Nr. 55/2024
Wahrheit / Quellen

(X. c. «Tages-Anzeiger»)

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I. Sachverhalt

A. Am 1. März 2024 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» online einen Text mit dem Titel «‹Wir wissen nicht genau, was geschehen ist› – Widersprüche nach tödlichem Ansturm auf Hilfskonvoi». Der Text erschien mit dem Kürzel AFP/aeg und handelt davon, dass am Tag zuvor in der Stadt Gaza mehrere Menschen in der Umgebung einer Hilfslieferung getötet worden sind. Es sei zu einem Gedränge gekommen, als Tausende Menschen sich um einen Hilfskonvoi versammelt hätten. Es habe Dutzende Tote und Verletzte gegeben. Ein Vertreter der israelischen Armee habe angegeben, SoldatInnen hätten eine begrenzte Zahl von Warnschüssen abgegeben, nicht aber auf Menschen gezielt. Hamas hingegen habe von einem «Massaker» gesprochen, bei dem 112 Menschen getötet und weitere 760 verletzt worden seien. Laut der Nachrichtenagentur AP habe ein Zivilist berichtet, er sei von einem Soldaten angeschossen worden, ein weiterer habe berichtet, ein israelischer Panzer habe eine Granate abgefeuert. Der Text bettet den Vorfall geopolitisch ein: Der französische Präsident Macron habe die Schüsse verurteilt, der EU-Aussenbeauftragte zeige sich entsetzt und der Uno-Generalsekretär habe die Akte der Gewalt ebenfalls verurteilt. Dessen Sprecher habe gesagt, man wisse nicht genau, was geschehen sei, aber es handle sich so oder so um Akte der Gewalt in Verbindung mit dem Konflikt.

B. Am 2. März 2024 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel ein. Er macht einen Verstoss gegen die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagung wichtiger Informationen) sowie gegen die zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») gehörende Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) geltend. Wenn Israel (unter dem Zwischentitel «Israel: Haben nicht auf Menschen geschossen») behaupte, man habe lediglich Warnschüsse abgegeben, so entspreche dies nicht der Wahrheit. X. ist der Ansicht, andere Medien hätten bereits vor Erscheinen des Artikels auf «Tages-Anzeiger» (online um 9.30 Uhr) darüber berichtet, Vertreter Israels hätten zugegeben, tödliche Schüsse auf ZivilistInnen abgegeben zu haben. Als Beispiele zitiert X. einen Bericht von «NBC News», der am Tag zuvor um 13.06 Uhr veröffentlicht worden war. Danach habe eine «Quelle in der israelischen Regierung» erklärt, mehrere Personen hätten sich in drohender Weise den Truppen genähert, worauf diese mit «live fire» geantwortet hätten, mit «Scharfschüssen». Der Vorfall würde untersucht. Ein Bericht im «Guardian», der am 1. März um 7.14 Uhr publiziert worden war, zitiere den Mediensprecher der israelischen Armee, der gesagt habe, zuerst habe die Armee Warnschüsse und dann «in Notwehr auch tödliche Kugeln» abgegeben. In einem in der Nacht auf den 1. März 2024 erschienenen Artikel in der «New York Times» stehe, dass ein Militärsprecher ausgeführt habe, SoldatInnen hätten das Feuer eröffnet, als sie vom Mob gefährlich bedrängt worden seien. Zuvor habe auch die «Washington Post» geschrieben, dass ein Mediensprecher zugegeben habe, dass das israelische Militär auf Menschen gefeuert habe. Diese Berichte, die allesamt vor dem monierten Beitrag auf «Tages-Anzeiger» online erschienen sind, würden belegen, dass sowohl die Pflicht zur Wahrheit (Ziffer 1 der «Erklärung») als auch die Suche nach der Wahrheit (Richtlinie 1.1) verletzt seien. Zudem seien offensichtlich wichtige Elemente von Informationen unterschlagen bzw. Tatsachen entstellt worden (Ziffer 3 der «Erklärung»).

