Nr. 19/2019
Wahrheitssuche / Quellenbearbeitung / Berichtigungspflicht / Achtung der Menschenwürde

(X. c. «NZZ online»)

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I. Sachverhalt

A. Am 13. November 2017 veröffentlichte die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) einen Artikel ihres Korrespondenten Paul Flückiger unter dem Titel «Kaczynski wird die rechten Geister nicht mehr los». Der Untertitel lautete ursprünglich: «Zehntausende von Neonazis sind am Nationalfeiertag unbehelligt durch Warschau gelaufen. Statt ihr eigenes Verhältnis zu diesen Gruppen zu klären, wittert die Regierung eine Provokation der Opposition.» Kurze Zeit darauf wurde der Lead geändert auf nur noch «Tausende von Neonazis …». Der Artikel selber befasst sich mit den politischen Konsequenzen einer Demonstration zum Nationalfeiertag, zwei Tage zuvor, an welcher 60’000 Personen teilgenommen hätten und an welcher «rassistische Spruchbänder» wie «Weisses Polen – Weisses Europa», «Reines Blut» oder «Stopp der Islamisierung Polens» gezeigt worden seien. Die Demonstration sei organisiert worden von der «neofaschistischen Organisation Nationalradikales Lager». Der Autor weist darauf hin, dass Innenminister Mariusz Blaszczak von den «bedenklichen Tendenzen», die da sichtbar geworden seien, nichts gesehen haben wolle, sondern von einem «schönen Anblick» gesprochen habe. Andere Exponenten der rechtsnationalen Regierung sähen das allerdings anders, zitiert wird Vizejustizminister Patryk Jaki, der angeregt habe, derartige Tendenzen müssten strafrechtlich verfolgt werden. Er könne aber nicht ausschliessen, dass die problematischen Äusserungen Provokationen seitens der oppositionellen Bürgerplattform gewesen seien. Diese Argumentation, so der Artikel weiter, entspreche einem häufig gewählten Vorgehen der Regierung: Man mache immer die Opposition verantwortlich, wenn Probleme dieser Art auftauchten. Der Artikel beschreibt im Weiteren die Vorgeschichte des nahen Verhältnisses der Regierungspartei PiS zur extremen Rechten, welche der Grund dafür sei, dass sie sich bis heute nicht klar von der dieser abgrenze.

Der Artikel kommt dann zurück auf die erwähnte Demonstration und stellt fest, dass vielen Polen gar nicht habe klar sein können, wer diesen «Unabhängigkeitsmarsch» am Nationalfeiertag organisiert habe. Keine der rechtsradikalen Organisationen, welche das besorgt hätten, seien auf irgendeinem der Aufrufe vermerkt gewesen. Im Übrigen sei an der Demonstration kein Träger der umstrittenen Banner oder von denjenigen, welche illegal Rauchfackeln entzündet hätten, festgenommen worden. Wohl aber 45 Gegendemonstranten. Und weiter sei Staatschef Andrzej Duda, der früher der PiS nahegestanden habe, die einzige Autorität gewesen, die sich mit klaren Worten gegen derartige Tendenzen zu Wort gemeldet habe.

B. Am 7. Dezember 2017 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den in der Onlineausgabe veröffentlichten Artikel ein und rügte Verstösse gegen die Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung)» sowie gegen Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung), Richtlinie 5.1 (Berichtigungspflicht) und Richtlinie 8.1 (Achtung der Menschenwürde). Diese Verstösse seien zu finden gewesen zum einen im ursprünglichen Lead, in welchem von Zehntausenden Neonazis die Rede gewesen sei. Dies sei erst einige Tage später korrigiert worden. Zum zweiten sei in einer Bildunterschrift von 60’000 Nationalisten und Rechtsradikalen die Rede gewesen, und schliesslich sei in einer Bildunterschrift behauptet worden, der Aufmarsch der Rechtsextremen sei bisher «einer der grössten in Europa» gewesen.

Der Beschwerdeführer macht geltend, die angeführten Behauptungen der NZZ seien gewaltige Übertreibungen, es werde aus «einer Schneeflocke eine Lawine» gemacht. Die Teilnehmer an der Demonstration seien normale Bürger, Bürgerinnen gewesen, es seien höchstens hundert Personen gewesen, welche man als Neonazis bezeichnen könne und nicht Tausende, wie die NZZ behaupte. Der Beschwerdeführer setzt sich im Weiteren mit Dutzenden von Beispielen sehr ausführlich damit auseinander, wie europäische «Mainstream-Medien» mit ihrer Polen-Berichterstattung «Fake News» verbreiteten und wirft der NZZ in diesem Zusammenhang vor, ihre Quellen nicht sauber geprüft zu haben.

