Nr. 30/2009
Veröffentlichung von Bild und Namen eines Tatverdächtigen im Rahmen eines polizeilichen Zeugenaufrufs, Stellungnahme des Presserates vom 7. Mai 2009

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Zusammenfassung

Resumé

Riassunto

I. Sachverhalt

A. Vom 6. März 2009 an sucht die Kantonspolizei Schwyz ein 16-jähriges Au-pair-Mädchen per Vermisstmeldung. In den darauffolgenden Tagen berichten zahlreiche Medien über den Fortschritt der Suche. Die Polizei schliesse ein Verbrechen nicht aus. Bruchstückweise dringen weitere Informationen an die Öffentlichkeit: Die Spur des Mädchens verliere sich in Baden (7. März), die Polizei suche fieberhaft einen Mann, der ihm unmittelbar vor dem Verschwinden einen Job als Model versprochen habe (9. März). Am 10. März wird die Befürchtung zur Tatsache: Die Medien berichten, die junge Frau sei einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Ihre Leiche ist im Haus des mutmasslichen Täters gefunden worden. Dessen Name wird von den Medien mit Dani H., Daniel H., D.H. oder mit einem Pseudonym umschrieben.

Tags darauf, am 11. März 2009, verbreiten die Medien nähere Angaben zum brutalen Vorgehen des Täters und veröffentlichen Berichte mit Bildern vom Tatort. Verschiedene Zeitungen und Sender interviewen den Vater des Täters und berichten über weitere Frauen, die der Täter früher mit einem «Model-Trick» angesprochen habe. Interviewt wird auch ein Taxifahrer, der den Täter mehrmals von seinem Wohnort nach Zürich gebracht hat. Breit thematisiert wird zudem, weshalb sich der einschlägig vorbestrafte Täter zum Zeitpunkt der Tat trotz gehäufter Alarmzeichen in Freiheit befand. Gemäss einer Meldung von «persoenlich.com» verbreitet «Blick am Abend» in der PDF-Ausgabe seines E-Papers am Abend des gleichen Tages – wegen eines technischen Versehens? – kurzzeitig ein unzensuriertes Bild des Gesichts des Täters.

B. Am 12. März 2009 orientiert die Aargauer Kantonspolizei an einer vom Schweizer Fernsehen direkt übertragenen Medienkonferenz über den Stand ihrer Ermittlungen. Dabei veröffentlicht die Behörde den vollen Namen und das Foto des mutmasslichen Täters. Dies mit der Begründung, die Kantonspolizei suche weitere junge Frauen, die der Täter angesprochen und allenfalls für Fotoaufnahmen angefragt hat. Wer dem mutmasslichen Mörder des 16-jährigen Au-pair-Mädchens begegnet sei, solle sich telefonisch beim Polizeikommando Aargau melden.

C. Die Schweizer Medien reagieren nicht einheitlich auf diesen Zeugenaufruf der Aargauer Behörden. Der überwiegende Teil nennt nun den Namen und veröffentlicht das Bild, wenn auch unterschiedlich prominent platziert. Teils werden Namen und Bild ausdrücklich im Kontext der polizeilichen Suche nach weiteren Frauen veröffentlicht, welche der mutmassliche Täter mit Hilfe des «Model-Tricks» kontaktiert haben könnte. Einzelne Medien machen das Foto hingegen gross auf («Er tötete Lucie, weil er zurück in den Knast wollte»; «Das ist er, der Mörder von Lucie»).

Andere Medien, beispielsweise «Le Temps», «La Liberté», «Der Bund» und die Sendungen von Schweizer Radio DRS berichten weiterhin vollständig anonymisiert. Dasselbe gilt für die Zeitungen, welche sich auf den Abdruck von Meldungen der Schweizerischen Depeschenagentur beschränken. Unter verschiedenen Westschweizer Chefredaktoren findet am Nachmittag des 12. März 2009 zudem ein telefonischer Gedankenaustausch über die berufsethische Zulässigkeit und Opportunität des Abdrucks von Namen und Bild statt.

D. Einige Medien, die am 12./13. März 2009 und in den darauffolgenden Tagen sowohl Namen und Bild veröffentlichen, kehren nach einigen Tagen wieder zur anonymisierten Berichterstattung zurück, die sie aber zum Teil nicht konsequent durchhalten. Andere Medien, die unmittelbar nach der Pressekonferenz der Aargauer Behörden vom 12. März 2009 nicht tagesaktuell berichten, ziehen demgegenüber nun mit der Veröffentlichung von Namen und Bild nach.

