Zusammenfassung
Der Presserat hat eine Beschwerde gegen «Die Zeit Schweiz» teilweise gutgeheissen. Unter dem Titel «Ich will heim! Erfahrungsbericht aus dem Pflegeheim» hat eine Autorin über ihr Erlebtes in einer von ihr anonymisierten Institution geschrieben. Sie tat dies unter einem Pseudonym. Dies erachtet der Presserat als unproblematisch. Allerdings behauptet die Autorin in ihrem Artikel, dass die Heiminsassen durch stark sedierende Medikamente ruhiggestellt worden seien. Ihre Aussage belegt die Autorin nicht. Sie stützt diese einzig auf ihre eigenen Beobachtungen, ohne die Pflegebedürftigkeit der jeweiligen Heiminsassen zu kennen. Ebenfalls schreibt die Autorin, dass die Putzequipe pflegerische Tätigkeiten übernommen hätte. Dies, um den Pflegemangel zu verschleiern. In der Folge unterlässt es die Autorin, die Heimleitung mit den schweren Vorwürfen zu konfrontieren. Dies verletzt die Wahrheitssuche und somit Richtlinie 1.1. Der Presserat weist darauf hin, dass auch eine Anonymisierung sämtlicher Beteiligten und Institutionen nicht dazu genutzt werden darf, um journalistische Rechte und Pflichten über Bord zu werfen.
Résumé
Le Conseil suisse de la presse a admis partiellement une plainte contre « Die Zeit ». Dans son article intitulé « Ich will heim! Erfahrungsbericht aus dem Pflegeheim » (Je veux rentrer ! Retour d’expérience d’un home), l’autrice décrit son vécu dans un établissement qu’elle présente sous forme anonyme. Sans en apporter la preuve, elle dénonce le fait que les occupants du home sont bourrés de médicaments sédatifs pour les forcer à la tranquillité. Elle s’appuie uniquement sur ses observations sans rien savoir des soins requis par les pensionnaires. Elle écrit en outre que l’équipe de nettoyage assume des tâches de soins pour cacher la pénurie de personnel spécialisé. Elle omet toutefois de confronter la direction du home à ses graves accusations. En cela, elle porte atteinte à son devoir de rechercher la vérité. Le Conseil suisse de la presse rappelle que le fait d’anonymiser les contributions relatives aux personnes physiques et morales impliquées n’autorise pas pour autant les journalistes à faire fi de leurs obligations de diligence.
Riassunto
Il Consiglio della stampa ha parzialmente accolto un reclamo contro «Die Zeit». Con il titolo «Ich will heim! Erfahrungsbericht aus dem Pflegeheim» (Voglio andare a casa! Resoconto dell’esperienza in una casa di riposo), una giornalista ha raccontato le sue esperienze in una struttura resa anonima. Nell’articolo, l’autrice afferma che i residenti della casa di cura venivano sedati con farmaci altamente narcotici, senza tuttavia fornire alcuna prova della sua affermazione, basandosi esclusivamente sulle proprie osservazioni e senza conoscere le necessità di assistenza dei rispettivi occupanti della struttura in questione. La giornalista scrive inoltre che l’equipe che si occupa delle pulizie ha assunto compiti di assistenza per occultare la carenza di cure. Tuttavia, non si confronta con la direzione della casa di riposo riguardo a queste gravi accuse, violando così il dovere di ricerca della verità. Il Consiglio della stampa sottolinea che l’anonimato di tutte le persone e le istituzioni coinvolte non deve essere usato come giustificazione per accantonare gli obblighi di diligenza giornalistica.
