I. Sachverhalt
A. Am 23. Februar 2022 veröffentlichte das Newsportal «naufraghi.ch» einen Artikel des freien Journalisten Rocco Bianchi über die Hintergründe rund um den Abriss des ehemaligen Schlachthofs in Lugano, in dem das selbstverwaltete Kulturzentrum Molino untergebracht war. Unter dem Titel: «L’ex macello: i fatti, i reati e le bugie» («Der ehemalige Schlachthof: die Fakten, die Vergehen und die Lügen») berichtet das Portal – als erstes Medium – detailliert über die Einstellungsverfügung des Generalstaatsanwalts Andrea Pagani. Die Verfügung betraf eine Untersuchung, die nach dem Abriss des Kulturzentrums gegen eine Luganeser Stadträtin und den stellvertretenden Kommandanten der Luganeser Polizei angestrengt worden war. Die Einstellungsverfügung erlaubte eine detaillierte Rekonstruktion der Nacht des 29. Mai 2021, in der das Kulturzentrum überraschend geräumt und teilweise abgerissen worden war. Die Aktion stand während vieler Monate im Zentrum der öffentlichen und politischen Debatte im Tessin.
B. Vier Tage später, am 27. Februar 2022, veröffentlichte «La Domenica», die Wochenzeitung des «Corriere del Ticino», eine Seite zum selben Thema mit zwei Artikeln von Andrea Bertagni. Sie trugen die Titel: «Carte da macello: Ecco cosa è successo i giorni prima della demolizione del centro sociale e durante la notte del 29 maggio nella ricostruzione del procuratore generale» («Schlachtzettel: Was in den Tagen vor dem Abriss des Gemeinschaftszentrums und in der Nacht zum 29. Mai gemäss Rekonstruktion der Staatsanwaltschaft geschah» und «Quell’incredibile sbaglio. Botta e risposta tra poliziotti» («Dieser unglaubliche Fehler. Auseinandersetzungen innerhalb der Polizei»). Der Inhalt beider Artikel stützt sich, ähnlich wie bei «naufraghi.ch», auf die Einstellungsverfügung des Generalstaatsanwalts. Die Seite in «La Domenica» wird mit Faksimiles der Verfügung illustriert. Auf die vorherige Veröffentlichung von «naufraghi.ch» weist «La Domenica» nicht hin.
C. Am 28. Februar 2022 veröffentlichte das Newsportal «naufraghi.ch» auf seiner Website einen Beitrag, in dem kritisiert wird, dass die Wochenzeitung des «Corriere del Ticino» «naufraghi.ch» nicht zitiert habe: Es entspräche guter Praxis, die Arbeit anderer anzuerkennen oder zumindest zu erwähnen.
D. Am 18. Februar 2022 strahlte Radiotelevisione svizzera RSI in der TV-Sendung «Il Quotidiano» einen Bericht über die bevorstehenden grossen Sommerveranstaltungen im Tessin aus, die aufgrund eines Bundesbeschlusses erstmals nach der Pandemie wieder uneingeschränkt stattfinden konnten. Im gleichen Bericht wurde darauf hingewiesen, dass das wichtige und historische Luganeser Festival «Estival Jazz» aus finanziellen Gründen und weil ein Sponsor abgesprungen war, vermutlich nicht mehr stattfinden werde. Diese Information wurde zu diesem Zeitpunkt erstmals publik. Der Bericht wurde begleitet von einem Interview mit einem der Festivalorganisatoren, Jacky Marti. Er stellt Überlegungen an, wie das Festival vielleicht gerettet werden könnte.
