I. Sachverhalt
A. Am 20. März 2008 berichtete Thomas Stöckli im «Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern» über die Hauptverhandlung eines Strafprozesses vor dem Bezirksgericht Affoltern. Der Bericht mit dem Titel «Wenn das rauskommt, dann komme ich ins Gefängnis» fasst die wichtigsten Punkte der Gerichtsverhandlung zusammen, bei der es um sexuelle Handlungen mit einem zum Tatzeitpunkt fünfjährigen Mädchen ging. Über den 58-jährigen Angeklagten war zu lesen, er habe die Kindheit im Säuliamt verbracht. «In den frühen 90er-Jahren lernte er die Mutter der Geschädigten kennen und gründete mit ihr eine Praxisgemeinschaft. (…) Knapp zehn Jahre später brach der Kontakt ab, bis im Herbst 2006. Jede Woche meldete sich der Mann bei der gesundheitlich angeschlagenen Mutter der Geschädigten – er habe helfen wollen. So entstand ein persönlicher Kontakt zur Familie. Im Juni 2007 wollte das Mädchen die Praxis des Angeklagten anschauen.» Daraufhin sei es unter zweien Malen zu den sexuellen Übergriffen gekommen. Der Mann sei weitgehend geständig und habe von sich aus einen Psychiater aufgesucht.
B. Am 20. Juni 2008 gelangten die anwaltlich vertretene X., das Opfer der oben umschriebenen sexuellen Übergriffe, gemeinsam mit ihrer Mutter an den Presserat. Einzelne Fakten, die der Bericht vom 20. März 2008 enthielt, hätten die Identifizierung der Opfer möglich gemacht. «Insbesondere die Hinweise, dass der ‹Täter mit der Mutter der Geschädigten eine Praxisgemeinschaft bildete, dann das Alter des Täters und die Tatsache, dass die Mutter der Geschädigten gesundheitlich angeschlagen ist› führten zur Identifizierung der Geschädigten durch Dritte. Dies habe schlimme Folgen gehabt. So habe der Vater des Kindes, welcher seit 2007 zu diesem keinen Kontakt mehr habe, durch den Artikel erkannt, um wen es sich handelt. In der Folge habe dieser verschiedene Behörden eingeschaltet und der Kindsmutter, die bereits alles Notwendige zum Schutz und Wohle des Kindes veranlasst hatte, erhebliche Umtriebe verursacht. Die Kindesmutter sei zudem von früheren Arbeitskollegen und von Drittpersonen im Dorf auf den Bericht angesprochen worden. Insgesamt hätten die Publikation und die darauf folgende Identifikation zu einer Retraumatisierung der Beschwerdeführerinnen geführt, welche eine erneute Behandlung notwendig machte. Mit dem beanstandeten Bericht habe der «Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern» die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» und die zugehörigen Richtlinien 7.4 (Kinder) und 7.8 (Sexualdelikte) verletzt.
C. Am 15. und 21. Juli 2008 beantragte Werner Schneiter, Chefredaktor, namens der Redaktion des «Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern», die Beschwerde sei abzuweisen. Bei der beanstandeten Berichterstattung sei die Redaktion von einer genügenden Anonymisierung ausgegangen. «Es wurde weder Beruf, Namen noch Ortschaft genannt. Affoltern am Albis zählt heute mehr als 10’000 Einwohner; die Region ist urbaner geworden. Und es gibt heute Dutzende von Praxen und Praxisgemeinschaften.» Die Art der Praxisgemeinschaft werde im Bericht nicht näher umschrieben und lasse damit viele Möglichkeiten und Varianten offen. «Aus diesen Gründen überrascht es uns, dass für Dritte, die den Fall nicht kennen, eine Identifizierung möglich gewesen ist. Dass der Vater reagiert hat, war wohl nicht zu vermeiden.» Der «Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern» habe das heikle Thema mit gebotener Sorgfalt und Zurückhaltung behandelt und bewusst auf die Wiedergabe der Details der einzelnen Handlungen verzichtet. Es sei bedauerlich, dass, «den Geschädigten nach dem Prozess durch die Berichterstattung Nachteile erwachsen sind. Wir sind auch gerne bereit, uns bei ihnen zu entschuldigen und werden bei der künftigen Berichterstattung über Sexualdelikte auch auf Altersangaben verzichten.»