I. Sachverhalt
A. Am 22. Dezember 2022 ist in der Schweizer Ausgabe der Wochenzeitung «Die Zeit» der Artikel «‹Ich will heim!› Ein Erfahrungsbericht aus dem Pflegeheim» erschienen. Gezeichnet ist der Artikel mit dem Namen Marusa Micheel. Sie erzählt ausführlich von ihren eigenen Eindrücken und Erfahrungen in einem Pflegeheim, in dem sie nach einem Beinbruch betreut wurde. Der Name der Institution ist anonymisiert, ebenso deren Bewohnerinnen und Bewohner. Die Journalistin ist auf der Privatabteilung untergebracht. Das Inventar beschreibt sie als lieblos («Alles, was ich anfasse und wie Holz aussieht, ist aus Plastik») und das Essen als ungeniessbar («Weder Anblick noch Geschmack der Speisen lassen erraten, was wir essen»). Die meisten der anderen Bewohnerinnen und Bewohner nimmt sie als antriebslos («In welche Richtung ich auch grüsse, niemand grüsst zurück»), appetitlos («Viele legen nach wenigen Bissen die Gabel wieder hin» und dement («Schon beim Hinlegen von Messer und Gabel wissen viele nicht mehr, was sie gegessen haben») wahr. Dass die Bewohnerinnen und Bewohner oft auch tagsüber dösend in den Aufenthaltsräumen sitzen, erklärt sich die Autorin damit, dass diese stark sedierende Medikamente erhalten. Sie verweist dafür auf einen Forschungsbericht des nationalen Programms Progess der Stiftung Patientensicherheit, in dem die Medikation in Pflegeheimen beleuchtet wurde. Jeder fünfte Heiminsasse in der Schweiz werde ohne medizinische Notwendigkeit «ruhiggestellt», heisse es dort. Die Langeweile dominiert gemäss der Autorin derart im Heim, dass heruntergefallene Papierservietten zum Ereignis werden. Gespräche zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern finden kaum statt. Zitiert die Autorin doch mal aus einer Unterhaltung mit einer Mitbewohnerin, äussert diese sich kritisch und negativ über das Pflegeheim. Wer ein Zuhause hat, möchte dorthin zurück. Das Pflegepersonal stamme primär aus Asien und sei als Hilfskraft oder auf Probe angestellt, schreibt die Autorin. Die Angestellten würden kaum Deutsch verstehen und seien trotz ihren Bemühungen Zielscheiben des Frusts der Heiminsassen («Dass sich die molligen Arme der fremden Frauen häufig weich und warm über ihre Schultern legen, stimmt die Schweizer und Schweizerinnen keineswegs milder»). Das Ambiente der Institution verkommt in dem Artikel ebenso zur Mogelpackung wie das Aktivierungsprogramm. Bei letzterem malen die Teilnehmenden Micky-Mäuse aus oder verzieren Guetzli. Durchgeführt würden diese Anlässe vom Putzpersonal – gemäss der Autorin ein Trick, damit das Heim sie den Pflegekräften zuordnen und somit den Pflegemangel verschleiern könne. Die Aufsichtspflicht der Kantone beschreibt sie als mangelhaft und die Heime würden sich primär um die Rendite statt um die Menschen kümmern. Obwohl der Aufenthalt der Autorin 15’000 Franken pro Monat koste, würden monate- oder gar jahrealte Magazine in der Leseecke liegen, das Fitnesscenter bestehe aus bloss einem Hometrainer und im Cheminée-Zimmer würden schwarz angemalte Plastik-Holzstücke in einer Kamin-Attrappe liegen.