C. Am 15. April 2018 nahm der Auslandchef der NZZ Stellung zur Beschwerde. Er beantragt Nichteintreten, eventualiter Ablehnung der Beschwerde. Für ein Nichteintreten argumentiert er damit, dass die Beschwerde offensichtlich nicht begründet sei, es bestehe der starke Verdacht, dass sie Teil einer organisierten Kampagne gegen die liberalen Medien sei, der Presserat dürfe sich nicht für Derartiges instrumentalisieren lassen.

Für den Fall, dass der Presserat auf die Beschwerde eintreten sollte, macht die Beschwerdegegnerin geltend, die beanstandeten Passagen seien von der NZZ selber als zum Teil unkorrekt erkannt und korrigiert worden. Der Artikel sei ursprünglich am 13. November 2017 gegen 20 Uhr auf dem Internet aufgeschaltet und nach einer Intervention des Autors in Warschau am folgenden Morgen bereits um 8 Uhr 41 korrigiert worden, die gegenteilige Behauptung des Beschwerdeführers («nach mehreren Tagen») sei falsch. Der Lead des Artikels sei von «Zehntausende» auf «Tausende» von Neonazis geändert worden, statt der Bildlegende «60’000 Nationalisten und Rechtsradikale» heisse es seither «60’000 Personen» und die Passage mit dem «grössten Aufmarsch von Rechtsradikalen» sei ganz gestrichen worden. Da die kritisierten Passagen in sehr kurzer Zeit korrigiert worden seien, sei auf sie nicht einzutreten. Einzig die Feststellung im Artikel, «Tausende von Neonazis» seien durch Warschau gelaufen, sei bis heute beibehalten worden. Bei dieser Einschätzung bleibe die Redaktion NZZ auch: Sie stellt dabei auf die Beobachtung und Einschätzung ihres Korrespondenten ab, der von 3000 bis 6000 Rechtsradikalen ausgeht. Foto- und Filmaufnahmen zeigten, dass sich allein schon hinter den Bannern mit rechtsradikalen Slogans weit mehr als die vom Beschwerdeführer behaupteten «höchstens hundert» Rechtsradikalen versammelt hätten. Weiter könne man davon ausgehen, dass, wenn rechtsextreme Organisationen eine Demonstration organisierten, zu der 60’000 Personen erschienen, man mit Fug davon ausgehen könne, dass darunter einige tausend Mitglieder der extremen Rechten seien. Die Belege, welche der Beschwerdeführer für seine gegenteilige These anführe, stützten sich im Übrigen nicht auf unabhängige Quellen, sondern zu einem erheblichen Teil auf solche, die der Regierung naheständen. Abgesehen davon liefere der dem Lead folgende ausführliche Text des Autors Flückiger eine sehr differenzierte Analyse der Vorgänge und Hintergründe um diese Demonstration, ohne irgendwelche zu beanstandende Passagen.

D. Am 29. März 2018 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 1. Juli 2019 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss Art. 11 des Geschäftsreglements ist auf Beschwerden nicht einzutreten, wenn sie offensichtlich unbegründet sind. Die Beschwerdegegnerin NZZ macht in dieser Hinsicht geltend, es bestehe der starke Verdacht, die Beschwerde sei «ein weiteres Beispiel einer organisierten Kampagne gegen liberale Medien», wofür der Presserat sich nicht instrumentalisieren lassen dürfe. Eine blosse Vermutung hinsichtlich der Motivation für eine Beschwerde kann aber deren Inhalt nicht als offensichtlich unbegründet erscheinen lassen. Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2. Richtlinie 1.1 ist eine Präzisierung von Ziffer 1 der «Erklärung» (Wahrheitspflicht). Unter dem Titel «Wahrheitssuche» verlangt diese «die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten». Wenn die «Neue Zürcher Zeitung» einen Artikel auf dem Internetportal publiziert, in dessen Lead davon die Rede ist, in Warschau hätten «Zehntausende Neonazis» demonstriert, und dessen Bildlegenden festhalten, dass sich «60’000 Nationalisten und Rechtsradikale» versammelt hätten und dass «der Aufmarsch der Rechtsextremen (…) einer der bisher grössten Europas» gewesen sei, dann sind das alles Behauptungen, die sich durch «die Beachtung der verfügbaren und zugänglichen Daten» in dieser Form nicht belegen liessen. Alle diese drei Tatsachenbehauptungen wurden dem Artikel des Korrespondenten von der Redaktion in Zürich beigefügt. Die wiederum stützte sich dabei auf eine Agenturmeldung der dpa. Diese sprach allerdings von «Zehntausenden Nationalisten und Rechtsradikalen». Das deckt sich mit keiner der drei Behauptungen genau. Die Beschwerdegegnerin räumt das auch ein, sie hat die Zahl der «Neonazis» im Lead auf «Tausende» reduziert und die übrigen Behauptungen nach gut 12 Stunden geändert («60’000 Personen») respektive ganz weggelassen («einer der grössten Aufmärsche Europas»). Sie macht überdies geltend, der ganze dem Lead folgende Artikel differenziere und analysiere die Verhältnisse sehr genau und enthalte keine Angaben, welche beanstandet werden könnten. Das trifft zu, ändert aber nichts daran, dass im Lead und in den Bildlegenden vermutlich übertriebene, so jedenfalls nicht belegbare Fakten publiziert wurden. Das heisst: Richtlinie 1.1 wurde verletzt. Dass die fehlerhaften Aussagen nach 12 Stunden korrigiert wurden, ändert nichts daran, dass sie zunächst so publiziert worden waren. Die NZZ ist mit der Korrektur lediglich ihrer Berichtigungspflicht nachgekommen (s. u. Erwägung 4).