D. Am 4. Juli 2008 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.
E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 20. März 2009 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Ziffer 7 der «Erklärung» auferlegt den Journalistinnen und Journalisten die Pflicht, die Privatsphäre des einzelnen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil gebietet. Gestützt auf diese Bestimmung hat der Presserat in ständiger Praxis festgehalten, dass – vorbehältlich von eng begrenzten Ausnahmen nicht nur eine namentliche, sondern generell eine identifizierende Berichterstattung zu unterlassen ist. Die Richtlinie 7.6 (Namensnennung) zur «Erklärung» hält entsprechend fest, dass «Journalistinnen und Journalisten grundsätzlich weder Namen nennen, noch andere Angaben machen, die eine Identifikation einer von einem Gerichtsverfahren betroffenen Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden». Die Richtlinie 7.6 nennt zudem auch die Voraussetzungen, die eine identifizierende Berichterstattung ausnahmsweise rechtfertigen. Die Richtlinie 7.4 fordert die Medienschaffenden zu besonderer Zurückhaltung auf, wenn es darin um Kinder geht, die Opfer von Gewaltverbrechen geworden sind. Ebenso tut dies die Richtlinie 7.8 generell in Bezug auf den Opferschutz bei Sexualdelikten.
2. Waren die Beschwerdeführerinnen und der Angeschuldigte aufgrund der beanstandeten Berichterstattung über das engste familiäre Umfeld hinaus identifizierbar? Der Presserat kann dies nicht abschliessend beurteilen. Immerhin machen die Beschwerdeführerinnen aber geltend, nicht nur der Vater des Opfers, sondern auch Dritte aus dem beruflichen Umfeld der Mutter sowie aus dem schulischen Umfeld der Tochter hätten die Beschwerdeführerinnen auf die Berichterstattung angesprochen. Ebenso fallen die von den Beschwerdeführerinnen geltend gemachten Folgen der Berichterstattung (Retraumatisierung, erneute Behandlungsbedürftigkeit) schwer ins Gewicht. Der Presserat hat in zwei erst kürzlich verabschiedeten Entscheiden (3 und 11/2009) betont, dass gerade bei der Berichterstattung über Sexualdelikte, durch die nicht bloss die Privatsphäre, sondern auch die Intimsphäre der Beteiligten betroffen ist, der Kreis des eingeweihten sozialen Umfelds, bei dem eine anonymisierende Berichterstattung kaum möglich erscheint, besonders eng zu ziehen ist.
Trotzdem ist der Redaktion des «Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern» im Zusammenhang mit dem beanstandeten Bericht nach Auffassung des Presserates berufsethisch kein Vorwurf zu machen. Immerhin nennt der Bericht weder Namen noch Initialen des Angeschuldigten und enthält nur minimale Angaben über Täter und Opfer (Alter, berufliche Selbstständigkeit, Verhältnis von Täter und Opfer), die der Leserschaft wenigstens annäherungsweise eine Einordnung der Fakten erlauben. Insbesondere die von den Beschwerdeführerinnen kritisierte Angabe, wonach der Täter und die Mutter des Opfers vor mehr als 10 Jahren eine gemeinsame Praxis eröffnet hätten, lässt in einem Ort mit mehr als 10’000 Einwohnern in der Regel kaum nähere Schlüsse zu. Selbst wenn sich ein Gerichtsbericht auf ein Minimum von Angaben über die beteiligten Personen beschränkt, ist es aber bei einem Lokalmedium kaum je vollständig vermeidbar, dass die Betroffenen von näheren Verwandten und Bekannten identifiziert werden (vgl. bereits die Stellungnahme 7/1997). Wollte man das Risiko einer Identifikation auch hier vollständig ausschliessen, müsste wohl gänzlich auf die Berichterstattung verzichtet werden. Da der «Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern» aber insgesamt in angemessener, zurückhaltender Weise über den Strafprozess berichtet hat, ist ihm auch in Berücksichtigung des Prinzips der Verhältnismässigkeit keine Ve
rletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» vorzuwerfen.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Der «Anzeiger aus dem Bezirk Affoltern» hat mit der Veröffentlichung des Artikels «Wenn das rauskommt, dann komme ich ins Gefängnis» in der Ausgabe vom 20. März 2008 die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (identifizierende Berichterstattung, Kinder, Opferschutz) nicht verletzt.