Zusammenfassung
«Dieser deutsche Sommer gehörte politisch ganz der AfD. Aus dem Hintergrund dirigiert vom Faschisten Björn Höcke und radikaler als je zuvor, steht sie in den Umfragen höher denn je.» So begann im Herbst 2023 ein Artikel im «Tages-Anzeiger» (online). Dagegen ging eine Beschwerde ein. Dass Höcke und der von ihm mitbegründete Flügel «unbestreitbar rechtsextrem und antisemitisch sind» – argumentierte der Beschwerdeführer – «ist nach wie vor umstritten und wurde bisher von keinem Gericht endgültig entschieden». Jemanden als «Faschisten» zu bezeichnen, sei ein schwerwiegender Vorwurf und es wäre daher richtig gewesen, im Artikel auf die Experten und Institutionen zu verweisen, die den Wahrheitsgehalt der Behauptung anzweifelten, monierte der Beschwerdeführer.
Der Presserat kam jedoch zum Schluss: Ja, man darf Höcke einen Faschisten nennen. In der öffentlichen Debatte herrsche Einigkeit über die Charakterisierung des AfD-Politikers und seines «Flügels». In der Stellungnahme wird festgehalten: «Die einzigen Exponenten, die dies in Frage stellen, stammen selber aus der AfD und ihrem unmittelbaren Umfeld. Dass es – wie der Beschwerdeführer anführt – kein endgültiges und rechtskräftiges Urteil gibt, das abschliessend legitimiert, Höcke einen ‹Faschisten› zu nennen, ist nicht entscheidend. Es kann nicht allein von rechtskräftigen gerichtlichen Urteilen abhängig gemacht werden, wer journalistisch wie charakterisiert werden darf.» Der Sachverhalt im Fall von Höcke sei hinreichend klar, wenn dieser als ausgebildeter Historiker – unter anderem – bewusst zum Skandieren verbotener Parolen aus der Nazizeit wie «Alles für Deutschland» aufrufe. Es dürfe davon ausgegangen werden, dass, wer nicht Faschist ist, in seinen Reden nicht Nazi-Parolen skandieren lässt.
Résumé
«Dieser deutsche Sommer gehörte politisch ganz der AfD. Aus dem Hintergrund dirigiert vom Faschisten Björn Höcke und radikaler als je zuvor, steht sie in den Umfragen höher denn je.» (Cet été en Allemagne était placé entièrement sous le signe de l’AfD. Dirigé en coulisses par le fasciste Björn Höcke, et plus radical que jamais, le parti fait actuellement son meilleur score dans les sondages.). C’est ainsi que débutait un article du «Tages-Anzeiger» publié en ligne à l’automne 2023. Une plainte a été déposée contre cet article auprès du Conseil suisse de la presse. Selon son auteur, aucun tribunal, par un jugement entré en force, n’a jamais qualifié Höcke et la faction qu’il a fondée au sein du parti («Der Flügel») comme étant sans contexte d’extrême droite et antisémite, ce qui continue d’en faire une caractérisation contestable. À ses yeux, désigner quelqu’un comme fasciste constitue un reproche grave et il aurait donc été adéquat de se référer dans l’article aux experts et institutions qui remettent en question la véracité de cette affirmation.
Le Conseil suisse de la presse a néanmoins conclu qu’il était permis de qualifier Höcke de fasciste, dans la mesure où cette qualification fait l’unanimité dans le débat public, tant au sujet du politicien lui-même que de la faction qu’il a fondée. Il a relevé que les seuls personnages publics à la remettre en question proviennent de l’AfD lui-même et de son environnement proche. Il n’est pas déterminant selon lui, contrairement à ce qu’affirme l’auteur de la plainte, qu’il n’y ait jamais eu de jugement définitivement entré en force légitimant l’appellation «fasciste» au sujet de Höcke. Il a rappelé que le point de vue exprimé par les journalistes ne pouvait pas dépendre uniquement de jugements entrés en force. Les faits sont clairs dans le cas de cet historien de formation qui appelle sciemment à scander des slogans interdits de l’époque nazie tels que «Alles für Deutschland». Du point de vue du Conseil suisse de la presse, il est permis de conclure qu’une personne qui n’est pas fasciste n’appelle pas dans ses discours à scander des slogans nazis.
