Nr. 8/2009
Wahrheits- und Berichtigungspflicht / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(Verein Netzwerk Asyl Aargau c. Tele M1) Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 13. Februar 2009

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I. Sachverhalt

A. Am 27. Dezember 2007 berichtete der Lokalfernsehsender Tele M1 über eine Demonstration des Vereins Netzwerk Asyl Aargau gegen die Ausweisungspraxis bei abgewiesenen Asylbewerbern im Kanton Aargau. Im Beitrag wurde das Beispiel einer Familie mit vier Kindern aus Birr thematisiert, die sich über einen Brief des kantonalen Sozialdienstes bestürzt zeigte, den sie – wie andere Betroffene – kurz vor Weihnachten erhalten hatte. Darin wurde sie aufgefordert, die Schweiz bis am 31. Dezember 2007 zu verlassen. Dies trotz einem hängigen Härtefallgesuch. In einem Interview rechtfertigte ein Gemeinderat der Gemeinde Birr den Ausweisungsentscheid: «Die Kinder haben Straftaten begangen, machen viele Probleme in der Schule und man weiss auch, dass der Vater schwarz arbeitet und auch Sozialhilfe betrügt.» Diese Aussage kommentierte Tele M1-Redaktorin Michelle Huwiler wie folgt: «Mit diesen Vorwürfen ist das Netzwerk Asyl nicht einverstanden. Das Leumundszeugnis der Eltern sei einwandfrei und die sogenannten Straftaten der Kinder Bagatellen.»

B. Am 4. Januar 2008 stellte der Verein Netzwerk Asyl Aargau eine vom Gemeinderat Birr, dem Verein Netzwerk Asyl Aargau und der betroffenen Familie verfasste gemeinsame Stellungnahme zum Beitrag vom 27. Dezember 2007 dem Fernsehsender Tele M1 zu. Darin entschuldigte sich der betroffene Gemeinderat für den gegenüber dem Familienvater erhobenen Vorwurf der Schwarzarbeit. Ebenso sei der Vorwurf haltlos, die Familie habe die Sozialhilfe der Gemeinde Birr betrogen. Beide Elternteile lebten sei 14 Jahren in der Schweiz, hätten sich immer wieder um Arbeit bemüht und auch Stellenangebote erhalten. Gescheitert sei eine Anstellung, daran, dass ihnen der Kanton ein explizites Arbeitsverbot auferlegte. Bis zu den Sommerferien 2007 hätten die Kinder zu keinerlei Kritik Anlass gegeben. Probleme hätten sich erst ergeben, als die beiden älteren Kinder von der Ausweisung erfuhren.

C. Am 8. Januar 2008 forderte der Verein Netzwerk Asyl Aargau den Fernsehsender nochmals auf, die verlangte Berichtigung innert 3 Tagen auszustrahlen. Zudem stellte er eine Beschwerde an den Presserat in Aussicht.

D. Gleichentags gelangte der Verein an den Presserat. Im Gegensatz zur «Aargauer Zeitung», welche am 5. Januar 2008, umgehend nach Erhalt der gemeinsamen Stellungnahme von Gemeinde, betroffener Familie und dem Netzwerk Asyl, eine Berichtigung veröffentlichte, habe es Tele M1 nicht für notwendig befunden, sein Publikum zu informieren.

E. Am 10. Januar 2009 strahlte Tele M1 die verlangte Berichtigung aus und meldete: «Fakt ist, die Vorwürfe der Schwarzarbeit und des Sozialhilfebetrugs sind haltlos.» Zudem entschuldigte sich der zuständige Gemeinderat von Birr im Beitrag für seine Falschaussage und erklärte, wie es zu dieser gekommen war.

F. Am 17. Januar 2007 wies Tele M1 die Beschwerde des Vereins Netzwerk Asyl Aargau als unbegründet zurück. Bereits im Beitrag vom 27. Dezember 2007 sei den Aussagen des Birrer Gemeinderats die Sichtweise der Beschwerdeführerin gegenüber gestellt worden. Zudem habe der Sender in der Zwischenzeit eine Berichtigung und Entschuldigung ausgestrahlt. Der Vorwurf, Tele M1 habe die Öffentlichkeit nach der Falschaussage des Gemeindarats nicht orientiert, sei deshalb haltlos.

G. Am 18. Januar 2008 fragte der Presserat den Verein Netzwerk Asyl Aargau an, ob dieser noch an seiner Beschwerde festhalte, nachdem Tele M1 in der Zwischenzeit die verlangte Berichtigung ausgestrahlt habe.

H. Am 8. Mai 2008 teilte der Verein Netzwerk Asyl Aargau dem Presserat mit, er halte an seiner Beschwerde fest.

I. Am 14. Mai 2008 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

K. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 13. Februar 2009 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Gemäss Ziffer 5 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» sind Medienschaffende verpflichtet, jede von ihnen veröffentlichte Meldung zu berichtigen, deren materieller Inhalt sich ganz oder teilweise als falsch erweist. Laut der zugehörigen Richtlinie 5.1 ist die Berichtigungspflicht «unverzüglich» von sich aus wahrzunehmen.

b) Nachdem Tele M1 am 10. Januar 2008 eine deutliche Berichtigung sowie eine Entschuldigung des betroffenen Gemeinderats ausgestrahlt hat, ist vorliegend nur noch strittig, ob die Berichtigung unverzüglich genug oder ob sie zu spät erfolgte. Zwar wäre es besser gewesen, wenn Tele M1 die Berichtigung ebenso rasch veröffentlicht hätte wie die «Aargauer Zeitung». Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass die Ausstrahlung des umstrittenen Beitrags während den Festtagen erfolgte und dass auch das Berichtigungsbegehren erst unmittelbar danach, am Freitag, 4. Januar, um vier Uhr Nachmittag, also unmittelbar nach den Festtagen, per E-Mail zugestellt wurde. Nach Auffassung des Presserates wäre es unverhältnismässig, aus der nicht übermässig verzögerten Ausstrahlung der Berichtigung eine Verletzung von Ziffer 5 der «Erklärung» abzuleiten.

2. Der beschwerdeführende Verein beanstandet darüber hinaus sinngemäss, Tele M1 hätte bereits vor der Ausstrahlung des Beitrag vom 27. Dezember 2007 besser recherchieren und den gegenüber der Familie erhobenen schweren Vorwürfen nachgehen müssen. Auch wenn die Unrichtigkeit der Ausführungen des Gemeinderats für die Journalistin nicht erkennbar war, hätte es sich in Anwendung der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» (Anhörung bei schweren Vorwürfen) aufgedrängt, vor der Publikation zumindest eine Stellungnahme der betroffenen Familie einzuholen. Eine Verletzung der Ziffern 1 und 3 der «Erklärung» ist aber trotzdem knapp zu verneinen. Für den Presserat ist dabei entscheidend, dass sich die Zuschauer/innen ein differenziertes Bild machen konnten. Der Beitrag enthielt nicht nur die (sich im Nachhinein als unrichtig herausstellende) Faktendarstellung des interviewten Gemeinderates von Birr, sondern auch den deutlichen Hinweis, dass diese bestritten war. Insoweit kam also auch die «Stimme der Verteidigung» zu Wort. Insgesamt wurde zudem im Beitrag der Kritik an den Ausweisungsentscheiden breiter Raum gegeben.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Tele M1 hat mit der Ausstrahlung des Beitrags über eine Demonstration des Vereins Netzwerk Asyl Aargau vom 27. Dezember 2007 und der zugehörigen Berichtung und Entschuldigung die Ziffern 1 (Wahrheitssuche), 3 (Entstellung von Tatsachen, Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.