Nr. 53/2020
Wahrheit / Beschwerdebegründung

(MÜSİAD Switzerland c. «SonntagsBlick»)

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I. Sachverhalt

A. Am 22. Dezember 2019 erschien im «SonntagsBlick» ein Artikel von Fabian Eberhard unter dem Titel «Hier warnt Erdogan Türken in der Schweiz vor Integration». Der Text beschrieb zwei in Genf gehaltene Reden des türkischen Präsidenten, von denen die eine, vor dem Flüchtlingsforum, sehr zahm ausgefallen sei, wogegen jene, welche er abgeschirmt von der Öffentlichkeit vor 200 Schweiz-Türken gehalten habe, eine Propagandarede gegen die Integration gewesen sei. Der Zeitung liege ein Video vor, in welchem zu sehen sei, wie Recep Tayyip Erdogan die Anwesenden «im Nobelhotel Four Seasons» auf seine Grossmachtsfantasien einschwöre. Er mache klar: Auch wenn die Anwesenden in der Schweiz lebten, hätten sie nur einer Nation treu zu bleiben, der Türkei. Erdogan habe dabei die Hand zum sogenannten «Rabia-Gruss» erhoben, dem «Erkennungszeichen der islamistischen Muslimbrüder». Was im Text folgt ist ein Rückblick auf frühere Auftritte Erdogans, darauf, dass er früher schon vor der Assimilation von Türken in Gastländern gewarnt habe und der Text enthält weiter Hinweise darauf, wie Erdogans Leute in der Schweiz organisiert seien.

B. Am 23. Januar 2020 erhob der Unternehmerverband «MÜSİAD Switzerland», vertreten durch einen Anwalt, Beschwerde gegen den Artikel mit der Begründung, er verbreite unwahre Behauptungen und schlichte Lügen. Der Autor habe sich weder informiert noch mit den Organisatoren über die Veranstaltung gesprochen. Das widerspreche eindeutig den journalistischen Sorgfaltspflichten und müsse daher geahndet werden. Der Beschwerdeführer (BF) legt dem Beschwerdeschreiben als Beleg für seine Kritik zwei Dokumente bei: Das eine ist eine «Stellungnahme der türkischen Vereine und Gruppen in der Schweiz zum Artikel in der Blick Zeitung vom 23. Dezember 2019». In diesem undatierten, von niemand unterzeichneten Text, in dem auch nicht steht, wer namens welcher Organisation zugestimmt hat, werden die Aussagen des «Blick»-Textes bestritten. Erdogan habe nicht vor Integration gewarnt, er habe nicht aufgefordert, in erster Linie der Türkei treu zu bleiben, das Treffen habe nicht im «Four Seasons» stattgefunden, es sei nicht von der Öffentlichkeit abgeschirmt gewesen, türkische Medien hätten sehr wohl darüber berichtet.
Das zweite beigelegte Schreiben ist aufgrund der Anrede zu Beginn und des Schluss-Grusses offenbar ein Redetext, der Inhalt deutet auf eine in der Schweiz gehaltene Rede hin, möglicherweise des türkischen Präsidenten oder sonst eines türkischen Offiziellen. Wessen Rede das ist, wann und wo gehalten, von wem übersetzt, ist aus dem Dokument nicht ersichtlich.

C. Der durch einen Anwalt vertretene «SonntagsBlick» (Beschwerdegegner, BG) nahm am 10. Juni 2020 Stellung zur Beschwerde und beantragte deren Abweisung. Zur Begründung macht er geltend, die eingereichte Beschwerde sei schon formal nicht ausreichend, sie erfülle das Rügeprinzip nicht, wonach der Beschwerdeführer genau zu bezeichnen hat, welche Textstelle welche Bestimmung der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») verletze. Diese Substantiierung sei insbesondere dann zu verlangen, wenn es sich wie hier um die Eingabe eines Rechtsanwalts handle.

Beide beigelegten Dokumente, die Stellungnahme türkischer Vereine und die Rede, enthielten weder Urheber noch Namen und Unterschriften von Vereinen und seien schon aus diesem Grund nicht zu beachten. Die Stellungnahme von Vereinen stamme jedenfalls nicht vom Beschwerdeführer MÜSİAD selber. Solange sich diese angeblichen Vereine nicht als Urheber zu erkennen gäben, könnten sie auch nicht als Beschwerdeführer auftreten. Auch der angebliche Redetext Erdogans sei weder autorisiert noch auch nur identifiziert. Er trage kein Datum, sage nichts über den Urheber, sage nicht, dass es sich um eine Übersetzung handle, es könne irgendein Text sei, den jemand auf Deutsch verfasst habe. Das heisst, die Beschwerde enthalte letztlich nur eine reine Behauptung von Unwahrheit seitens von MÜSİAD, nichts weiter.

