Nr. 25/2016
Schutz von Kindern

(X. c. «20 Minuten») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 22. August 2016

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I. Sachverhalt

A. Am 30. März 2015 veröffentlichte «20 Minuten» einen Artikel mit dem Titel «Gefährliches Hobby: Teenager klettert auf 135-Meter-Kran». Ein grosses Foto zeigt den auf einem Kran in luftiger Höhe sitzenden Jugendlichen, mit Blick auf die nächtliche Stadt Zürich. Der Artikel beschreibt, wie sich der 15-jährige Roofer R.S. Zutritt zur Baustelle verschaffte und den Kran bestieg. Daneben werden Aussagen von R.S. wiedergegeben. So müsse man beim Aufstieg «… extrem konzentriert sein und bei jedem Schritt aufpassen». Der Jugendliche erzählt ausserdem: «Die Angst, erwischt zu werden, spielt immer eine grosse Rolle.» Gemäss «20 Minuten» hatte R.S. bereits im letzten Dezember einen Kran erklommen. Zu Wort kommt ausserdem Natascha Mathyl, Sprecherin des betroffenen Bauunternehmens Implenia. Sie hat keine Freude an der riskanten Kran-Aktion und betont, dass alle Sicherheitsvorkehrungen ordnungsgemäss eingehalten worden seien.

B. X. beschwerte sich am 29. April 2015 beim Schweizer Presserat gegen den Artikel. Dieser verstosse gegen die zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») gehörende Richtlinie 7.3 (Kinder). Der Beschwerdeführer macht geltend, unter den «besonderen Schutz der Kinder» falle auch deren Schutz vor sich selber. Die mediale Aufmerksamkeit, welche der Knabe durch «20 Minuten» erfahre, animiere ihn, diese Taten zu wiederholen. Die Art und Weise der Berichterstattung und das spektakuläre Foto provoziere ausserdem gleichaltrige Kinder zur Nachahmung.

Der Beschwerdeführer macht den Vorschlag, Richtlinie 7.3 wie folgt zu erweitern:
«Richtlinie 7.3.1: Es ist nicht zulässig, Berichte über gefährliche Aktionen und/oder Straftaten, die Kinder und Jugendliche ausführen oder begehen, dergestalt zu verfassen, dass sie Kinder und Jugendliche zur Nachahmung animieren.
Richtlinie 7.3.2: Insbesondere ist zu vermeiden, dass die Berichterstattung in Wort und Bild gefährliche Aktionen und/oder Straftaten von Kindern und Jugendlichen verherrlicht.
Richtlinie 7.3.3: Es ist nicht zulässig, Kinder oder Jugendliche, die gefährliche Aktionen ausführen und/oder Straftaten begehen, mit medialer Aufmerksamkeit zu ködern oder zu belohnen. Insbesondere gilt es zu vermeiden, dass Kinder und Jugendliche eine gefährliche Aktion und/oder Straftat wegen der medialen Aufmerksamkeit begehen oder wiederholen.»

Schliesslich rügt der Beschwerdeführer die Verletzung der Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung). Es sei erstens unklar, ob die Informationen aus einem Interview mit dem Jugendlichen stammen oder von seinem Blog abgeschrieben wurden und zweitens sei der Autor des Artikels nicht ersichtlich. Auch hierfür schlägt er eine Erweiterung der Richtlinien vor.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 16. Juni 2015 beantragt der Rechtsdienst der Tamedia AG die Abweisung der Beschwerde. Die Beschwerdegegnerin bestreitet, dass der Schutz der Kinder vor sich selber in den Schutzbereich der Richtlinie 7.3 der «Erklärung» fällt. Diese verfolge alleine den Zweck, bei Berichterstattungen die Privatsphäre der Kinder zu gewährleisten. Den Vorschlag zur Erweiterung der Richtlinien lehnt sie ab, da die Presse wahrheitsgetreu über das aktuelle Geschehen berichten müsse, um ihrem Informationsauftrag nachzukommen. Die Beschwerdegegnerin bestreitet, dass es sich bei dem Artikel um einen Aufruf zur Nachahmung handelt. Es sei vielmehr auf «informationeller Basis» berichtet worden und auf die Gefährlichkeit und Widerrechtlichkeit der Aktivität hingewiesen worden.

Die Rügen bezüglich der Richtlinie 3.1 seien unbegründet, da sich ein Autorenkürzel am
Ende des Artikels fände. Die Aussagen des Roofers R.S. seien mit Anführungszeichen klar als direkte Aussagen gekennzeichnet.

D. Am 16. Februar 2016 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 22. August 2016 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Richtlinie 7.3 widmet sich den Kindern. Diese seien besonders zu schützen, auch Kinder von Prominenten und von weiteren im Fokus der Medien stehenden Personen. Höchste Zurückhaltung ist gemäss der Richtlinie bei Recherchen und Berichten über Gewaltverbrechen angezeigt, von denen Kinder tangiert sind. Richtlinie 7.3 dient als Konkretisierung der Ziffer 7 der «Erklärung», welche die Privatsphäre einzelner Personen schützt. Der Beschwerdeführer sieht Richtlinie 7.3 dadurch verletzt, dass die Art und Weise der Berichterstattung den Jugendlichen animiere, seine Aktivität zu wiederholen. Seiner Meinung nach fällt auch der Schutz der Kinder vor sich selber unter diese Bestimmung.