E. Die Publikation von Foto und Namen des mutmasslichen Täters im Fall «Lucie» durch einen Grossteil der Schweizer Medien veranlasst das Presseratspräsidium am 13. März 2009, dem Plenum zu beantragen, den Sachverhalt gestützt auf Art. 6 Abs. 1 des Geschäftsreglements des Presserates von sich aus aufzugreifen.

F. Das Plenum des Presserats stimmt diesem Antrag zu und beauftragt die 1. Kammer, eine Stellungnahme zu diesem Fall auszuarbeiten. Die Kammer setzt sich zusammen aus Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Klaus Lange, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider.

G. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihren Sitzungen vom 2. April und 7. Mai 2009 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» gebietet in Ziffer 7, die Privatsphäre zu respektieren, «sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt». Die Richtlinie 7.6 (Namensnennung) zur «Erklärung» hält fest: Journalistinnen und Journalisten veröffentlichen «grundsätzlich weder Namen noch andere Angaben, die eine Identifikation einer von einem Gerichtsverfahren betroffenen Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden». Die Richtlinie nennt allerdings auch Ausnahmen von dieser Grundregel:

– Ausdrückliche Einwilligung der Betroffenen;

– überwiegendes öffentliches Interesse;

– Nennung eines politischen oder amtlichen Funktionsträgers, soweit das Delikt einen Bezug zu dieser Funktion hat;

– Gefahr von Verwechslungen, falls der Name nicht genannt wird;

– wenn die Person bereits allgemein bekannt ist.

Die letztgenannte Ausnahme von der Regel ist zurückhaltend anzuwenden, da es häufig die Medien sind, welche durch Verletzung dieser Richtlinien für die Bekanntheit gesorgt haben.

2. Der Presserat hat sich in zwei grundlegenden Stellungnahmen (8/1994 und 6/2003) eingehend mit vergleichbaren Fällen auseinandergesetzt, bei denen es ebenfalls die Behörden waren, die den Namen bzw. den Namen und das Bild zur Veröffentlichung freigaben.

In der Stellungnahme 8/1994 führte der Presserat aus: «Es liegt im öffentlichen Interesse, mitzuteilen, dass ein Mord aufgeklärt und der Täter verhaftet wurde. Ungeachtet der Verwerflichkeit und Abscheulichkeit einer Tat haben aber auch ein mutmasslicher Täter und seine indirekt betroffenen Angehörigen ein Recht auf Wahrung ihrer Privatsphäre. Selbst wenn Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall einen Namen zur Publikation freigeben, entbindet dies Medienschaffende nicht von der Pflicht, ihrerseits nach berufsethischen Kriterien zu prüfen, ob eine Namensnennung gerechtfertigt ist.»

Die Stellungnahme 6/2003 setzte sich mit der Frage auseinander, wie Medienschaffende mit einem Zeugenaufruf der Polizei umgehen sollen, die auf diesem Wege versucht, Frauen zu erreichen, die mit dem mutmasslichen Täter Kontakt hatten. Der Presserat erwog damals, zwar sei das öffentliche Interesse an einer umfassenden polizeilichen Abklärung des konkreten Falls sowie an der möglichen Aufklärung weiterer Delikte für die Medien keineswegs irrelevant. «Für sich allein wiegt es aber nicht derart schwer, dass die ihm entgegenstehenden Interessen, der Schutz der Privatsphäre eines Tatverdächtigen und seiner Angehörigen sowie die Unschuldsvermutung, zwingend hätten zurückstehen müssen. Zumal unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit für die weiteren Ermittlungen (…) eine Nennung der Initialen genügt hätte.»