B. Am 21. März 2023 reichte die anwaltschaftlich vertretene Organisation Artiset beim Presserat Beschwerde gegen «Die Zeit: Schweiz» ein. Der Erfahrungsbericht verletze mehrere Ziffern der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»). Die Autorin habe mit ihren Schilderungen über sedierende Medikamente gegen Richtlinie 1.1 (Wahrheitspflicht) verstossen. Im Bericht «Nationales Programm, progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen, Ergebnisse der Online-Befragung» stünde, dass aufgrund von Multimorbidität im Alter oft die gleichzeitige Einnahme mehrerer Medikamente nötig sei. Zudem hätten etwas mehr als 70 Prozent der Teilnehmenden angegeben, dass in ihren Heimen versucht würde, Neuroleptika und/oder Benzodiazepine zu reduzieren. Gleichzeitig gebe die Hälfte der Teilnehmenden an, dass bei ihren Heimbewohnerinnen und -bewohnern mehr Medikamente als notwendig eingesetzt werden. Gemäss Beschwerdeführerin zeige dies, dass entgegen des «Zeit»-Artikels «eben gerade nicht» jeder zweite Heimbewohner unnötige, schädliche oder gar falsche Pillen erhalte. Die Autorin erhebe den schweren Vorwurf, dass Heimbewohnerinnen und -bewohner ohne medizinische Notwendigkeit mit Medikamenten ruhiggestellt würden. Das stimme nicht. Medikamente würden ärztlich verordnet und nicht eingesetzt, um die Pflegearbeit zu erleichtern. Der Artikel erwecke zudem den Anschein, dass sich sämtliche Pflegeheime vom Geld leiten lassen würden und statt der Heiminsassen der Umsatz im Zentrum stehe.Des Weiteren habe die Autorin gegen Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) verstossen, indem sie Fakten und persönliche Aussagen vermische. Letztere seien übertrieben und würden die Realität verzerren. Ihre Aussagen bette sie allgemeingültig ein.Die Beschwerdeführerin moniert zudem, dass die Autorin die Quellen nicht überprüft und somit die Pflicht zur korrekten Quellenangabe (Richtlinie 3.1, Quellenbearbeitung) verletzt habe. Sie stütze sich bezüglich des Chemie-Cocktails und dessen schädlichen, unnötigen oder sedierenden Medikamenten auf eine Untersuchung des Forschungsprogramms Progress aus dem Jahr 2021. Allerdings existiere ein solcher Forschungsbericht gar nicht. Es gebe folgende Berichte: «Sichere Medikation in Pflegeheimen (patientensicherheit.ch)», den Datenbericht «Nationales Programm, progess! Sichere Medikation in Pflegeheimen, Ergebnisse der Online-Befragung» von 2018 und den Bericht «Pilotprogramm progress! Sichere Medikation in Pflegeheimen» von 2019. Somit könne die Autorin diese Berichte nicht als Quelle mit Bezug 2021 verwendet haben. Zwar gäbe es einen weiteren Bericht zum Vertiefungsprojekt des Programms, der 2021 veröffentlicht worden sei. Allerdings verweise die Autorin auf einen Progress-Forschungsbericht anstatt progress!-Forschungsbericht. Somit fehle eine korrekte Quellenangabe. Zudem stütze die Autorin gewisse Aspekte des Artikels auf einen Bericht von «Investigate Europe», wobei sie es unterlassen habe, dessen Fakten zu überprüfen. Die Beschwerdeführerin moniert des Weiteren, dass der Beitrag mit trist anmutenden Illustrationen bebildert worden sei. Dabei sei bloss eine der beiden Illustrationen als solche beschriftet worden, wenn auch nicht genügend deutlich. Das verstosse gegen Ziffer 3 der «Erklärung» (respektive Richtlinie 3.4 Illustrationen). Ebenfalls moniert die Beschwerdeführerin, dass sich die Autorin Informationen auf unlautere Weise beschafft habe, was gegen Ziffer 4 (Richtlinie 4.2 Verdeckte Recherchen) der «Erklärung» verstosse. Zwar handle es sich um einen Erlebnisbericht, allerdings habe die Journalistin ihren Beruf verschleiert und dadurch als verdeckte Ermittlerin agiert. Dies sei nicht durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt, weil über die Thematik bereits zur Genüge berichtet worden sei. Auch Richtlinie 8.2 (Diskriminierungsverbot) zur «Erklärung» habe die Journalistin nicht eingehalten. In ihrem Artikel schreibt sie, dass Pflegerinnen und Pfleger aus dem Ausland stammen würden, einen körperlich nahen Umgang haben und die (schweizer)deutsche Sprache kaum beherrschen. Dies sähen die Heiminsassen nicht gerne. Die Journalistin verallgemeinere diesbezüglich ihre Aussage gegenüber sämtlichen Pflegenden als auch allen Bewohnenden. Der Artikel enthalte klar diskriminierende Anspielungen hinsichtlich Nationalität, Ethnizität und/oder Religion.
