I. Sachverhalt
A. Am 5. August 2022 veröffentlichte die «Weltwoche» einen Text gezeichnet von Claudio Zanetti unter dem Titel «Beispiel des Kolumnisten Réda El Arbi zeigt: ‹Anti-Hass-Aktivisten› überborden nicht selten im ‹Kampf gegen Rechts› und münden damit im strafrechtlichen Bereich. Auch die vermeintlich richtige Gesinnung hilft dann wenig». Darin stellt der Autor fest, dass sich das Phänomen eines überbordenden, strafrechtlich relevanten «Anti-Hass»-Hasses am Beispiel des Bloggers und Kolumnisten El Arbi festmachen lasse. Dieser verunglimpfe alles, was nicht in sein Denkschema passe. Dagegen sei nun ein Riegel vorgeschoben worden: El Arbi sei in Schaffhausen in fünf Fällen schuldig gesprochen worden. Beispiele für die behaupteten hasserfüllten Injurien nennt der Text nicht – mit dem Argument, dies verbiete der Anstand.
In den Kommentaren zum Online-Text erschienen unter anderem abfällige Äusserungen zu El Arbi wie: «Warum ist er nicht im Iran geblieben? Das Talent zum Mullah hat er augenfällig.» Insbesondere haben sich verschiedene LeserInnen im Detail über El Arbis Privatleben geäussert.
B. Am 12. August 2022 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel ein. Die Beschwerdeführerin erklärt darin, dass sie als Schwester El Arbis durch die Behauptungen in den Kommentaren teilweise selber betroffen sei und macht Verstösse gegen die Richtlinien 2.4, 5.2, 5.3, 7.1, 7.2, 8.1 und 8.2 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Auf Aufforderung des Presserates ergänzte die Beschwerdeführerin ihre Beschwerde am 18. September 2022 und führte die konkret kritisierten Zitatstellen an; zudem machte sie zusätzlich die Verletzung der Richtlinien 1.1, 3.8 und 5.1 geltend.
In der ursprünglichen Beschwerde bezog sich die Beschwerdeführerin ausschliesslich auf die Kommentare, die unter dem Artikel gepostet worden waren. Sie machte geltend, für deren Publikation sei die «Weltwoche» verantwortlich. Diese Kommentare enthielten Diskriminierungen, Verleumdungen, würden das Persönlichkeitsrecht verletzen und enthielten persönliche Informationen sowie den Vorwurf einer Straftat (Erschleichen einer Aufenthaltsgenehmigung). In diesen Kommentaren würden El Arbis Cousine, zwei Tanten und seine Mutter mit Namen genannt. Acht weitere Personen, inklusive die Beschwerdeführerin selber, würden erwähnt, aber nicht namentlich genannt.
All dies verletze die Richtlinien 2.4 im Sinne von «Missbrauch der Kommentarfunktion», 5.2 im Sinne von «Pflicht zur Kontrolle des Schutzes der Persönlichkeitsrechte», 5.3 aufgrund einer «Veröffentlichung von ehrverletzenden und diskriminierenden Kommentaren» sowie Richtlinie 7.1: den Schutz der Privatsphäre im Sinne von «Veröffentlichung von Namen, Zivilstand und falschen Krankengeschichten». Weiter seien Richtlinie 7.2 verletzt im Sinne von «identifizierender Namensnennung unbeteiligter Personen zu deren Nachteil», 8.1 aufgrund einer Verletzung der Menschenwürde und schliesslich 8.2, verstanden als «Indiskretion von schützenswerten Rechten».
Nach Eingang der ursprünglichen Beschwerde forderte der Presserat eine Ergänzung an, weil die Beschwerdeführerin nicht genügend klar aufgezeigt hatte, welche Textstellen gegen welche Bestimmung der «Erklärung» verstossen haben sollen. Die Beschwerdeführerin reichte die Ergänzung am 18. September 2022 nach. Dieses Schreiben enthielt die fraglichen Textstellen, die Beschwerdeführerin weitete aber gleichzeitig die Beschwerde über die LeserInnen-Kommentare hinaus aus und schloss Zanettis redaktionellen Text mit ein.