Riassunto
«Da un punto di vista politico, l’estate tedesca è appartenuta interamente all’AfD, guidato dietro le quinte dal fascista Björn Höcke. L’ulteriore radicalizzazione ha portato il partito in testa ai sondaggi come mai prima d’ora.» Così inizia un articolo su «Tages-Anzeiger» (online) dell’autunno 2023, contro il quale è stato presentato un reclamo. Secondo il reclamante, l’affermazione che Höcke e l’ala del partito di cui è cofondatore siano «inequivocabilmente di estrema destra e antisemiti è ancora oggetto di dibattito e non è finora stata sancita da nessun tribunale» («[Dass Höcke und der von ihm mitbegründete Flügel] unbestreitbar rechtsextrem und antisemitisch sind ist nach wie vor umstritten und wurde bisher von keinem Gericht endgültig entschieden»). Il reclamante ritiene che definire una persona «fascista» sia un’accusa grave e che nell’articolo si sarebbe pertanto dovuto fare riferimento agli esperti e alle istituzioni che dubitano della veridicità dell’accusa.
Il Consiglio della stampa è tuttavia giunto alla conclusione che sì, Höcke può essere definito un fascista. Nel dibattito pubblico c’è consenso sulla caratterizzazione del politico dell’AfD e della sua fazione; nella presa di posizione si legge tra l’altro: «Gli unici esponenti che mettono in dubbio questa definizione sono i membri stessi dell’AfD e del suo entourage. Il fatto che – come afferma il reclamante – non vi sia una sentenza definitiva e giuridicamente vincolante che legittimi in via definitiva di definire Höcke ‹fascista› non è decisiva. Non si può far dipendere soltanto da sentenze giudiziarie definitive chi può essere caratterizzato giornalisticamente e come.» I fatti nel caso di Höcke sono sufficientemente chiari se lui, in quanto storico di formazione, tra le altre cose invita deliberatamente a cantare slogan proibiti e appartenenti al periodo nazista come «Alles für Deutschland». Si può presumere che chi non è fascista, non esorti a cantare slogan nazisti nei suoi discorsi.
I. Sachverhalt
A. Am 8. September 2023 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» in seiner Onlineausgabe den Artikel «Deutsche Rechtsradikale im Hoch. Soll man die AfD verbieten?». Der Berliner Korrespondent, Dominique Eigenmann, berichtete über die kontrovers geführte Debatte, ob die Partei «Alternative für Deutschland» (AfD) verboten werden soll. Der Autor lotet die juristischen Möglichkeiten und Hürden aus, die Partei als verfassungsfeindlich zu erklären, was notwendig wäre, um sie zu verbieten. Der Artikel beginnt mit folgenden Sätzen: «Dieser deutsche Sommer gehörte politisch ganz der AfD. Aus dem Hintergrund dirigiert vom Faschisten Björn Höcke und radikaler als je zuvor, steht sie in den Umfragen höher denn je (…).»
B. Am 23. November 2023 reichte X. beim Schweizer Presserat eine Beschwerde gegen den oben genannten Artikel ein. Er macht geltend, dieser verstosse gegen Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung»). Zur Begründung verweist der Beschwerdeführer auf die Praxis des Presserats zu Richtlinie 3.9 (Anhörung – Ausnahmen), ohne diese jedoch zum Gegenstand der Beschwerde zu machen. Nach Ansicht des Beschwerdeführers ist die Bezeichnung «Faschist» für Björn Höcke unzutreffend, deren Verwendung werde im Text weder erläutert noch gerechtfertigt. Dass Höcke und der von ihm mitbegründete Flügel «unbestreitbar rechtsextrem und antisemitisch sind» – so der Beschwerdeführer – «ist nach wie vor umstritten und wurde bisher von keinem Gericht endgültig entschieden». Jemanden als «Faschisten» zu bezeichnen, sei ein schwerwiegender Vorwurf und es wäre daher richtig gewesen, im Artikel auf die Experten und Institutionen zu verweisen, die den Wahrheitsgehalt der Behauptung anzweifelten. Die Beschwerde verweist auf Stellungnahme 44/2021 des Presserats, wonach das Basler Onlineportal «Prime News» gegen die Wahrheitspflicht verstossen habe, weil der Vorwurf des «Antisemitismus» im Text zu spät begründet worden sei: In diesem Fall habe sich der Vorwurf gegen die BDS-Bewegung («Boycott, Divestment and Sanctions») gerichtet, die den Staat Israel durch wirtschaftlichen und politischen Druck dazu dränge, von der Besetzung und Kolonisierung arabischer Gebiete abzurücken. In ähnlicher Weise würde auch der Artikel des «Tages-Anzeiger» gegen Ziffer 1 der «Erklärung» verstossen, wobei hier sogar jegliche Rechtfertigung für den Vorwurf des Antisemitismus fehle. Der Beschwerdeführer weist ferner darauf hin, dass nach der Praxis des Presserats – und unter Bezugnahme auf die Richtlinie über die Pflicht zur Anhörung bei schwerwiegenden Vorwürfen bzw. Ausnahmen davon (Richtlinie 3.9) – auf eine Anhörung verzichtet werden könne, wenn die Vorwürfe durch offizielle und öffentliche Dokumente, wie z. B. rechtskräftige Gerichtsurteile, belegt seien. Für den Beschwerdeführer kann diese Argumentation auch im Fall von Ziffer 1 der «Erklärung» (Wahrheitspflicht) übernommen werden, und daher sei es in diesem speziellen Fall – weil noch kein rechtskräftiges Urteil vorliege – nicht zulässig, den Begriff «faschistisch» zu verwenden, ohne weitere Spezifizierung und ohne abweichende Meinungen zu erwähnen.
C. In seiner Stellungnahme vom 21. Mai 2024 beantragte der Rechtsdienst der TX Group im Namen der Redaktion «Tages-Anzeiger» die Abweisung der Beschwerde: Im fraglichen Artikel seien keine Unwahrheiten berichtet und keine wichtigen Fakten verschwiegen worden. Die Analogie zu Stellungnahme 44/2021 des Presserats sei nicht gegeben. Im Beitrag, den der Presserat in dieser Stellungnahme zu beurteilen hatte, habe eine Erläuterung der Ziele der BDS-Bewegung gefehlt, und die gegenteiligen Ansichten – geäussert von Anwälten, Menschenrechtsaktivisten und Nichtregierungsorganisationen – seien zu spät in den Text eingeflossen. Zudem sei eine historisch falsche Parallele zwischen der Judenverfolgung im Nationalsozialismus und den aktuellen BDS-Aktivitäten gezogen worden. Der «Tages-Anzeiger» weist darauf hin, dass im vorliegenden Fall die einzigen Gegenstimmen zu Höckes Bezeichnung als «Faschist» aus der eigenen Partei kommen, nämlich der AfD. Unter PolitikwissenschaftlerInnen, HistorikerInnen und auch in den deutschen Medien herrsche weitgehend Einigkeit darüber, dass Höcke rechtsextreme und faschistische Ansichten vertrete. Diese Charakterisierung werde in allen Medien als Tatsache verwendet, ohne dass es einer weiteren Erklärung bedürfe. Unter Verweis auf die Praxis des Presserats zu Richtlinie 3.9 (Anhörung – Ausnahmen) weist die Redaktion darauf hin, dass in diesem konkreten Fall zahlreiche Gerichtsverfahren zum Thema Rechtsextremismus laufen würden. Auch wenn bis anhin – streng genommen – juristisch (noch) nicht abschliessend geklärt sei, ob Björn Höcke als Faschist einzustufen sei oder nicht, liege trotzdem keine journalistische Sorgfaltspflichtverletzung vor. «Ein Grund für diese Unklarheit dürfte sein, dass Höcke selbst sowie seine Partei seit 2020 nicht mehr gegen Bezeichnungen als Faschist, Rechtsextremist oder gar Nazi juristisch vorgegangen ist», schreibt der Rechtsdienst: «Beobachter meinen, Höcke habe wohl vermeiden wollen, dass ein Gericht ihn politisch als Extremisten einordne.» In den letzten Jahren sei Höcke zum Hauptrepräsentanten jener Kräfte in der AfD geworden, die nach Meinung von Experten und Behörden offen rechtsextremistisch sind. Zur Untermauerung dieser These verweist der «Tages-Anzeiger» auf eine Petition, die von fast zwei Millionen Deutschen unterstützt worden sei und die Unwählbarkeit Höckes fordere, sowie auf konservative Politiker, die ihn als Faschisten oder sogar als Nazi bezeichneten, Worte, die bisher nur von linken Politikern zu hören gewesen seien.