C. Am 26. Mai 2023 nahm die anwaltschaftlich vertretene «Zeit» Stellung und ersuchte, die Beschwerde abzulehnen, sofern darauf überhaupt einzutreten sei. Dies, weil die «Zeit» in der Schweiz keine selbstständige Niederlassung betreibe und auch sonst hierzulande nicht juristisch vertreten sei. Es handle sich lediglich um ein redaktionelles Ressort der deutschen Wochenzeitung. Weil diese nicht originär in der Schweiz publiziert werde, sei der Schweizer Presserat nicht zuständig für die Beschwerde. Zudem sei der Artikel online am 21. Dezember 2022 veröffentlicht worden. Die Frist von drei Monaten gemäss dem Reglement des Schweizer Presserats sei nicht eingehalten worden. Einleitend weist die Beschwerdegegnerin darauf hin, dass es sich beim Namen der Autorin um ein Pseudonym handelt. Die Redaktion «Zeit» hält fest, dass es sich bei dem Artikel um eine Reportage handle, die eigene Eindrücke mit recherchierten Informationen verbinde. Die Aussagen zu dem Medikamenten-Cocktail und den unnötig verabreichten Pillen würden – entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin – durch die Berichte des Forschungsprogramms Progress aus den Jahren 2019 bis 2021 gedeckt. Da neuere Zahlen nicht vorliegen, habe die Autorin auf diese Bezug nehmen dürfen. Zudem habe sie die Zahlen von der Stiftung Patientensicherheit Schweiz überprüfen lassen. Die «Zeit» legt als Beleg den Mail-Austausch zwischen der Stiftung und der Journalistin vor. Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) und 3.1 (Quellenbearbeitung) der «Erklärung» seien daher nicht verletzt. Die Illustrationen seien lebensnah und hätten einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Inhalt des Artikels. Die Leserinnen und Leser würden aufgrund der Art der Darstellung erkennen, dass es sich um eine symbolhafte Bebilderung handle. Richtlinie 3.4 (Illustrationen) zur «Erklärung» sei nicht verletzt. Es stünde der Autorin frei, es nicht gut zu finden, dass Medikamente in extremer Häufigkeit oder gar unnötigerweise verordnet würden. Die Trennung von Kommentar und Tatsachen sei eingehalten worden. Die eigentlichen Fakten seien durch die Stiftung Patientensicherheit Schweiz bestätigt worden. Dasselbe gelte beim Aspekt der Finanzierung der Pflegeheime. Viele davon würden privatwirtschaftlich als Unternehmen betrieben und seien angehalten, Geld zu verdienen. Ihre wertenden Aussagen habe die Autorin auf nachvollziehbare Argumente gestützt. Zudem seien in Reportagen wertende Aussagen zulässig. Die Autorin äussere sich nicht – wie dies die Beschwerdeführerin moniert – zum hohen Umsatz der Pflegeheime. Sie schreibe, dass sich mit Pflegeheimen in der Schweiz «viel Geld verdienen» liesse. Das sei etwas anderes, aber gleichwohl richtig. Darüber, ob die Pflegeheime sich von wirtschaftlichen Interessen leiten liessen, enthalte der Artikel nichts. Es werde bloss darauf hingewiesen, dass es den Heiminsassen besser ginge, wenn die Heime nicht gewinnorientiert arbeiten würden. Diese Meinung dürfe die Autorin haben. Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) zur «Erklärung» sei nicht verletzt. Die Autorin sei nicht zum Zweck der Recherche in ein Pflegeheim eingetreten, sondern weil sie vorübergehend pflegebedürftig war. Aufgrund ihrer Erlebnisse sei sie erst auf die Idee gekommen, eine Reportage über ihren Aufenthalt zu schreiben. Sie habe vor Ort weder heimlich Ton- noch Bildaufnahmen produziert oder sich auf rechtswidrige Weise Dokumente besorgt. Es sei erlaubt, als Journalistin über eigene Erfahrungen zu schreiben. Daher handle es sich nicht um eine verdeckte Recherche, Richtlinie 4.2 (Verdeckte Recherchen) zur «Erklärung» sei entsprechend nicht verletzt. Bezüglich der Pflegenden habe die Autorin beschrieben, was sie erlebt habe. Menschen aus anderen Kulturkreisen als solche zu beschreiben sei nicht in jedem Fall eine Diskriminierung. Das Diskriminierungsverbot halte nicht fest, dass ethnische oder nationale Zugehörigkeiten nicht zu thematisieren seien. Die Autorin beschreibe erkennbar ihre Erlebnisse in einem konkreten Pflegeheim, was Richtlinie 8.2 (Diskriminierungsverbot) nicht verletze.
