Nr. 48/2023
Wahrheit / Quellen / Anhörung

(X. c. «Tages-Anzeiger»)

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I. Sachverhalt

A. Am 11. April 2023 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» online einen Artikel von Annette Zoch mit dem Titel «Man stelle sich vor, das hätte ein Bischof gemacht». Der Text berichtet und verlinkt auf ein Video, das den Dalai Lama zeigt, wie er einen kleinen Buben auf den Mund küsst und ihn fragt: «Kannst du meine Zunge lutschen?» Dieses Video habe weltweit Kritik ausgelöst, schreibt die Autorin, woraufhin sich der Dalai Lama auf Twitter entschuldigt habe. Weiter zitiert der Text Medienmitteilungen und Aussagen von Organisationen, die Betroffene von sexualisierter Gewalt im religiösen Kontext vertreten sowie die Deutsche Buddhistische Union. Zuletzt ordnet die Journalistin den Vorfall auch noch im Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen in buddhistischen Gemeinschaften ein, insbesondere jene gegen Sogyal Lakar Rinpoche, einen engen Vertrauten des Dalai Lama.

B.
Am 18. April 2023 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel des «Tages-Anzeiger» (der online auch auf dem Portal der «Berner Zeitung» erschienen ist) ein. X. macht einen Verstoss gegen Ziffer 3 (Quellen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Beim im ersten Satz erwähnten Video, welches den Dalai Lama mit dem Buben zeige, fehle die Quelle. Es werde auch nicht erwähnt, dass die Urheberschaft des Videos unklar sei. Gegen die Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche) und 3.1 (Quellenbearbeitung) verstosse der Artikel, weil das Video nur einen Ausschnitt des Vorfalls zeige und nicht, dass der Bube zuvor den Dalai Lama gefragt habe, ob er ihn umarmen dürfe. Zudem seien die Eltern des Buben ebenfalls anwesend gewesen, und sowohl die Mutter als auch der Junge hätten dabei zufrieden ausgesehen. Die Verwendung des Zitats der Betroffenen-Organisation Snap – «Wir wüssten gern, zu wie vielen anderen solchen ‹verspielten› Aktionen es in der Vergangenheit zwischen dem Dalai Lama und ahnungslosen Besuchern gekommen ist» – verstosse zudem gegen Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen). Es suggeriere, dass der Dalai Lama seit Langem Missbräuche an Kindern verübe.

C. Am 12. Juni 2023 nahm die Rechtskonsulentin der TX Group im Namen der Redaktion «Tages-Anzeiger» zur Beschwerde Stellung und beantragte deren Abweisung. Der Vorwurf, der Dalai Lama sei als «alter, geifernder Pädophiler» dargestellt worden, sei falsch. Im Artikel werde keineswegs behauptet, der Dalai Lama sei pädophil und missbrauche Kinder. Er gebe aber wieder, wie die erwähnte Szene weltweit aufgenommen worden sei, unter anderem von Betroffenen sexualisierter Gewalt. Es würden klar erkennbar Meinungen von Drittpersonen wiedergegeben. Was die angebliche Verkürzung des Videos und damit die Verletzung der Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) zur «Erklärung» angehe, so widerspreche eine gewisse Kürzung nicht per se der Wahrheitspflicht: Der Vorfall erscheine dadurch nicht in einem anderen Licht und sei zudem im Text korrekt eingeordnet worden. Das Video sei ausserdem echt – dies sei durch die öffentliche Entschuldigung des Dalai Lama bestätigt. Die angegebene Quelle Twitter sei für JournalistInnen längst ein übliches Arbeitsmittel, die ursprüngliche Quelle des Videos für die Einordnung der gezeigten Handlung des Dalai Lama nicht elementar. Somit seien Ziffer 3 der «Erklärung», respektive Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) nicht verletzt. Als absolute Person der Zeitgeschichte müsse sich der Dalai Lama gefallen lassen, dass seine öffentlichen Handlungen öffentlich kritisch bewertet würden – durch das überwiegende öffentliche Interesse falle sein Verhalten unter die Ausnahme vom Anhörungsgebot, wie sie in Richtlinie 3.9 (Anhörung – Ausnahmen) zur «Erklärung» vorgesehen sei. Die Verpflichtung zur vorherigen Anhörung gemäss Richtlinie 3.8 erübrige sich aber ohnehin dadurch, dass der Dalai Lama bereits eine Entschuldigung veröffentlicht habe. Ausserdem habe die Autorin die Deutsche Buddhistische Union um eine Einordnung und Stellungnahme gebeten und daraus ausführlich zitiert.

D. Am 11. August 2023 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 seines Geschäftsreglements vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 22. Dezember 2023 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Ziffer 3 der «Erklärung» und die zugehörige Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) verpflichtet Journalistinnen und Journalisten, nur Informationen zu veröffentlichen, deren Quellen ihnen bekannt sind. Sie müssen diese Quellen und deren Glaubwürdigkeit überprüfen und genau bezeichnen. Der Artikel des «Tages-Anzeiger» erwähnt zwar nur, dass das besagte Video im Internet kursiere. Der dort publizierte Link verbindet den Artikel aber mit einem früheren Artikel im «Tages-Anzeiger» («‹Lutsch meine Zunge›: Dalai Lama entschuldigt sich»), in welchem ersichtlich ist, dass die Quelle der Nachrichtendienst Twitter ist. Auf diesem Video ist auch die vollständige Begegnung mit dem Buben (auf Englisch) zu sehen. Ziffer 3 der «Erklärung» und die zugehörige Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) sind somit nicht verletzt.

2. Die Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) zur «Erklärung» verpflichtet JournalistInnen dazu, verfügbare und zugängliche Daten und die Integrität von Dokumenten zu überprüfen. Dieses Video ist unter anderem von der Agentur Reuters verbreitet worden, am 10. April 2023, mit dem Hinweis, die Agentur habe es nicht verifiziert. Nachdem der Dalai Lama bereits vor Erscheinen des Artikels zum erwähnten Vorfall mit dem Buben im Video Stellung genommen hat, kann aber davon ausgegangen werden, dass es sich beim Video um ein echtes Dokument handelt. Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) zur «Erklärung» ist nicht verletzt.

3. Gemäss Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) zur «Erklärung» müssen Betroffene bei schweren Vorwürfen die Möglichkeit haben, Stellung dazu zu nehmen. Einerseits hat der Dalai Lama bereits vor Veröffentlichung des Artikels zu den Vorwürfen Stellung genommen, indem er sich auf Twitter für den Vorfall entschuldigt hat. Diese Stellungnahme bzw. Entschuldigung wird im Artikel zitiert. Eine erneute Anhörung erübrigt sich somit. Anderseits hat die Journalistin die Deutsche Buddhistische Union um eine Stellungnahme angefragt. Obwohl diese nicht direkte Adressatin der Vorwürfe ist, ist dieses Verfahren angesichts der bereits erfolgten Entschuldigung des buddhistischen Oberhauptes genügend. Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) zur «Erklärung» ist nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Der «Tages-Anzeiger» hat mit dem Beitrag «Man stelle sich vor, das hätte ein Bischof gemacht» vom 11. April 2023 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Quellenbearbeitung / Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.