Insbesondere führte die Beschwerdeführerin im zweiten Schriftsatz an:
Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) sei verletzt, da in der ersten Version von Zanettis Text die Unschuldsvermutung im Zusammenhang mit den beschriebenen Schuldsprüchen nicht erwähnt worden sei. Die Strafbefehle seien zum Zeitpunkt des Artikels nicht rechtskräftig gewesen. Zudem sei der Inhalt des Artikels mehrfach geändert worden, ohne dass dies gekennzeichnet worden sei.
Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) sei verletzt, weil der Text El Arbi strafrechtlich relevantes Verhalten vorgeworfen habe, ihn dazu aber nicht Stellung nehmen liess.
Richtlinie 5.1 sei verletzt, weil der Artikel mehrfach geändert worden sei, ohne dass der Leserschaft transparent gemacht worden sei, wo der Artikel weshalb korrigiert wurde.
Richtlinie 5.3 sei verletzt, weil in den Kommentaren nach dem Online-Artikel anonyme rassistische Kommentare zugelassen worden seien, auch seien dort persönliche Details veröffentlicht worden (Namen, Krankengeschichte, Wohnort, familiäre Verbindungen), welche zahllose falsche Anschuldigungen und Sachverhaltsdarstellungen enthielten. Auf eine Reklamation hin seien entsprechende Kommentare zwar gelöscht worden, aber erst vier Tage nach der Intervention. Die Beschwerdeführerin führt mehrere dieser gelöschten LeserInnen-Kommentare an.
C. Am 10. Oktober teilte der Presserat der Beschwerdeführerin mit, dass er das zweite Schreiben als Ergänzung und nicht als Ersatz des ersten verstehe.
D. Am 25. Oktober bat der Presserat den Chefredaktor der «Weltwoche», Roger Köppel, um eine Stellungnahme zur Beschwerde. Dabei legte er fest, dass die Beschwerde gemäss Geschäftsreglement Art. 17 Abs. 2 reduziert werde auf die wesentlichen Punkte. Das betreffe die Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche), 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen), 5.1 (Berichtigungspflicht), 5.3 (Zeichnung von Leserbriefen und Online-Kommentaren), 7.1 (Schutz der Privatsphäre) und 7.2 (Identifizierung). Die unter 1.1 und 3.8 geltend gemachte Unschuldsvermutung werde im Rahmen der Richtlinie 7.4 (Gerichtsberichterstattung) geprüft. Chefredaktor Köppel beantwortete das Schreiben nicht.
Am 4. November bat der Presserat den Chefredaktor der «Weltwoche» erneut um eine Stellungnahme zur Beschwerde bis zum 7. Dezember 2022. Chefredaktor Köppel beantwortete auch dieses Schreiben nicht.
Am 20. Januar 2023 bat der Presserat Chefredaktor Köppel nochmals um eine Stellungnahme und verlängerte die Frist nochmals bis zum 3. Februar 2023. Chefredaktor Köppel liess auch diese Anfrage unbeantwortet.
E. Am 8. August 2023 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 vom Präsidium bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin behandelt.
F. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 16. Juni 2024 verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. Es lässt sich fragen, inwieweit dabei auf die Ausweitung der Beschwerde auf den Artikel von Zanetti einzugehen ist, welche die Beschwerdeführerin in einem zweiten Schritt vorgenommen hat, als sie eigentlich nur um Belege für die in der ersten Beschwerde kritisierten Leserkommentare gebeten worden war. Da die «Weltwoche» sich zu diesem Punkt nicht äussert und die Beschwerdeführerin die Ergänzung auf Aufforderung des Presserates und diese Ergänzung auch innerhalb der Dreimonatsfrist eingereicht hat, akzeptiert der Presserat die Erweiterung der Beschwerde.