C. Am 3. Oktober 2024 nahm der Rechtsdienst der TX Group im Namen der Redaktion «Tages-Anzeiger» Stellung zur Beschwerde und beantragte deren Abweisung. Es sei ersichtlich, dass der monierte Artikel auf Agentur-Material basiere, und zwar auf einer Meldung der AFP (Agence France-Presse). Es habe keine Gründe gegeben, diese Meldung in Frage zu stellen und erneut zu verifizieren. Aber selbst wenn dies nicht der Fall wäre, so würden die vom Beschwerdeführer eingereichten Belege kein gegenteiliges Bild abgeben. Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Belege seien nicht so eindeutig, wie dieser glaubhaft machen wolle: Sie zitierten ungenannte Regierungsquellen, oder es sei die Rede von zwei unterschiedlichen, zeitlich nacheinander erfolgten, aber örtlich nahe beieinander liegenden Vorfällen. Im «Guardian» fehle die Zeitangabe der Stellungnahme des Militärsprechers Peter Lerner, so dass es sich um eine später zurückgezogene Stellungnahme handeln könne. Dies sei umso wahrscheinlicher, als «The Guardian» selber am Folgetag auf die Widersprüche hingewiesen und mitgeteilt habe, die Stellungnahme von Daniel Hagari, auf welche sich auch der «Tages-Anzeiger» stützte, sei korrekt. («‹Contrary to accusations, we did not fire toward individuals seeking aid and we did not fire toward the humanitarian convoy from the ground nor from the air.› Earlier, another Israeli military spokesperson appeared to give a different account of which forces had opened fire. Lt Col Peter Lerner said troops guarding a checkpoint into north Gaza were responsible.»)

D. Am 11. Dezember 2024 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 seines Geschäftsreglements vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 19. Dezember 2024 verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von JournalistInnen, dass sie sich an die Wahrheit halten, ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen. Sie lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren. Ziffer 3 der «Erklärung» beinhaltet u. a. die Pflicht, keine wichtigen Elemente von Informationen zu unterschlagen. Richtlinie 1.1 zur «Erklärung» gibt an, dass die Wahrheitssuche den Ausgangspunkt der Informationstätigkeit darstellt. Sie setzt die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten voraus.

Ausgangspunkt des Artikels ist eine Agenturmeldung der AFP. Gemäss Praxis des Schweizer Presserats dürfen sich Medien auf Agenturmeldungen verlassen, ohne dass es eine Pflicht zur Nachrecherche gibt. So hat er in einem Leitentscheid aus dem Jahr 1992 (Stellungnahme 3/1992) entschieden: «Einem Journalisten kann nicht vorgeworfen werden, einen Agenturbericht nicht kritisch überprüft zu haben, da gemäss neuerer Gerichtspraxis ein Journalist seine Sorgfaltspflicht nicht verletzt, wenn er Agenturberichte nicht auf ihre sachliche Richtigkeit hin überprüft.» In späteren Entscheiden (beispielsweise Stellungnahme 60/2018) hat der Presserat diese Praxis bestätigt: «Laut Praxis des Presserats dürfen sich Journalisten bei Meldungen anerkannter Nachrichtenagenturen auf die Richtigkeit des Inhalts verlassen. Sie müssen die Meldungen daher nur ausnahmsweise mit eigenen Recherchen überprüfen. Die Quelle ist zu nennen.» Diese Forderung hat der «Tages-Anzeiger» erfüllt.

Der Beschwerdeführer liefert keine Belege, dass die AFP-Meldung korrigiert wurde, sondern lediglich anderslautende Artikel aus ausländischen Medien. Es ist nicht Aufgabe des Presserates, selbstständige Recherchen zu einem bestimmten Sachverhalt anzustellen. Insofern muss offenbleiben, wie sich die Ereignisse rund um die Hilfslieferung in Gaza-Stadt abgespielt haben, die letztlich zu so vielen Toten und Verletzten geführt haben. Im Ergebnis war der «Tages-Anzeiger»jedoch nicht verpflichtet, die Agenturmeldung nachzurecherchieren. Der Abschnitt, in welchem der israelische Armeesprecher zitiert wird, man habe nur Warnschüsse abgegeben, stellt demnach weder eine Verletzung der Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Quellen) der «Erklärung» noch eine solche von Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) zur «Erklärung» dar.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Der «Tages-Anzeiger» hat mit dem Beitrag «‹Wir wissen nicht genau, was geschehen ist› – Widersprüche nach tödlichem Ansturm auf Hilfskonvoi» vom 1. März 2024 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Quellen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.