D. Der Fall wurde der 3. Kammer zur Behandlung übertragen. Diese setzt sich wie folgt zusammen: Jan Grüebler (Kammerpräsident), Annika Bangerter, Monika Dommann, Christina Neuhaus, Simone Rau, Pascal Tischhauser und Hilary von Arx.
E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 23. August 2023 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. Bei dem beanstandeten Beitrag handelt es sich um einen Artikel, der im Schweizer Teil der Wochenzeitung «Die Zeit» erschienen ist. Diese verfügt über eine Redaktion in Zürich. Ebenfalls ist die Beschwerde per 21. März 2023 fristgerecht eingereicht worden – selbst wenn der Artikel am 21. Dezember 2022 online erschienen ist.
2. Ziffer 1 der «Erklärung» hält fest, dass Journalistinnen und Journalisten sich an die Wahrheit halten, ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen. Die Wahrheitssuche (Richtlinie 1.1 der «Erklärung») stellt den Ausgangspunkt der Informationstätigkeit dar. Dafür müssen alle verfügbaren und zugänglichen Daten, die Achtung der Integrität von Dokumenten, die Überprüfung und die allfällige Berichtigung berücksichtigt werden. Die Beschwerdeführerin moniert, dass die Autorin gegen die Wahrheitspflicht verstossen habe. Im Zentrum geht es dabei um die Frage, ob die Heiminsassen sehr viele respektive zu viele Medikamente verabreicht bekommen, die möglicherweise eine gefährliche Wechselwirkung entfalten. Ebenfalls von der Beschwerdeführerin moniert wird die Aussage, dass jeder zweite Heiminsasse «unnötige, schädliche oder falsche Pillen» erhalte. Beide Seiten verweisen für ihre Argumentation auf eine Untersuchung des nationalen Forschungsprogramms Progress, die von der Stiftung Patientensicherheit Schweiz publiziert wurde. Tatsächlich steht im Schlussbericht zum Grundlagenprojekt des Pilotprogramms Progress! (publiziert Januar 2019), dass «ein hoher Anteil der Bewohnerinnen und Bewohner von Schweizer Pflegeheimen» polymediziert sei. Das bedeutet, dass sie fünf oder mehr Medikamente erhalten. In der Schweiz lag 2016 gemäss Progress-Bericht die Anzahl Medikamente bei den Heiminsassen über 65 Jahren bei durchschnittlich 9,3 Medikamenten. Im 2018 veröffentlichten Progress-Datenbericht heisst es, dass die gleichzeitige Einnahme mehrerer Medikamente aufgrund der erhöhten Multimorbidität im Alter «häufig notwendig» sei. Der Bericht hält zudem fest, dass dies das Risiko für unerwünschte Wechselwirkungen erhöhe. Pflegeheimbewohner seien davon deutlich häufiger betroffen als die gleichaltrige allgemeine Bevölkerung. 70,6 Prozent der Teilnehmenden an der Online-Befragung gaben an, dass sich ihre Institution bemühe, die Verwendung von Neuroleptika und/oder Benzodiazepinen zu verringern. Trotzdem gehen rund ein Fünftel der Befragten (21,9 Prozent) davon aus, dass den Heiminsassen mehr Psychopharmaka verabreicht würden als notwendig. Auch hält die Hälfte der Teilnehmenden (51,8 Prozent) fest, dass bei ihren Heiminsassen im Allgemeinen mehr Medikamente verabreicht werden, als dies notwendig sei. Diese Zahlen finden sich im Artikel