Der Presserat stimmt mit dem Beschwerdeführer darin überein, dass Richtlinie 7.3 der «Erklärung» unter bestimmten Umständen auch Kinder vor sich selber schützen kann, besonders dort, wo jugendlicher Übermut mitspielt (s. etwa Stellungnahme 9/2007 des Schweizer Presserats). Allerdings ist der Anwendungsbereich beschränkt. Richtlinie 7.3 hält Journalisten dazu an, der Privatsphäre von Kindern besonderen Schutz zu gewähren. So obliegt Medienschaffenden eine Verantwortung, das Kind, welches die Folgen einer Publikation nicht abschätzen kann, vor unbedachten Eigenaussagen zu schützen. In Stellungnahme 9/2007 etwa hatte der Presserat festgehalten, Journalisten dürften einen 16-jährigen urteilsfähigen Jugendlichen auch ohne Einwilligung der Eltern zu aktuellen Themen befragen. Der Autor wäre jedoch verpflichtet gewesen, den Jugendlichen trotz dessen Einwilligung vor einer ihn identifizierenden Berichterstattung zu einem heiklen Thema (Alkoholexzesse) zu schützen. Eine Erweiterung der Richtlinie 7.3 der «Erklärung» auf einen Schutz der Kinder vor ihren eigenen Taten – wie sie der Beschwerdeführer fordert – würde dem Wortlaut und der ratio legis der Bestimmung widersprechen.

Im vorliegenden Fall wurde der Name des Jugendlichen lediglich mit den Initialen bezeichnet und das Foto lässt seine Identität nicht erkennen. Dadurch wurde die durch Richtlinie 7.3 geschützte Privatsphäre nicht verletzt. Der Fakt, dass Roofer R.S. schon einen anderen Kran bestiegen und «20 Minuten» auch darüber berichtet hatte, ist kein Nachweis dafür, dass der Jugendliche diese zweite Besteigung aufgrund der medialen Aufmerksamkeit unternahm. Ob der Zeitungsartikel von «20 Minuten» den Jugendlichen tatsächlich zu weiteren solchen Taten animiert, steht also nicht fest. Da Richtlinie 7.3 jedoch wie erwähnt nur die Privatsphäre der Kinder schützt, fällt der Schutz vor Wiederholungstaten nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie. Aus diesem Grund kann auch die Frage, ob ein 15-Jähriger überhaupt noch von der Richtlinie bezüglich «Kinder» erfasst wird, an dieser Stelle offen bleiben.

2. Der Beschwerdeführer bringt weiter vor, es seien auch andere gleichaltrige Kinder vor der Gefahr der Nachahmung zu schützen. Gleich wie der Schutz vor Wiederholungstaten fällt auch der Schutz vor Nachahmungstaten nicht unter den Anwendungsbereich von Richtlinie 7.3. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers weist der Artikel nicht den Charakter eines Aufrufs zur Nachahmung auf – vielmehr wird darin explizit auf die Gefahr und die Widerrechtlichkeit der Aktivität des Roofers hingewiesen.

3. Soll Richtlinie 7.3 erweitert werden, um einen verschärften Schutz der Kinder über deren Privatsphäre hinaus zu gewährleisten? Bei der Berichterstattung über Suizide hatte der Pr
esserat einen solchen Schutz bejaht und verlangt, dass besondere Zurückhaltung geübt werde wegen der Gefahr der Nachahmung (Stellungnahme 8/92 des Schweizer Presserats). Während sich die Problematik der Nachahmung von Suiziden auch wissenschaftlich nachweisen lässt, bewegt man sich bei Berichten über von Kindern verübte Straftaten und gefährliche Aktionen auf Neuland: Es ist offen, ob diese zu Nachahmung animieren. Der Presserat lehnt eine Erweiterung der Richtlinie 7.3 der «Erklärung» deshalb zum jetzigen Zeitpunkt ab. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Journalisten bei Berichten über jugendliche Straftaten und gefährliche Aktionen nicht besonders zurückhaltend sein sollen.

4. Zuletzt macht der Beschwerdeführer eine Verletzung der Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) der «Erklärung» geltend. Seiner Meinung nach ist nicht ersichtlich, wer Autor des Artikels ist und woher die Informationen zu den Aussagen von R.S. stammen. Die Rüge des Beschwerdeführers bezüglich mangelnder Autorenschaft ist unbegründet, denn der Artikel ist am Ende mit dem Kürzel «CED» gezeichnet. Auch bei der Frage der Autorenschaft sieht der Presserat keinen Handlungsbedarf, Details in einer Richtlinie zu regeln. «20 Minuten» führt zudem in seiner Beschwerdeantwort zu Recht aus, dass die Anführungszeichen ausreichend signalisieren, dass es sich um direkte Aussagen des Roofers R.S. handelt. Die Herkunft der Zitate ist für die Leser somit klar erkennbar.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. «20 Minuten» hat mit seinem Artikel «Gefährliches Hobby: Teenager klettert auf 135-Meter-Kran» vom 30. März 2015 Ziffer 7 (Privatsphäre; Kinder) und Ziffer 3 (Quellenbearbeitung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.