3. Wenn der Presserat nun den aktuellen Sachverhalt aufgreift, obwohl er sich bereits zu zwei vergleichbaren Fällen geäussert hat, geht es ihm nicht darum, einzelnen Medien Zensuren zu verteilen. Die von der gesamten Medienbranche getragene Institution «Presserat» als Instanz der medienethischen Selbstkontrolle erfüllt ihren Zweck aber nur dann, wenn die vom Presserat geforderte un
d geförderte berufsethische Selbstreflexion in der Alltagspraxis der Redaktionen Niederschlag findet. Angesichts der öffentlichen Empörung und des überraschenden, nicht alltäglichen Vorgehens der Aargauer Behörden an der Medienkonferenz ist es für den Presserat ein Stück weit nachvollziehbar, dass zahlreiche Medien den Namen und das Bild spontan veröffentlichten. Medienschaffende sollten aber nicht reflexartig publizieren, was Behörden zur Publikation freigeben. Vielmehr wird von Journalistinnen und Journalisten erwartet, in derartigen Situationen eigenständige berufsethische Überlegungen anzustellen. Dazu würde aus Sicht des Presserates im konkreten Fall gehören, das Handeln der Behörde in Bezug auf die Freigabe von Namen und Bild kritisch zu hinterfragen und bei den Verantwortlichen nachzuhaken. Auch wirtschaftlich schwierige Zeiten, strukturelle Veränderungen in der Medienlandschaft und der im Online-Zeitalter noch grösser gewordene zeitliche Druck dürfen nicht dazu führen, dass berufsethische Überlegungen hintanstehen.

4. Von den in der Richtlinie 7.6 zur «Erklärung» genannten Ausnahmen, bei denen eine identifizierende Berichterstattung ausnahmsweise zulässig ist, sind bei der Berichterstattung im Mordfall «Lucie» einerseits die Generalklausel «überwiegendes öffentliches Interesse», anderseits die allgemeine Bekanntheit der betroffenen Person näher zu prüfen.

a) Wie bereits in der Stellungnahme 6/2003 ausgeführt, liegt die mögliche Aufklärung weiterer Delikte und die möglichst genaue Ermittlung der Tatumstände durch die Strafverfolgungsbehörden im öffentlichen Interesse. Dieses wiegt aber nur dann schwerer als das Interesse am Schutz der Privatsphäre des Täters und insbesondere auch seiner Angehörigen, wenn unmittelbare Gefahr in Verzug ist. So beispielsweise, wenn weitere Verbrechen drohen, wenn der Tatverdächtige auf der Flucht ist oder wenn er die Tat bestreitet. Derartige Zeugen- und Fahndungsaufrufe werden von den Medien in der Regel diskussionslos veröffentlicht. Gerechtfertigt war ausgehend von diesen Kriterien die Veröffentlichung der Vermisstmeldung der Schwyzer Polizei. Beim Zeugenaufruf der Aargauer Behörden vom 12. März dagegen hatten sich bereits vor der Medienkonferenz – also auch ohne Veröffentlichung von Namen und Bild – gegen 30 Frauen gemeldet, die geltend machten, vom mutmasslichen Mörder mit dem «Model-Trick» angesprochen worden zu sein. Entsprechend war es aus Sicht des Presserats – jedenfalls auf der Basis der bekannt gewordenen Fakten – bei einer Abwägung der Interessen nicht verhältnismässig, den Zeugenaufruf mitsamt Bild und vollem Namen zu veröffentlichen.

b) War die Anonymisierung des Täters und der Verzicht auf die Veröffentlichung des Bildes nicht mehr nötig, nachdem die Medienkonferenz der Aargauer Behörden bereits vom Schweizer Fernsehen übertragen worden war? Der Presserat hat sich auch mit dieser Frage bereits einmal auseinandergesetzt. In der Stellungnahme 7/1999 ging es um die Medienberichterstattung über eine besonders in der Westschweiz stark beachtete Entführungsaffäre. Damals gelangte der Presserat zum Schluss, die Umstände der Identifikation eines mutmasslichen Täters durch die Behörden – beispielsweise bei einer Identifikation anlässlich einer vom Fernsehen direkt übertragenen Pressekonferenz – könne jegliche berufsethische Zurückhaltung der Medien als nutzlos erscheinen lassen.

Allerdings lassen sich die beiden Fälle in Bezug auf die Bekanntheit der betroffenen Personen nicht direkt vergleichen. Bei der damaligen Entführungsaffäre war der Vater eines der Entführer ein bekannter Politiker, weshalb der Name des Betroffenen in der Westschweiz sofort allgemein bekannt war, sobald er an die Öffentlichkeit gedrungen war. Im Falle des mutmasslichen Mörders von Lucie liegt die Sache anders. Zwar war die mediale Aufmerksamkeit auch hier aussergewöhnlich gross. Der Betroffene war aber auch nach der Direktübertragung der Medienkonferenz durch das Schweizer Fernsehen nicht derart allgemein bekannt, dass danach eine anonymisierende Berichterstattung zwecklos geworden wäre. Darauf deutet auch der Umstand hin, dass die meisten Medien, die sich am 12./13. März 2009 für die Veröffentlichung von Namen und Bild entschieden, spätestens nach einigen Tagen wieder zu einer anonymisierenden Berichterstattung zurückkehrten. Generell würde es zudem den Verantwortlichen von Radio- und Fernsehveranstaltern sowie Onlinediensten, welche Medienkonferenzen und vergleichbare Veranstaltungen ungeschnitten übertragen, gut anstehen, sich aufgrund derartiger Erfahrungen darüber Gedanken zu machen, welche geeigneten technischen oder redaktionellen Vorsichtsmassnahmen sie treffen sollten, um in derartigen Situationen angemessen reagieren zu können.