Was den geänderten Lead betrifft, der online bis heute abrufbar ist, so ist festzuhalten, dass die reduzierte Formulierung «Tausende Neonazis» plausibel erscheint, was die Zahl Rechtsextremer betrifft, und zwar angesichts der im Artikel erwähnten Entwicklungen, angesichts der Einschätzung des Korrespondenten vor Ort, angesichts des von der NZZ angegebenen Bildmaterials und angesichts der Wahrscheinlichkeiten: Wenn zwei rechtsextreme Organisationen zu einer Demonstration aufrufen, zu der 60’000 Menschen erscheinen, ist auch mit einer erheblichen Zahl Rechtsradikaler zu rechnen. Ob es Tausende «Neonazis» im engen Wortsinn waren, oder ob mit dieser Zahl auch andere rassistische oder gewalttätige Gruppierungen unter den Demonstrierenden gemeint waren, kann offenbleiben. Denn der Beschwerdeführer geht davon aus, dass höchstens 100 Angehörige all dieser Kategorien «Rassisten/Extremisten/Faschisten» anwesend gewesen seien, was angesichts all der bekannten Fakten nicht zu überzeugen vermag.

3. Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) verlangt als Teil der journalistischen Sorgfaltspflicht die Überprüfung der Quelle und ihrer Glaubwürdigkeit. Die Redaktion in Zürich, welche dem Artikel die fraglichen Passagen (Lead und Bildlegenden) beigefügt hat, stützte sich, wie bereits gesagt, auf Agenturmaterial. Gemäss ständiger Praxis des Presserates ist die Redaktion nicht verpflichtet, die Meldungen einer anerkannten Agentur inhaltlich nachzurecherchieren. Sie muss sie aber korrekt wiedergeben. Das heisst, Richtlinie 3.1 wurde nicht verletzt, wohl aber, wie erwähnt, Richtlinie 1.1.

4. Richtlinie 5.1 (Berichtigungspflicht) verlangt in Anwendung von Ziffer 5 der «Erklärung», dass Fehler in der Berichterstattung «unverzüglich» und «von sich aus» berichtigt werden. Dies hat die Beschwerdegegnerin getan und zwar in der Tat unverzüglich und von sich aus, noch bevor sie vom Beschwerdeführer darauf aufmerksam gemacht wurde. Dass eine inkriminierte Passage nicht berichtigt wurde, weil sie nicht für falsch eingeschätzt wurde, erfolgte zu Recht.

5. Richtlinie 8.1 (Menschenwürde) verlangt Achtung vor der Menschenwürde. Die Beschwerdeschrift verweist nirgends auf eine Textstelle, welche eine Verletzung der Menschenwürde beinhalten könnte. Im Artikel ist nichts Derartiges festzustellen.

III. Feststellungen

1. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit dem Lead und zwei Bildunterschriften zum Artikel «Kaczynski wird die rechten Geister nicht mehr los» vom 13. November 2017 Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit diesem Artikel hingegen weder gegen Ziffer 3 (Quellenbearbeitung) noch gegen Ziffer 5 (Berichtigung) und auch nicht gegen Ziffer 8 (Menschenwürde) verstossen.