Für den Fall, dass der Presserat die Texte dennoch berücksichtigen wolle, obwohl sie keine gültigen Belege einer Beschwerde von MÜSİAD sein könnten, macht der BG geltend, dass sich der türkische Präsident auch in diesem Text nicht für die Integration seiner Landsleute in der Schweiz ausgesprochen habe. Der BG anerkennt, dass ihm mit der Nennung des Hotels ein Fehler unterlaufen sei, Veranstaltungslokal sei nicht das Genfer «Four Seasons», sondern das «Intercontinental» gewesen, dies entspreche aber nicht einem Verstoss gegen die Wahrheitspflicht. Dass dort die Öffentlichkeit sehr wohl ausgeschlossen gewesen sei, jedenfalls die Schweizer Öffentlichkeit, sei nicht zu bestreiten, Zugang zur Veranstaltung hätten nur regimetreue türkische Medien gehabt.

D. Der Presserat teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus Dominique von Burg, Präsident, Max Trossmann und Casper Selg, Vizepräsidenten.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 27. Juli 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die beschwerdeführende Organisation MÜSİAD kritisiert, der Artikel des «SonntagsBlick» habe «unwahre Behauptungen und Lügen» enthalten. Sie nennt aber nicht die vom Geschäftsreglement des Presserates in Art. 9 Abs. 2 verlangte Bezeichnung der fraglichen Textstellen und der damit verletzten Bestimmungen der «Erklärung». Der Presserat geht aber davon aus, dass hier eindeutig ein Verstoss gegen die Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung» gemeint war.

2. MÜSİAD legt zur Begründung seines Vorwurfs zwei Dokumente bei, die als Belege für die in der Beschwerdeschrift gerügten «Unwahrheiten und Lügen» des «SonntagsBlick» bezeichnet werden. Diese Schriftstücke sind nach Beurteilung des Presserats zu diesem Zweck aber in keiner Weise brauchbar. Was die «Stellungnahme von türkischen Vereinen und Gruppen» betrifft, so ist dem Beschwerdegegner recht zu geben: Sie enthält keinen einzigen Namen eines Vereins, der hinter diesem Text stehen soll, keinen Urheber, keine Unterschrift, kein Datum. Das kann ein von irgendwem aus irgendwelchen Gründen verfasster Text sein. Und die zweite Beilage ist ebenfalls nicht brauchbar, schon gar nicht als Beleg für die Position des türkischen Präsidenten: Das Schriftstück besagt nicht, wer diese Rede gehalten hat, wann und wo, wie sie im Original gelautet hat, wer sie übersetzt hat. Alle erforderlichen Angaben für ein juristisch oder journalistisch belastbares Dokument fehlen. Gänzlich anonyme Beilagen dieser Art, insbesondere eingereicht von einer durch einen Anwalt vertretenen Partei, sind in einem Verfahren vor dem Presserat – wie auch andernorts – nicht brauchbar.

3. Umgekehrt ist auch die Quellenlage auf Seiten des «SonntagsBlick» unklar. Es ist – abgesehen von einem Hinweis auf die türkische Opposition in der Stellungnahme des Beschwerdegegners – nicht ersichtlich, welche Quellen, abgesehen von unbestimmten Videoausschnitten, dem Autor des Artikels in welcher Ausführlichkeit vorgelegen haben, etwa wer ihm welche Teile der Rede übersetzt hat. Oder ihm davon erzählt hat.

4. Da keine von unabhängiger Seite erarbeitete Übersetzung der Rede Erdogans vorliegt, da auch hinsichtlich der übrigen Umstände Aussage gegen Aussage steht, kann der Presserat nur eine unklare Fakten- und Quellenlage feststellen. Übereinstimmung besteht lediglich darin, dass diese Rede nicht im «Four Seasons», sondern im «Intercontinental» stattgefunden hat. Diese falsche Verortung hat der BG eingestanden, dies wertet der Presserat aber als journalistische Ungenauigkeit und nicht als einen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht. Eine Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») liegt somit nicht vor.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Der «SonntagsBlick» hat mit dem Artikel «Hier warnt Erdogan Türken in der Schweiz vor Integration» vom 22. Dezember 2019 Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.