D. Der Presserat wies die Beschwerde seiner 1. Kammer zu, der Susan Boos (Präsidentin), Luca Allidi, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Francesca Luvini und Casper Selg angehören. Susan Boos trat von sich aus in den Ausstand.
E. Die 1. Kammer des Presserats beriet den Fall an ihrer Sitzung vom 30. August 2024 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägung
Gemäss Ziffer 1 der «Erklärung» halten sich JournalistInnen an die Wahrheit ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen und lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren. Die Suche nach der Wahrheit ist die Grundlage der Information; sie beinhaltet die sorgfältige Prüfung der zugänglichen und verfügbaren Daten, die Wahrung der Integrität der Dokumente (Text, Ton, Bild), die Überprüfung und Korrektur von Fehlern (Richtlinie 1.1). Die Frage, die sich hier stellt, ist, ob der Journalist mit der Verwendung des Begriffs «Faschist» in Bezug auf den deutschen Politiker Björn Höcke gegen die Wahrheitssuche verstossen hat. Wie legitim ist es, Höcke ohne weitere Erläuterung oder Relativierung pauschal als «Faschisten» zu bezeichnen?
Der Beschwerdeführer argumentiert mit Verweis auf Stellungnahme 44/2021 des Presserats, in der ein Verstoss gegen Ziffer 1 der «Erklärung» festgestellt wurde: Der Antisemitismusvorwurf gegen die BDS-Bewegung sei gemäss Presserat nicht gerechtfertigt gewesen, da dazumal die Erläuterung, warum dieser Begriff verwendet wurde, zu spät im Text erfolgt sei und es in der Gesellschaft diesbezüglich keine einhellige Meinung unter Experten gebe; da es sich um einen schwerwiegenden Vorwurf handelte, wäre es angebracht gewesen, auch über die anderen Positionen zu berichten.
Der Presserat hält jedoch die Argumente des «Tages-Anzeiger» für überzeugend. Stellungnahme 44/2021 ist für diesen Fall irrelevant, weil die beiden Fälle nicht vergleichbar sind: Im Fall Höcke werden keine falschen historischen Parallelen gezogen. Der Begriff «Rechtsextremist» wird im Übrigen implizit durch den Hinweis auf die laufende öffentliche Diskussion und die verschiedenen Verfahren erläutert, in die Höcke und der von ihm mitgegründete, radikalisierte «Flügel» der Partei verwickelt ist. Zudem herrscht in der öffentlichen Debatte Einigkeit über die Charakterisierung von Höcke und seinem «Flügel»; die einzigen Exponenten, die dies in Frage stellen, stammen selber aus der AfD und ihrem unmittelbaren Umfeld. Dass es – wie der Beschwerdeführer anführt – kein endgültiges und rechtskräftiges Urteil gibt, das abschliessend legitimiert, Höcke einen «Faschisten» zu nennen, ist nicht entscheidend. Es kann nicht allein von rechtskräftigen gerichtlichen Urteilen abhängig gemacht werden, wer journalistisch wie charakterisiert werden darf. Der Sachverhalt im Fall von Höcke ist hinreichend klar, wenn dieser als ausgebildeter Historiker – unter anderem – bewusst zum Skandieren verbotener Parolen aus der Nazizeit wie «Alles für Deutschland» aufruft. Es darf davon ausgegangen werden, dass, wer nicht Faschist ist, in seinen Reden nicht Nazi-Parolen skandieren lässt. Die gerichtlich noch nicht abschliessend geklärte Frage, auf die der Beschwerdeführer sich bezieht, lautet nicht, ob Höcke das getan hat – das ist belegt – sondern sie lautet nur, ob er dies in einer Art und Weise tut, die gegen den Paragraphen 86a des Deutschen Strafgesetzbuches («Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen») verstösst. Dies ist aber für die journalistische Charakterisierung nicht allein entscheidend.
III. Feststellungen
1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.
2. «tagesanzeiger.ch» hat mit dem Artikel «Deutsche Rechtsradikale im Hoch: Soll man die AfD verbieten?» vom 8. September 2023 die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.