Nr. 1/1992
Stellungnahme des Presseratspräsidenten vom 11. Juni 1992 zur Beschwerde gegen die Schlagzeilen und Kommentare von René Hildbrand im Blick; vom 10. März 1992

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Stellungnahme

Selektion von Informationen

1. Zwar kann durch eine einseitige Selektion von Informationen durch Medien ein Zerrbild entstehen, und auch wenn die einzelnen Meldungen den Tatsachen entsprechen und somit wahr sind, kann letzlich die Wirkung einer Desinformation erzielt werden, die der Unwahrheit gleichkommt. Aber eine etwas einseitige Selektion ist nicht a priori ein Verstoss gegen die Regeln der journalistischen Ethik.

2. Unter ethischen Gesichtspunkten kann einer Zeitung nicht verboten werden, die Auswahlprinzipien der „Tagesschau” zu kritisieren.

Prise de position

Sélection d’information

1. Une sélection unilatérale d’information par les médias peut déformer la réalité, les divers éléments retenus correspondent aux faits et sont donc exacts. Il peut en résulter un effet de désinformation équivalent au non respect de la vérité, mais une sélection quelque peu partiale ne constitue pas à priori une infraction aux règles de l’éthique journalistique.

2. Du point de vue de l’éthique professionnelle, on ne peut interdire à une publication de critiquer les critères de choix du „Téléjournal”.

Presa di posizione

Informazione selezionata

1. Una selezione unilaterale può ridurre a caricatura, anche se i dati pubblicati sono corretti: l’effetto è quello della disinformazione, che equivale all negazione della verità. Non è possibile tuttavia dedurne a priori che qualunque selezione unilaterale contraddice l’etica.

2. Dal profilo dell’etica professionale non può essere vietato a un giornale di criticare i critieri di selezione del „Telegiornale”.

I. Sachverhalt

A. Mit Schreiben vom 26. März 1992 machte U. A. den Presserat „auf ein konkretes Stück Journalismus” aufmerksam, dass mit fairer Berichterstattung überhaupt nichts mehr zu tun habe. Es handle sich um die Schlagzeilen und Kommentare von Herrn R. Hildbrand im „Blick” vom 10. März 1992. Darin kritisierte R. Hildbrand die Tagesschau des Deutschschweizer Fernsehens vom 8. März bezüglich ihrer Nachrichtenauswahl, insbesondere dafür, dass die Berichterstattung über den internationalen Tag der Frau wesentlich mehr Platz einnahm, als überraschende Ereignisse wie die GSoA-Initiative gegen den F/A-18 oder die Fährenkatastrophe in Thailand. Für seinen beleidigenden Rundschlag gegen die „Tagesschau” und engagierte Frauen, der nicht auf Tatsachen beruhe sondern auf seinen subjektiven Werten (die allerdings in der Tatsachensprache vorgetragen würden) berufe Herr Hildbrand sich ausgerechnet auf Medienprofessionalität. Nach Auffassung von U. A. sprengt allein schon der zweite Satz des Kommentars auf der Titelseite „Die „Tagesschau” lag am Sonntag um 19.30 Uhr mit ihrer Themengewichtung wieder einmal daneben und nervte rund 887’000 vor dem Bildschirm” alle Grenzen des Zumutbaren. Mit Bezug auf den Ehrenkodex der Schweizer Journalisten verstosse R. Hildbrand gegen Art. 1 (sich an die Wahrheit halten) und Art. 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen unterlassen). Er verletze seines Erachtens auch jede Sorgfaltspflicht bezüglich der Trennung von Tatsachen und Meinungen und bezüglich des minimalen Eingehens auf Handlungsbegründungen (in diesem Falle der Frauentags-Veranstalter/innen), was der Unterschlagung wichtiger Elemente von Informationen nahekomme, also einer Verletzung von Art. 4 des Ehrenkodexes, meint U. A.

II. Erwägungen

1. Die Einschätzung der Bedeutung des internationalen Frauentages (8. März) differiert je nach Land und je nach politischem Lager. In den osteuropäischen Volksrepubliken hatte dieser Tag grosses Gewicht; ebenso in Italien, vor allem in den roten Regionen (z.B. Emilia-Romagna, Toscana, Umbria). In der Schweiz gab vor allem die neue Frauenbewegung dem Tag auftrieb, aber insgesamt hat er nie die gleiche Bedeutung erlangt, wie etwa der 1. Mai. Es ist deshalb stark von der individuellen politischen Position abhängig, wie sympatisch man den Frauentag findet. Aber man kann es Andersdenkenden nicht verargen, wenn sie die Frauendemonstrationen nicht für das bedeutende Tagesereignis des jeweiligen 8. Mai halten.

2. Journalistinnen und Journalisten sind Tag für Tag mit der Problematik der Selektion konfrontiert. Selegiert werden soll, was relevant ist. Aber was ist relevant? Auch diese Frage wird von den Massenmedien je nach Standort und Umfeld verschieden beantwortet. Für eine Zeitung in Marokko sind andere Themen relevant als für eine Zeitung in Norwegen. Eine Gewerkschaftszeitung gewichtet anders als eine Arbeitgeberzeitung. Ein quality paper wie die NZZ oder der „Corriere della sera” hat einen anderen Relevanzbegriff als ein popular paper wie „The Sun” oder „Blick”. Mit dieser unterschiedlichen Selektion müssen wir leben. Natürlich kann durch eine einseitige Selektion ein Zerrbild entstehen, und auch wenn die einzelnen Meldungen den Tatsachen entsprechen und somit wahr sind, kann letztlich die Wirkung einer Desinformation erzielt werden, die der Unwahrheit gleichkommt. Aber eine etwas einseitige Selektion ist nicht a priori ein Verstoss gegen die Regeln der journalistischen Ethik.