2. Zu Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche): Was die Beanstandung hinsichtlich der Wahrheitssuche betrifft, so ist der Beschwerdeführerin angesichts des Inhalts der zitierten Online-Kommentare zuzustimmen. Sie ist El Arbis Schwester und macht glaubhaft, dass mehrere behauptete Fakten nicht zutreffen. So etwa die Behauptung, konkret bezeichnete, enge Angehörige von El Arbi (und damit auch enge Angehörige der Beschwerdeführerin) seien an Alkoholexzessen gestorben, was nicht der Wahrheit entspreche. Die Beschwerdeführerin führt noch mehrere konkrete Aussagen an, die sich auf Angehörige beziehen und nachweislich falsch seien. Richtlinie 1.1 wurde mit der Publikation dieser unwahren Kommentare klar verletzt. Auf all dies hat die Beschwerdeführerin die Redaktion unverzüglich aufmerksam gemacht. Die Redaktion hat die Kommentare denn auch richtigerweise gelöscht, allerdings erst nach vier Tagen.
Gemäss Richtlinie 5.3 (Zeichnung von Leserbriefen und Onlinekommentaren) können in Ausnahmefällen anonyme Online-Kommentare publiziert werden, doch muss die Redaktion zwingend vor der Publikation kontrollieren, ob die Kommentare ehrverletzende oder diskriminierende Aussagen enthalten. Die genaue Prüfung der anonymen Zuschriften wurde im vorliegenden Fall offensichtlich nicht vorgenommen. Die oben erwähnten falschen Äusserungen waren gezeichnet mit «jolly roger» oder «Griti Baenz». Die «Weltwoche» hatte der Beschwerdeführerin mitgeteilt, sie habe eine externe Stelle mit der Kontrolle der Kommentare beauftragt und diese habe ihre Aufgabe nicht korrekt erfüllt. Das mag so sein, ändert aber nichts daran, dass die redaktionelle Verantwortung für die Veröffentlichung der Online-Kommentare bei der «Weltwoche» liegt. Die Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche) und 5.3 (Zeichnung von Leserbriefen und Onlinekommentaren) wurden mit der Publikation der fraglichen Kommentare verletzt.
Richtlinie 5.1 (Berichtigungspflicht) schreibt vor, dass Fehler von der Redaktion «unverzüglich und von sich aus» korrigiert werden müssen. Die Beschwerdeführerin weist darauf hin, dass aufgrund ihrer Intervention zwar Kommentare gestrichen worden seien, dass dies aber erst nach vier Tagen erfolgte und ohne jeden Hinweis auf die Korrektur. Die «Weltwoche» nimmt auch hierzu keine Stellung. Die erfolgte Korrektur ist erwiesen, deren Zeitpunkt ist nicht feststellbar. Der Presserat sieht keinen Grund, an der Darstellung der Beschwerdeführerin zu zweifeln, dass erst nach vier Tagen reagiert wurde. Damit ist der Anforderung «unverzüglich» nicht Genüge getan, Richtlinie 5.1 wurde verletzt.
3. Unter Richtlinie 7.2 (Identifizierung) ist zu prüfen, ob die Kommentare zum Artikel Persönlichkeitsverletzungen gegenüber Herrn El Arbi und weiteren Betroffenen beinhalten. Wo Kommentare von El Arbi kritisiert werden, auch scharf kritisiert werden, fällt dies unter die Bestimmung von Richtlinie 5.2 (Onlinekommentare): «Der Meinungsfreiheit ist aber gerade auf der Leserbriefseite ein grösstmöglicher Freiraum zuzugestehen, weshalb die Redaktion nur bei offensichtlichen Verletzungen der ‹Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten› einzugreifen hat.» Wo jedoch Details aus dem Privatleben publiziert werden, welche in keinem Zusammenhang mit dem besprochenen Artikel stehen, ist gemäss Richtlinie 7.2, oder allgemeiner unter Ziffer 7 der «Erklärung» zu prüfen, ob sie gerechtfertigt sind. Ziffer 7 besagt: «Sie (die Journalisten und Journalistinnen) respektieren die Privatsphäre der einzelnen Personen, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Sie unterlassen anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen.» Diese Regel gilt auch für die von der Redaktion zu verantwortenden Onlinekommentare.
