Mai 2015 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gestützt auf Artikel 11 Absatz 1 seines Geschäftsreglements tritt der Presserat nicht auf eine Beschwerde ein, wenn diese offensichtlich unbegründet erscheint.

2. Die Redaktion des «Tages-Anzeiger» lehnte die Veröffentlichung des ersten Leserbriefs mit folgender Begründung ab: «Wenn Sie den Verteidiger kritisieren, trifft Ihre Kritik den Falschen, denn dieser kann in einem Rechtsstaat nicht anders handeln. Entscheidend ist das Urteil des Richters, der die Rolle des Verteidigers natürlich kennt.» Der Leserbrief landete also nicht einfach im Papierkorb. Die Redaktion setzte sich mit dem Inhalt auseinander und lehnte ihn begründet ab. Dasselbe gilt für den zweiten Leserbrief. Hier begründete die Redaktion dessen Nichtveröffentlichung mit dem mangelnden Platz. Es liegt in der Kompetenz der Redaktion, eine Auswahl der eingegangenen Leserbriefe zu publizieren. Aus der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» lässt sich keine Pflicht ableiten, dass Briefe von Leserinnen und Lesern veröffentlicht werden müssten. Im Übrigen sind Redaktionen bei der Auswahl von Leserzuschriften ebenso wenig wie bei redaktionellen Beiträgen zu Ausgewogenheit verpflichtet. Beide Beschwerden sind offensichtlich unbegründet.

III. Feststellung

Der Presserat tritt nicht auf die Beschwerden ein.