E. Am 25. Februar 2022 erschien im «Corriere del Ticino» ein Artikel von Mauro Rossi; der Titel: «Nach mehr als 40 Jahren wirft ‹Estival Jazz› das Handtuch». Im Beitrag steht, das Ende des Festivals sei definitiv; es werden dieselben Gründe erwähnt, die eine Woche zuvor auch «Il Quotidiano» genannt hatte. Zudem werden Jacky Marti sowie Roberto Badaracco, Gemeinderat und Leiter des Kulturamts, zitiert; beide äussern den Wunsch, die «Marke ‹Estival Jazz›» zu erhalten, wenn auch in anderer Form. Ein zweiter Artikel mit dem Titel «Ein Abenteuer, das 1979 begann» zeichnet die Geschichte des Festivals nach, welches das Tessin «zu einem grossen internationalen Treffpunkt» gemacht habe.
F. Am 5. Mai 2022 reichte X. beim Schweizer Presserat eine Beschwerde gegen die beiden Artikel der Verlagsgruppe des «Corriere del Ticino» ein. Seiner Meinung nach wurde die Richtlinie 4.7 bezüglich Plagiate verletzt. Obwohl es sich nicht um ein Plagiat im engeren Sinne handle, d.h. um die identische Wiedergabe einer Quelle oder eines Artikels, sei es bezüglich beider Veröffentlichungen unzulässig, den Inhalt von Artikeln zu übernehmen und dabei den Hinweis auf die JournalistInnen, die zuerst darüber berichtet hatten, wegzulassen. Für den Beschwerdeführer handelt es sich um zwei eindeutige Fälle von Unterschlagung von Quellen und um «Ideenklau» ohne vertiefende Analyse oder Mehrwert. Die beiden Autoren des «Corriere del Ticino» und von «La Domenica» hätten sich beim Verfassen ihrer Artikel an «naufraghi.ch» und an «Il Quotidiano» orientiert, ohne auf deren Berichterstattung Bezug zu nehmen, moniert der Beschwerdeführer. Was den Beitrag über die Ereignisse rund um die Räumung des ehemaligen Schlachthofs betreffe, komme erschwerend hinzu, dass der Journalist von «La Domenica» insinuiere, den Primeur selbst aufgedeckt zu haben und als erster über die Verfügung der Staatsanwaltschaft zu berichten. Der strittige Absatz lautet: «Zeitpläne, Entscheidungen, Wahlmöglichkeiten. Sie alle finden sich in der Einstellungsverfügung. Zum ersten Mal. Und sie erzählen die Geschichte fast von Grund auf neu».
G. Am 19. Oktober 2023 nahm die Verlagsgruppe des «Corriere del Ticino» zur Beschwerde Stellung. Sie schreibt, die Beschwerde sei unbegründet. Der erste kritisierte Bericht «carte da macello» rekonstruiere den Sachverhalt anhand der Einstellungsverfügung des Generalstaatsanwalts Andrea Pagani, eine Verfügung, die den Beteiligten im Dezember 2021 zugestellt und in der Folge am 10. Dezember von der Presse im Wesentlichen veröffentlicht worden sei. Es sei daher nicht legitim, von einem Primeur zu sprechen, der von «naufraghi.ch» als erstes Medium publiziert worden sei. Die Nachricht sei bereits vorher bekannt gewesen. Der neue Aspekt, der vom «Corriere del Ticino» veröffentlicht worden sei, läge darin, «wie» der Generalstaatsanwalt zu den Schlussfolgerungen der Einstellungsverfügung gekommen sei. Dieses Dokument habe dem «Corriere» bereits eine Woche vor der Veröffentlichung auf «naufraghi.ch» vorgelegen. Der «Corriere» habe es über seine eigenen Quellen und Kanäle beschafft. Die Redaktion fühle sich nicht verpflichtet, über jede Veröffentlichung von «naufraghi.ch» Bescheid zu wissen, daher sehe sie auch keine Notwendigkeit, auf das Onlinemedium hinzuweisen. Im Artikel werde auch nicht behauptet, es habe sich um einen eigenen Primeur gehandelt.