5. Selbst wenn ein Medium nach einer sorgfältigen Interessenabwägung im Einzelfall zum Schluss kommt, eine Veröffentlichung eines Zeugenaufrufs mit Namensnennung und Foto sei berufsethisch vertretbar, ist darauf zu achten, dass die Art und Weise der Berichterstattung verhältnismässig bleibt (vgl. dazu jüngst die Stellungnahme 19/2009). Bei einer Veröffentlichung von Namen und Bild des geständigen Tatverdächtigen im Mordfall «Lucie» war unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit wenn überhaupt höchstens eine zurückhaltende, einen unmittelbarem Zusammenhang zum Zeugenaufruf herstellende Darstellung vertretbar. Berufsethisch nicht tolerierbar ist es hingegen, die Freigabe von Namen und Foto durch die Behörden als Steilvorlage zu missbrauchen, um den mutmasslichen Mörder (und seine Angehörigen) an den Medienpranger zu stellen.

III. Feststellungen

1. Redaktionen sollten nicht reflexartig publizieren, wenn Behörden den Namen und das Bild eines Tatverdächtigen freigeben, sondern vor einer Publikation eigenständige berufsethische Überlegungen anstellen. Auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten mit strukturellen Veränderungen der Medienlandschaft und trotz des im Online-Zeitalter noch grösser gewordenen zeitlichen Drucks auf den Redaktionen bleibt eine sorgfältige medienethische Interessenabwägung unabdingbar.

2. Die Veröffentlichung einer Fahndungsmeldung oder eines Zeugenaufrufs durch die Medien ist gerechtfertigt, wenn unmittelbare Gefahr in Verzug ist. Dies gilt beispielsweise, wenn weitere Verbrechen drohen und/oder der Tatverdächtige auf der Flucht ist sowie wenn er die Tat bestreitet. Unverhältnismässig ist die Veröffentlichung von Namen und Bild hingegen, wenn wie im Mordfall «Lucie» der mutmassliche Täter bereits gefasst und geständig ist sowie wenn sich bereits vor der Veröffentlichung eines Zeugenaufrufs eine grosse Zahl möglicher Zeuginnen bei den Behörden gemeldet hat.

3. Zwar können die Umstände der Identifikation eines mutmasslichen Täters durch die Behörden – beispielsweise bei einer Identifikation anlässlich einer vom Fernsehen direkt übertragenen Pressekonferenz – die Bemühungen der Medien um berufsethische Zurückhaltung beeinträchtigen. Die einmalige Veröffentlichung von Namen und Bild eines Tatverdächtigen macht diesen aber nicht in jedem Fall derart allgemein bekannt, dass danach eine anonymisierende Berichterstattung sinn- und zwecklos wird.

4. Radio- und Fernsehveranstalter sowie Onlinedienste, welche Medienkonferenzen und vergleichbare Veranstaltungen ungeschnitten übertragen, sollten geeignete Vorkehrungen treffen, damit sie angemessen reagieren können, falls eine ungefilterte Weiterverbreitung von Bild und Ton der Veranstaltung berufsethische Normen verletzt.

5. Selbst wenn eine Redaktion aufgrund einer sorgfältigen Interessenabwägung im Einzelfall zum Schluss kommt, dass die Veröffentlichung von Namen und Bild eines Tatverdächtigen berufsethisch zulässig ist, muss sie darauf Acht geben, dass die Art und Weise der Berichterstattung verhältnismässig bleibt. Journalistinnen und Journalisten dürfen die Freigabe von Namen und Foto eines Tatverdächtigen durch die Behörden im Rahmen eines Zeugenaufrufs nicht dazu missbrauchen, e
inen mutmasslichen Mörder (und seine Angehörigen) an den Medienpranger zu stellen.

Zusammenfassung

Resumé

Riassunto