I. Sachverhalt
A. Am 29. Januar 2023 (online am 28. Januar 2023) veröffentlichte die «NZZ am Sonntag» in ihrem «Magazin» unter dem Titel «Der Feldzug des Millionärs gegen unliebsame Journalisten» einen Artikel gezeichnet von Zoé Baches. Darin wird berichtet, dass der vom Westschweizer Wirtschaftsmagazin «Bilan» auf ein Vermögen von 500 bis 600 Millionen Franken geschätzte und in der Westschweiz bekannte Millionär und Kunstsammler Stéphane Barbier-Mueller (der Beschwerdeführer) sich mit einer grossen Anzahl Gerichtsverfahren gegen jede Berichterstattung über seine Person zur Wehr setze. Über ihn sei in verschiedenen Deutschschweizer Medien mit Namensnennung berichtet worden, weil er im Rahmen des grossen Betrugs- und Veruntreuungsverfahrens gegen Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz einer von sieben Angeklagten gewesen sei. Dort sei er erstinstanzlich zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt worden wegen Privatbestechung und Gehilfenschaft bei ungetreuer Geschäftsbesorgung. Dieses Urteil habe er angefochten. Die Artikel der einzelnen Zeitungen über diesen Sachverhalt seien – so die NZZ – korrekt abgefasst gewesen. Dennoch habe der Beschwerdeführer gegen jeden Artikel, der ihn mit Namen und Bild erwähnt habe, Zivilklage eingereicht mit der Begründung, aufgrund der Nennung seines vollen Namens und anderer identifizierender Elemente werde er in seiner Ehre verletzt.
Unter dem Zwischentitel «Grundlegendes Dilemma» wird ausgeführt, dass sich in diesem Fall ein Dilemma für die Wirtschaftsberichterstattung zeige: Barbier-Mueller sei einerseits bisher nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten, sei kein Hauptbeschuldigter im «Vincenz-Prozess» gewesen, sei in der Deutschschweiz kaum bekannt und fühle sich öffentlich vorverurteilt. Umgekehrt frage es sich, ob die Medien ein schwerreiches Mitglied einer Immobiliendynastie anonymisieren sollten, wenn dieser sich umgekehrt gerne porträtieren lasse, solange dies wohlwollend geschehe, wie etwa in einem neulich erschienenen Porträt in «Bilan». Es gebe nur wenige Gründe, Angeklagte in einem grossen Wirtschaftsstrafverfahren nicht zu nennen, insbesondere wenn es um den Fall einer systemrelevanten Bank wie Raiffeisen gehe. Hier seien sogar eine Reihe von nicht angeklagten Personen immer wieder mit Foto und Namen gezeigt worden.
Die nun zu erwartenden Urteile seien wegweisend dafür, wie Medien künftig über Wirtschaftsprozesse berichten könnten. In den Verfahren Barbier-Muellers gegen Zürcher und Aargauer Medien hätten die Richter in erster Instanz die Klagen abgewiesen, mit dem Verweis, die Fakten seien korrekt und sachlich wiedergegeben worden.
B. Am 10. Februar 2023 reichte Stéphane Barbier-Mueller mit Unterstützung eines Anwalts beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den erwähnten Artikel ein. Er macht einen Verstoss gegen die Richtlinien 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), 2.4 (Öffentliche Funktionen, Interessenkonflikte) und 7.8 (Notsituationen) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend.
Zur Frage, ob auf die Beschwerde einzutreten sei, führt er aus, dass er zwar sehr wohl gerichtliche Verfahren gegen die NZZ angestrengt habe, was laut Geschäftsreglement des Presserates (Art. 11 Abs. 1) zu einem Nichteintreten führen könnte. Diese Klagen seien aber schon vor Erscheinen des inkriminierten Artikels eingeleitet worden und bezögen sich nicht auf diesen Text. Ob er auch im Fall dieses Artikels Klage erheben werde, sei noch offen.
Zur inhaltlichen Begründung führt er an, die Autorin habe gegen die Richtlinien 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) und 2.4 (Öffentliche Funktionen, Interessenkonflikte) verstossen, weil sie nicht deklariert habe, dass sie selber Beklagte in einem der beschriebenen Verfahren sei und somit als Betroffene als befangen gelten müsse. Insbesondere die reisserische Charakterisierung seiner Person als sehr reicher und in der Romandie bekannter Unternehmer diene der Stärkung ihrer eigenen Position im fraglichen Verfahren gegen sie selber und entspringe einem Interessenkonflikt.