In Bezug auf die zweite Veröffentlichung über das Festival «Estival Jazz» bestreitet der «Corriere del Ticino», dass es sich um ein Plagiat handelt: Der Stil und die Wortwahl des Journalisten seien anders, zudem habe der «Corriere»-Artikel das definitive Ende des Festivals vermeldet, während «Il Quotidiano» noch über ein mögliches Ende mutmasste: «Wir sehen und verstehen nicht, warum eine unvollständige und daher ungesicherte Aussage gegenüber einer definitiv bestätigten zitiert werden sollte», schreibt der «Corriere». Dies umso mehr, als die RSI-Website am Tag nach der Veröffentlichung des «Corriere»-Artikels die Nachricht von der Schliessung des Festivals ebenfalls veröffentlicht und dabei den «Corriere» zitiert habe [allerdings auch die eigene TV-Sendung «Quotidiano», welche die Schliessung als wahrscheinlich bezeichnet hatte. Anm. Presserat].
H. Der Fall wurde der 1. Kammer des Schweizer Presserats, bestehend aus Susan Boos (Präsidentin), Luca Allidi, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Francesca Luvini und Casper Selg, zugewiesen.
I. Die 1. Kammer hat die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 30. April 2024 sowie auf dem Korrespondenzweg behandelt.
II. Erwägungen
Ziffer 4 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») verlangt, dass keine unlauteren Methoden bei der Beschaffung von Informationen, Fotos, Ton-, Bild- oder Schriftdokumenten angewendet werden dürfen und dass Plagiate zu vermeiden sind. Die Richtlinie 4.7 legt fest, wann es sich um ein Plagiat handelt: «Wer Informationen, Präzisierungen, Kommentare, Analysen und sämtliche anderen Informationsformen von einer Berufskollegin, einem Berufskollegen ohne Quellenangabe in identischer oder anlehnender Weise übernimmt, handelt unlauter gegenüber seinesgleichen.»
Es sind also im Wesentlichen zwei Aspekte zu berücksichtigen: ob es sich bei den beiden ursprünglichen Veröffentlichungen um Informationen bzw. einen Primeur handelt und ob es sich bei den beiden nachfolgenden Veröffentlichungen um eine Übernahme «in identischer oder anlehnender Weise» handelt.
1. Der Fall Ex-Macello (ehemaliger Schlachthof). Was «naufraghi.ch» veröffentlichte, bezieht sich auf ein Dokument des Generalstaatsanwalts und die darin enthaltenen Details. Es stimmt zwar, dass über die Existenz des Dokuments und seine Schlussfolgerungen bereits Monate zuvor in der Presse berichtet worden war, das Newsportal «naufraghi.ch» bringt aber in seinem Artikel eine andere Sicht und vor allem eine detaillierte Rekonstruktion der Geschehnisse der Nacht, in der das Kulturzentrum geräumt und mit dem Abriss begonnen wurde. Die von Rocco Bianchi veröffentlichten Informationen sind relevant und waren vorher nicht bekannt. Die Zeitung «La Domenica» berichtete vier Tage später darüber, allerdings mit eigenen Worten und eigenem Stil, wie der Beschwerdeführer selbst einräumt. Er hält es jedoch für unzulässig, dass sich «La Domenica» eine Nachricht aneignete, die zuerst von anderen publiziert worden war, ohne darauf zu verweisen. Ausgehend von der Definition des Begriffs «Plagiat», wie er vom Presserat verstanden wird, reicht dies aber nicht aus, um einen Verstoss gegen die «Erklärung» festzustellen, obwohl eine Erwähnung des Mediums, das das Thema als erstes aufgegriffen hat, wünschenswert gewesen wäre. Das vom «Corriere del Ticino» vorgebrachte Argument, wonach die Redaktion nicht verpflichtet sei, jede Publikation von «naufraghi.ch» zu kennen, ist für den Presserat kaum glaubwürdig: Das Onlinemedium «naufraghi.ch» wurde 2021 gegründet, es ist zwar neu, aber relevant. Auf der Newssite