der «Zeit». Die Online-Umfrage richtete sich allerdings an Pflegedienstleitungen in allen Alters- und Pflegeinstitutionen in der Schweiz. Korrekterweise hätte die Autorin dies ausweisen müssen. Anstatt dessen münzt sie die Statistik auf die Heiminsassen um. Das birgt gewisse Ungenauigkeiten, allerdings in einem noch zulässigen Rahmen. Kaum gestützt ist hingegen die Aussage der Autorin, dass die Heiminsassen in ihrem Heim durch stark sedierende Medikamente ruhiggestellt worden seien. Um ihre Aussage zu belegen, schildert sie das Beispiel einer Frau, die einzig am Besuchstag ihrer Tochter bei Kräften gewesen sein soll. An den anderen Tagen würde sie schlaff im Rollstuhl hängen. Um ihre These zu untermauern, stellt die Autorin keine weiteren Recherchen an und konfrontiert die Heimleitung nicht mit ihrem schweren Verdacht. Somit werden mögliche (krankheitsbedingte) Erklärungen gar nicht erst in Betracht gezogen. Die Autorin stützt sich einzig auf ihre Beobachtung, ohne die Hintergründe der Pflegebedürftigkeit der Frau zu kennen. Das widerspricht der Wahrheitssuche. Somit ist hier Richtlinie 1.1 der «Erklärung» verletzt. Ähnlich verhält es sich mit dem beschriebenen Fall, in dem ein Arzt eine Frau ins Pflegeheim schickte, damit sie für eine OP zu Kräften komme. Gemäss der Autorin verliere sie dort aber nur an Gewicht. Auch schreibt sie, dass die Putzequipe pflegerische Aufgaben übernehme. Das sind allesamt Vorwürfe, mit denen die Heimleitung nicht konfrontiert wurde und von denen nicht klar ist, inwiefern die Autorin deren Wahrheitsgehalt überprüft hat. Auch hier ist somit Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) verletzt.
3. Bezüglich der Rendite von Pflegeheimen liefert die Autorin zwar die durchschnittlichen monatlichen Kosten eines Pflegeaufenthaltes. Welchen Umsatz die Heime darauf basierend aber machen, bleibt unklar. Die Redaktion hält fest, dass die Autorin primär deutlich machen wollte, dass es den Heiminsassen besser gehen würde, wenn die Heime nicht gewinnorientiert arbeiten würden. Gestützt mit dem Verweis auf die Recherche von «Investigative Europe» ist Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) der «Erklärung» diesbezüglich nicht verletzt.
4. Die «Erklärung» hält fest, dass Journalistinnen und Journalisten in ihrer Berichterstattung darauf achten, dass das Publikum zwischen Fakten und kommentierenden Einschätzungen unterscheiden kann. Die Beschwerdeführerin moniert, dass die Autorin in ihrem Artikel Fakten und persönliche Ansichten vermische und dabei die Realität verzerre. Ihre Aussagen seien allgemeingültig eingebettet. Die Redaktion «Zeit» hält entgegen, dass es sich bei dem Artikel um eine Reportage handle. Bei dieser Form seien wertende Aussagen zulässig. Indem die Autorin sehr detailliert ihre Beobachtungen schildert, ist es für den Presserat ersichtlich, welche Passagen sich auf das eigene Erleben stützen. Zudem nennt die Autorin die Quellen für die Hintergründe. Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) der «Erklärung» ist nicht verletzt.