Den Versstoss gegen die Richtlinie 7.8 (Notsituation) sieht der Beschwerdeführer darin begründet, dass die NZZ den Artikel nur drei Tage nach dem unerwarteten Tod seines Bruders, am Vorabend von dessen Begräbnis veröffentlicht habe. Zu dieser zeitlichen Ansetzung eines zudem reisserischen Artikels habe es keinen Anlass gegeben, dieser Bericht habe die Trauerfamilie zusätzlich schockiert und belastet. Der Todesfall sei allgemein bekannt gewesen, der Zeitpunkt der Veröffentlichung in einer Phase grösster Trauer der Familie sei von der NZZ in Kenntnis dieser Umstände gewählt worden und zeige die Hartnäckigkeit, mit welcher die NZZ ihm zu schaden suche.
C. Am 2. Juni 2023 nahm der Rechtsdienst der NZZ zusammen mit der Autorin des Artikels Stellung. Sie plädieren zunächst auf ein Nichteintreten. Die Behauptung des Beschwerdeführers, wonach dieser Text von den laufenden Gerichtsverfahren nicht betroffen sei, müsse angesichts von elf von ihm angestrengten Prozessen als «Farce» bezeichnet werden. Es gehe ihm darum, jede Berichterstattung über seine Person zu unterbinden. Die umstrittene Materie sei in diesem Sinne immer die gleiche, nämlich der Vincenz-Fall und die vielen gerichtlichen Verfahren des Beschwerdeführers gegen Medien. Der Artikel 11 Absatz 1 des Geschäftsreglements bezwecke, dass BeschwerdeführerInnen sich aus prozessökonomischen Gründen entscheiden müssten, ob sie den Presserat oder ein ordentliches Gericht anrufen wollen. Andernfalls könnten Beschwerdeführende zuerst einen einzelnen Fall «einklagen», um damit im Falle eines positiven Entscheides bei allen weiteren Medienhäusern «hofieren» zu gehen.
Falls dennoch auf den Inhalt der Beschwerde eingetreten werden sollte, macht die NZZ einleitend geltend, dass der Beschwerdeführer nur die Richtlinien 2.3, 2.4 und 7.8 zur «Erklärung» als verletzt rüge. Deswegen werde auf alle übrigen Argumentationen in der Beschwerde nicht eingegangen. Das betreffe seine Bemerkungen zur «Zulässigkeit der Namensnennung, seine angebliche Unschuld sowie seine Medienscheu».
Zu Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar): Dass die Autorin nicht erwähnt habe, dass gegen sie selber ein Strafverfahren in dieser Sache laufe, tue unter dem angerufenen Titel der Richtlinie 2.3 nichts zur Sache und sei allenfalls unter Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) zu subsumieren, was der Beschwerdeführer aber nicht geltend mache. Auch ob ein öffentliches Interesse an den vielen Prozessen bestehe, die der Beschwerdeführer führe, sei nicht unter Richtlinie 2.3 zu prüfen.
Zu Richtlinie 2.4 (Öffentliche Funktionen, Interessenkonflikte): Diese beziehe sich auf Personen in öffentlichen Ämtern, das sei hier nicht von Belang. Wenn Medien aufgrund eines angeblichen Interessenkonflikts nicht über solche Prozesse berichten dürften, wären auch Berichte etwa über Presseförderung oder über den umstrittenen Artikel 266 (Öffentliche Funktionen, Interessenkonflikte) der ZPO (Zivilprozessordnung) untersagt. Die Abwägung, ob über die Prozesse des Beschwerdeführers geschrieben werden dürfe, müsse über das Kriterium des öffentlichen Interesses geschehen und dieses sei hier aufgrund des Ausmasses offensichtlich gegeben.
Zu Richtlinie 7.8 (Notsituation): Der Tod eines Angehörigen sei nicht zu vergleichen mit den in Richtlinie 7.8 beschriebenen Notsituationen wie Krieg oder Terroranschlägen. Ginge man mit der Argumentation des Beschwerdeführers, müssten sich JournalistInnen vor jeder Berichterstattung über eine Person des öffentlichen Interesses nach deren gegenwärtiger Befindlichkeit erkundigen und je nachdem den geplanten Artikel in eine unbekannte Zukunft verschieben.
D. Am 13. August 2023 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 des Geschäftsreglements vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.
E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 12. Dezember 2023 verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Zum Eintreten: Der Presserat lässt die Frage offen, ob mit der vorliegenden Beschwerde ein Sachverhalt aufgebracht wird, zu der parallel schon Gerichtsverfahren laufen. Er tritt auf die Beschwerde ein, weil sie in einem Punkt (Richtlinie 2.4) eine medienethische Grundsatzfrage aufwirft.