schreiben vor allem bekannte Tessiner JournalistInnen, die im Ruhestand sind; die «Corriere»-Redaktion kennt das Medium und konsultiert es wie alle anderen relevanten lokale Quellen. Dies umso mehr, als «naufraghi.ch» gerade bei der Berichterstattung über den ehemaligen Schlachthof eine hohe Präsenz zeigte. Es ist aber auch festzuhalten, dass das Thema des ehemaligen Schlachthofs in jenen Monaten in allen Medien präsent war und alle versuchten, durch eigene Quellen neue Aspekte der Geschichte herauszuarbeiten. Es ist daher durchaus möglich, dass die Redaktion von «La Domenica» sich auch um das Dokument des Generalstaatsanwalts bemüht hat und in dessen Besitz war, bevor «naufraghi.ch» darüber schrieb, so wie das die Verlagsgruppe des «Corriere del Ticino» geltend macht. Dass der besagte Artikel vier Tage nach «naufraghi.ch» in «La Domenica» veröffentlicht wurde, kann daher Zufall oder auch ein nicht ganz korrekter «Ideendiebstahl» gewesen sein, was sich für den Presserat nicht beurteilen lässt; insgesamt reicht es wie erwähnt nicht für einen Verstoss gegen die Richtlinie 4.7. Der Beschwerdeführer kritisiert im Weiteren, dass «La Domenica» sich damit brüste, einen Primeur gelandet zu haben, was noch erschwerend wirke. Dieser Argumentation kann der Presserat nicht folgen: In «La Domenica» heisst es, «zum ersten Mal» werde darüber berichtet» – «zum ersten Mal» bezieht sich aber auf den Inhalt der Einstellungsverfügung, worin zum ersten Mal Einzelheiten über die Räumung in der Nacht vom 29. Mai 2021 geschildert werden, und nicht auf die Zeitung, die als erste darüber berichtete.
2. Der Fall «Estival Jazz». Die Nachricht vom möglichen Ende des Festivals, die «Il Quotidiano» veröffentlicht hatte, war richtig und relevant, da es sich um ein Festival handelt, das in der Luganeser und internationalen Musiklandschaft Geschichte geschrieben hat. Dessen Ende wurde nicht als gesichert, sondern als wahrscheinlich bezeichnet, da nach Möglichkeiten gesucht werde, das Festival zu retten. Die Nachricht wurde im Rahmen eines umfassenderen Fernsehberichts über Sommerveranstaltungen veröffentlicht, und zwar an dem Tag, an dem der Bund bekannt gab, dass Veranstaltungen nach zwei Jahren Pandemie erstmals wieder ohne Einschränkungen durchgeführt werden könnten. Der «Corriere del Ticino» berichtete eine Woche später über das «Estival Jazz» und vermeldete das definitive Aus des Festivals. Auch hier sind der Stil und die Wortwahl anders, die Nachricht ist ausführlicher und umfassender als in «Il Quotidiano». Man kann nicht von einer identischen Wiedergabe des Berichts, der eine Woche früher erschienen ist, sprechen. Auch in diesem Fall ist somit nicht von einem Plagiat auszugehen. Aber auch in diesem Fall wäre es eine Geste der Loyalität gewesen, die von anderen Redaktionen geleistete Arbeit zu würdigen. Allerdings gilt das gleiche Argument wie in Erwägung 1: Theoretisch hätte der «Corriere del Ticino» durch eigene Recherchen auf die gleiche oder eine ähnliche Nachricht kommen können.
3. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es guter Praxis entspräche und auch korrekter wäre, dasjenige Medium zu nennen, das eine Nachricht zuerst veröffentlicht hat. Der Presserat sieht jedoch in den beiden Veröffentlichungen kein Plagiat. Das Problem liegt vor allem in der fehlenden Nennung der beiden Vorgängerpublikationen, nicht im Kopieren oder Wiedergeben eines Textes.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. «La Domenica» und der «Corriere del Ticino» haben nicht gegen Ziffer 4 (Plagiat) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.