5. Die Beschwerdeführerin moniert, dass die Autorin sich auf einen Bericht des Forschungsprogramms aus dem Jahr 2021 stütze, den es gar nicht gebe. Die «Zeit» verweist hingegen auf die Laufzeit des Forschungsprogramms, das bis 2021 dauerte. Tatsächlich finden sich die verwendeten Angaben in den progress-Berichten aus den Jahren 2018 und 2019. Somit ist der Autorin bei der Jahresangabe zum Bericht ein Fehler unterlaufen. Das ist eine Unzulänglichkeit, welche den Inhalt des Artikels allerdings nicht ändert und welche die Schwelle für eine Rüge nicht überschreitet. Auch hat sie die entsprechenden Passagen durch die Stiftung Patientensicherheit überprüfen lassen und wo nötig Korrekturen angebracht. Eine Recherche, wie jene von «Investigate Europe», eigens nochmals zu überprüfen, wie dies die Beschwerdeführerin fordert, ist nicht leistbar. Dies entspricht auch nicht der Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung). Es geht dabei in erster Linie um die Überprüfung primärer Quellen. Richtlinie 3.1 der «Erklärung» ist somit nicht verletzt.
6. Weiter kritisiert die Beschwerdeführerin die trist anmutenden Illustrationen des Beitrags. Dabei sei bloss eine der beiden Illustrationen als solche beschriftet worden, wenn auch nicht genügend deutlich. Die «Zeit» hält indes fest, die Illustrationen seien lebensnah und hätten einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Inhalt des Artikels. Dieser Argumentation folgt der Presserat. Leserinnen und Leser erkennen sofort, dass es sich um eine symbolhafte Bebilderung handelt. Richtlinie 3.4 (Illustrationen) zur «Erklärung» ist nicht verletzt.
7. Die Beschwerdeführerin kritisiert, dass die Journalistin für den Artikel ihren Beruf verschleiert habe und als verdeckte Ermittlerin aufgetreten sei. Da über die Thematik bereits zur Genüge berichtet worden sei, sei dieses Vorgehen nicht durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt. Die Redaktion hält entgegen, dass die Autorin nicht zwecks einer Recherche vorübergehend in einem Pflegeheim gelebt habe, sondern weil sie zeitweise pflegebedürftig gewesen sei. Erst vor Ort und aufgrund ihrer Erfahrungen sei sie auf die Idee gekommen, einen Artikel über ihren Aufenthalt zu schreiben. Gestützt auf diese Ausführungen handelt es sich für den Presserat nicht im klassischen Sinn um eine verdeckte Recherche, wie Richtlinie 4.2 dies festhält. Es ist als Journalistin zulässig, im Nachhinein über eigene Erfahrungen zu schreiben. Ebenfalls zulässig ist es, den Artikel unter einem Pseudonym zu veröffentlichen, wie dies die Autorin gemacht hat. Insbesondere im Kontext der Gesundheitsversorgung muss dies möglich sein, da sonst Angaben zum Gesundheitszustand der Autorin publik geworden wären. Im Sinne der Transparenz wäre es jedoch wünschenswert gewesen, der Leserschaft gegenüber offen zu legen, dass es sich um ein Pseudonym handelt. Richtlinie 4.2 (Verdeckte Recherchen) der «Erklärung» ist jedoch nicht verletzt.
8. Des Weiteren bemängelt die Beschwerdeführerin, dass die Autorin Pflegende als Menschen anderer Nationalitäten beschreibe, die kaum Deutsch sprechen und einen körperlich nahen Umgang mit den Heiminsassen pflegen würden. Dies gefalle letzteren nicht. Gemäss Beschwerdeführerin verletze diese Beschreibung das Diskriminierungsverbot (Richtlinie 8.2). Dem folgt der Presserat nicht. Es handelt sich nicht um eine Beschreibung, die negative Werturteile verallgemeinert und Vorurteile gegenüber Minderheiten verstärkt. Richtlinie 8.2 (Diskriminierungsverbot) der «Erklärung» ist nicht verletzt.
II. Feststellungen
1. Der Presserat heisst die Beschwerde teilweise gut.
2. Die «Zeit» hat mit dem Artikel «‹Ich will heim!›» die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.
3. In den übrigen Punkten wird die Beschwerde abgewiesen.