Was Réda El Arbi betrifft, so sind Äusserungen über seine Jugendzeit, ob wahr oder unwahr, im vorliegenden Zusammenhang sicher nicht von öffentlichem Interesse – womit seine Privatsphäre und somit Ziffer 7 der «Erklärung» und Richtlinie 7.2 (Identifizierung) verletzt wurden. Dasselbe gilt für zahlreiche Äusserungen über identifizierte und identifizierbare Verwandte von El Arbi. Es sind Äusserungen über das Privatleben von Personen, welche in keinem Zusammenhang stehen mit der im Artikel diskutierten Person. Ob diese Angaben stimmen oder – wie im vorliegenden Fall – meist nicht stimmen, spielt dabei keine Rolle. Es wird das zu schützende Privatleben von Personen an die Öffentlichkeit gezerrt. Wenn es dann auch noch unwahr sein sollte, macht dies den Bruch der Privatsphäre – zusätzlich zum Verstoss gegen die Wahrheitspflicht – noch gravierender. Die Richtlinie 7.2 (Identifizierung) und insbesondere die Ziffer 7 der «Erklärung» insgesamt sind durch die Publikation der fraglichen Kommentare verletzt.
4. Zur Richtlinie 7.4 (Gerichtsberichterstattung; Unschuldsvermutung und Resozialisierung): Die Beschwerdeführerin macht weiter geltend, der kritisierte El Arbi hätte zum Vorwurf, vor Strafgericht in Schaffhausen fünfmal wegen Verbreitung von Hass verurteilt worden zu sein, angehört werden müssen. Damit sei Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) verletzt. Wie bereits im Schreiben an Chefredaktor Köppel vom 25. Oktober 2022 / 4. November 2022 erläutert, beurteilt der Presserat diesen Vorwurf unter der Richtlinie 7.4 (Unschuldsvermutung bei der Gerichtsberichterstattung). Diese Richtlinie unterstreicht die Notwendigkeit von Zurückhaltung in der Gerichtsberichterstattung, insbesondere was die Individualisierung von Betroffenen angeht. Dies ist im vorliegenden Fall nicht von Belang, jedenfalls nicht, wo es um die kommentierenden Äusserungen von El Arbi geht. Er sucht mit seinen Kommentaren selber oft Zugang zur Öffentlichkeit. Das heisst aber nicht, dass nicht doch mögliche Verletzungen seiner Privatsphäre zu beurteilen sind (siehe oben: zu Richtlinie 7.2). Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Richtlinie 3.9 (Anhörung bei schweren Vorwürfen – Ausnahmen) für den Fall von Gerichtsverfahren festlegt, dass Urteile zitiert werden dürfen, ohne dass die beschuldigte Person dazu befragt werden muss. Allerdings war das betreffende Urteil noch nicht rechtskräftig, was in der ersten publizierten Version des Beitrags nicht erwähnt ist. Zwei Tage, nachdem der Artikel online publiziert wurde (und einen Tag nach dem Erscheinen der Printversion), ergänzte die Redaktion den Satz, alle Anklagen hätten mit einem Schuldspruch geendet, mit dem Zusatz: «bis diese rechtskräftig sind, gilt die Unschuldsvermutung». Die ursprünglich publizierte Version verletzt somit die Unschuldsvermutung und damit Richtline 7.4 (Gerichtsberichterstattung; Unschuldsvermutung und Resozialisierung). Damit hat die «Weltwoche» in diesem Punkt zusätzlich Richtlinie 5.1 (Berichtigungspflicht) verletzt.
5. Die von der Beschwerdeführerin angerufene Richtlinie 7.1 (Schutz der Privatsphäre) betrifft in erster Linie Ton- und Bildaufnahmen und ist durch die festgestellte Verletzung der Ziffer 7 der «Erklärung» konsumiert.
III. Feststellungen
1. Der Presserat heisst die Beschwerde gut.
2. Die «Weltwoche» hat mit der Publikation einer Reihe von Onlinekommentaren die Ziffern 1 (Wahrheit), 5 (Berichtigung) und 7 (Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.