3. Der Relevanzbegriff des „Blick” ist Tag für Tag nicht gängig, weil er sich an den Unterhaltungsbedürfnissen des Publikums orientiert und nicht am nach allgemeiner Uebereinkunft politisch, wirtschaftlich und kulturell Wichtigen. Da aber die Tagesschau des Schweizer Fernsehens eine hohe Einschaltquote hat, ist alles, was mit der Tageschau zusammenhängt, von einer gewissen Relevanz, und insofern ist es nachvollziehbar, dass eine Tagesschau-Sendung zum Frontseitenthema des „Blick” wird.

4. Umgekehrt hat sich die Tagesschau-Redaktion am 8. März 1992 in ihrer Nachrichtenhierarchie mehr an den geplanten Anlässen (Frauentag) als an den überraschenden Ereignissen (Fährenkatastrophe, GSOA-Initiative gegen den F/A-18) orientiert. Das lässt sich rechtfertigen, das ist aber auch kritisierbar. Es gibt kein „Gesetz”, dass die Tagesschau am 8. März 1992 so aufgebaut sein musste, wie sie war.

5. Ist es nun ethisch unzulässig, wenn eine Zeitung, die ihre Nachrichten sehr eigenwillig selegiert, der Tagesschau vorwirft, sie habe einseitig selegiert? Ein bisschen komisch ist es schon. Aber unter ethischen Gesichtspunkten kann dem „Blick” nicht verboten werden, die Auswahlprinzipien der Tagesschau zu kritisieren. Seine Redaktion kann sich auf den Standpunkt stellen, die einzige schweizerische Fernsehanstalt müsse anderen Kriterien der Nachrichtenauswahl genügen als die Zeitungen, bei denen es Alternativen gebe. Und sie kann sich allenfalls auf Stimmen aus dem Publikum berufen, die Kritik an dieser Tagesschau-Sendung geübt haben.

6. Wie verhält es sich aber mit den Texten von René Hildbrand? Verstossen sie gegen die „Erklärung der Pflichten und Rechte des Journalisten”? Es hält schwer, einen klaren Verstoss nachzuweisen. Zwar sind Tatsachen und Meinungen nicht strikte getrennt; der eine Text auf Seite 2 der „Blick”-Ausgabe vom 10. März 1992 ist eine Sendekritik, die wie jede Kritik kommentierende Elemente enthält, der andere ist ein Kommentar dazu. Aber die berufsethischen Regeln, auch diejenigen der Internationalen Journalistenföderation (IJF), schreiben die Trennung von Nachricht und Meinung nicht vor. Würden sie es, müsste beispielsweise die NZZ immer wieder belangt werden; wären die meisten Texte der „Weltwoche” unzulässig; sässen „Volksrecht” und „WOZ” dauernd auf der Anklagebank, wären fast alle Reportagen und Features im „Tages-Anzeiger”, im „Nouveau Quotidien”, am Radio, selbst am Fernsehen ein Sündenfall. Auch die anderen Punkte, die U. A. anführt – Art. 1 (Verpflichtung auf die Wahrheit), Art. 4 (Verbot unlauterer Methoden bei der Beschaffung von Informationen) und Art. 7 (Unterlassung von sachlich nicht gerechtfertigte
n Anschuldigungen) – sind nicht verletzt. Herr Hildbrand lügt nicht, er vertritt bloss eine andere Position als U. A. Einzig der Satz, wonach die Tagesschau rund 887’000 vor dem Bildschirm genervt habe, kann nicht der Wahrheit entsprechen. Die Zahl 887’000 entspricht vermutlich der Einschaltquote an diesem Abend. Herr Hildbrand kann nicht wissen, ob alle, die zusahen, sich genervt haben. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit haben sich nicht alle genervt, es ist sogar anzunehmen, dass die grosse Mehrheit die Tagesschau relativ passiv über sich ergehen liess und durch die Frauentagberichterstattung weder positiv noch negativ emotional aufgewühlt wurde. In diesem Punkt führt Herr Hildbrand die Leserinnen und Leser in die Irre, und das ist zu rügen. Er hat sich aber die Informationen nicht mit unlauteren Methoden beschaffft, sondern sich die Tagesschau angesehen, die Nachrichtenlage überprüft, die Einschaltquote erfragt und mit dem verantwortlichen Redaktor gesprochen. Und seine Anschuldigungen sind nicht sachlich ungerechtfertigt, denn er wirft ja der Tagesschau-Redaktion nichts Ungeheuerliches vor, wie etwa: Sie habe Material gestohlen, Leute bestochen usw., sondern kritisiert einfach ihr Selektionskriterien. U.A. und ich sind inhaltlich anderer Meinung als Herr Hildbrand, aber das genügt nicht, um ihn des Verstosses gegen ethische Berufsregeln anzuklagen.

Aus all dem folgt, dass die Vorhaltungen von U.A. nicht ausreichen, um ein formelles Verfahren vor dem Presserat zu eröffnen.