2. Zu Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar): Der Beschwerdeführer macht geltend, der Bericht verletze die Richtlinie 2.3, weil die Autorin nicht transparent gemacht habe, dass sie selber auch Beklagte in einem der von ihm eingeleiteten Prozesse sei. Damit verschleiere sie ihre Interessenlage und verletze dadurch die von der «Erklärung» verlangte Trennung zwischen Fakten und Kommentar. Die NZZ macht geltend, dieser Sachverhalt stehe in keinem Zusammenhang mit Richtlinie 2.3, dies könne allenfalls unter Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) subsumiert werden. Diese aber habe der Beschwerdeführer nicht angerufen.
Aus der Sicht des Presserates entspricht der Text einer sachlichen Berichterstattung, klar kommentierende Elemente sind nicht zu erkennen. Entsprechend kommt Richtlinie 2.3 nicht zur Anwendung. Der Bericht verurteilt nicht, er erläutert im Gegenteil mit Blick auf beide Seiten das Dilemma, welches das Verhalten des Beschwerdeführers aufwirft. Was der Beschwerdeführer primär kritisiert ist der Umstand, dass er namentlich kenntlich gemacht wurde. Das betrifft die Richtlinien 7.2 (Identifikation) und 7.4 (Unschuldsvermutung, Namensnennung), welche er aber nicht als verletzt aufführt.
3. Zu Richtlinie 2.4 (Öffentliche Funktionen, Interessenkonflikte): Die Richtlinie 2.4 behandelt in erster Linie den Interessenkonflikt, der entsteht, wenn JournalistInnen öffentliche Funktionen erfüllen. Sie greift aber ausdrücklich weiter: «… Zudem muss die politische Funktion dem Publikum zur Kenntnis gebracht werden. Interessenkonflikte schaden dem Ansehen der Medien und der Würde des Berufs. Dieselben Regeln gelten auch für private Tätigkeiten, die sich mit der Informationstätigkeit überschneiden könnten.» Die Richtlinie verlangt also insgesamt, dass Interessenkonflikte insbesondere im Zusammenhang mit öffentlichen Funktionen zu vermeiden sind, dass aber, wo dies nicht der Fall ist, Transparenz hergestellt werden muss. In Auslegung von Richtlinie 2.4 hat der Presserat in Stellungnahme 70/2011 entschieden, dass ein ehemaliger NZZ-Wirtschaftsredaktor in diesem Blatt weiterhin editorialisieren dürfe, dass er aber transparent machen müsse, für wen er nun arbeite (Avenir Suisse). In Stellungnahme 2/2013 wurde in Analogie entschieden, dass die «Basler Zeitung» vor einem Kommentar eines grünen Nationalrats zum Palästina-Konflikt hätte klarstellen müssen, dass der Autor Präsident der Gesellschaft Schweiz–Palästina sei. Analog ist hier davon auszugehen, dass die Autorin hätte erkennen lassen müssen, dass sie selber Beklagte in einem der von ihr beschriebenen Verfahren ist. Insofern wurde die Richtlinie 2.4 (Öffentliche Funktionen, Interessenkonflikte) verletzt.
4. Gleichzeitig ist aber ausdrücklich festzuhalten, dass dieser Umstand zwar transparent gemacht werden muss, dass dies aber nicht bedeuten kann, dass die betreffende Person von der Berichterstattung auszuschliessen ist. Es kann, wie die NZZ feststellt, nicht sein, dass JournalistInnen oder Medien, welche selber von einem Thema betroffen sind, über die fragliche Thematik nicht mehr berichten dürfen. Es muss jedoch Transparenz hergestellt werden.
5. Zu Richtlinie 7.8 (Notsituation): Diese Bestimmung schützt Personen, die einem sehr hohen psychischen Druck ausgesetzt sind, davor, dass sie in ihrem Leiden gezeigt, beschrieben oder allenfalls ausgenutzt werden. Das war mit diesem Artikel nicht der Fall.
6. Die Fragen, ob der Beschwerdeführer eine Person öffentlichen Interesses sei und ob sein Name hätte genannt werden dürfen, können offen bleiben. Sie betreffen die Richtlinien 7.2 (Identifizierung) und 7.4 (Gerichtsberichte; Unschuldsvermutung und Resozialisierung), die der Beschwerdeführer nicht angerufen hat. Angesichts dessen, dass die Beschwerde von einem Rechtsanwalt (mit-)verfasst wurde, geht der Presserat davon aus, dass dies bewusst nicht erwähnt wurde.
III. Feststellungen
1. Der Presserat heisst die Beschwerde in einem Punkt gut.
2. Die «NZZ am Sonntag» hat mit dem Artikel «Der Feldzug des Millionärs gegen unliebsame Journalisten» die Ziffer 2 (Ansehen des Berufs, Interessenkonflikt) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.
3. In allen übrigen Punkten wird die Beschwerde abgewiesen.