I. Sachverhalt
A. Am 14. Juli 2023 erschien auf der Website von «20min.ch» ein Text unter dem Titel «Schwerer Verkehrsunfall wegen Klimakleber-Blockade in Nürnberg: 31-Jähriger schwer verletzt». «20 Minuten» stellte den Wortlaut des Titels auch auf seinen Twitter-Account. Dazu erschien der Online-Artikel unter der Schlagzeile «Wegen Klima-Blockade – Autofahrer (31) baut Unfall – schwer verletzt».
B. Am 16. Juli 2023 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Sie macht geltend, die Artikel verletzten die Ziffern 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») sowie die Richtlinie 5.3 (Zeichnung von Leserbriefen) zur «Erklärung».
Die Beschwerdeführerin begründet den behaupteten Verstoss gegen die Wahrheitspflicht damit, dass die Schlagzeilen den falschen Eindruck erweckt hätten, die Angehörigen der Klimabewegung seien «unweigerlich verantwortlich für den entstandenen schweren Unfall». Da es sich aber um einen Auffahrunfall gehandelt habe, bestehe kein Zusammenhang zwischen Stauursache und Unfall. Es sei davon auszugehen, dass es durch die Unaufmerksamkeit des Fahrzeuglenkers zum Unfall gekommen sei. Dies belegt die Beschwerdeführerin mit entsprechenden Beschreibungen in zwei Publikationen («Blue News» und «t-online»). Auf dem deutschen «t-online» werde zudem ein Polizeisprecher zitiert, der davon ausgehe, dass zwischen Blockade und Unfall kein Zusammenhang bestehe. Im alltäglichen Leben werde, so die Beschwerdeführerin weiter, bei vergleichbaren Ereignissen die Schuld nie einem Stauverursachenden auferlegt. Es gehe hier darum, die Angehörigen der Klimabewegung zu diffamieren.
Im späteren Verlauf des Tages sei der Titel des Online-Artikels aktualisiert worden zu «Stau wegen Klima-Blockade – Autofahrer baut schweren Unfall», allerdings ohne redaktionellen Hinweis auf die Änderung und ohne Entschuldigung. Jedoch habe der Titel-Tag des Online-Artikels unverändert geheissen «Letzte Generation: Wegen Klima-Blockade – Autofahrer baut Unfall». Der Twitter-Beitrag sei ebenfalls nicht modifiziert worden.
Einen Verstoss gegen die Richtlinie 5.3 (Zeichnung von Online-Kommentaren) sieht die Beschwerdeführerin darin begründet, dass die Redaktion nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, bestimmte Kommentare auszublenden. Zwar könne die Redaktion Online-Kommentare auf «X» (ehemals Twitter) nicht vorgängig zu deren Aufschaltung prüfen, aber sie könne ehrverletzende oder diskriminierende Kommentare ausblenden. So aber seien zahlreiche Gewaltaufrufe gegen Angehörige der Klimabewegung unkommentiert stehen geblieben. Dadurch lasse «20 Minuten» eine erkennbar gefährliche Radikalisierung zu, bis hin zu Gewaltfantasien gegenüber den Angehörigen der Klimabewegung «Letzte Generation».
C. Mit Beschwerdeantwort vom 5. Oktober 2023 beantragte die Rechtsabteilung der TX Group, zu welcher «20 Minuten» gehört, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Eventualiter sei sie abzuweisen. Den Antrag auf Nichteintreten begründet die Redaktion nicht. Den Vorwurf einer Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») weist «20min.ch» zurück. Es bestehe zwar in der Tat kein «adäquater Kausalzusammenhang» im juristischen Sinne [d.h., die konkreten Folgen der Handlung waren für die Verursacher nicht absehbar; der Presserat] zwischen dem Verursachen eines Staus und einem anschliessenden Verkehrsunfall. Aber es bestehe sehr wohl ein «natürlicher Kausalzusammenhang» in dem Sinne, dass der Unfall ohne die Klima-Blockade nicht hätte stattfinden können. Insofern sei die Wahrheitspflicht nicht verletzt. Das Risiko von Auffahrunfällen erhöhe sich, wenn man einen Stau verursache. Auch sei die Frage, ob der Lenker des auffahrenden Unfallfahrzeugs unaufmerksam gewesen sei und damit die Hauptursache gesetzt habe für die Titelsetzung nicht entscheidend. Es bestehe dennoch ein Kausalzusammenhang. Das Argument der Beschwerdeführerin, wonach bei keinem Stau-Unfall gefragt werde, wer den Stau verursacht habe, lehnt «20 Minuten» ab. Das vorsätzliche Blockieren lasse sich nicht gleichsetzen mit einem zufällig entstehenden Stau. Vorsätzlich einen Stau zu verursachen sei rechtswidrig und könne zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich ziehen. Weiter argumentiert die Redaktion: «Wenn aber ein Stauende-Unfall und die Stauursache nicht mehr ursächlich zu verknüpfen wären, dann dürfte man auch Restaurants nicht mehr zum Bau von Toiletten verpflichten.»
Dass die Polizei nicht von einer Verantwortung der Klimakleber für den Unfall ausgegangen sei, treffe im Weiteren nicht zu: Dass sie Ermittlungen wegen eines gefährlichen Eingriffs in den Strassenverkehr aufgenommen hat, belege das Gegenteil. Dass mit der fraglichen Schlagzeile ein unsachliches «Framing» des Geschehenen gegen die KlimakleberInnen erfolgt sei, bestreitet «20 Minuten» mit dem Argument, die Blockade sei derjenige Aspekt dieses Vorfalls, der die meisten Menschen interessiere, was im Übrigen auch der Absicht der AktivistInnen entspreche. Und dass Titel wie dieser im Lauf der Zeit bisweilen verändert würden, sei üblich – etwa um die Auffindbarkeit über Suchmaschinen zu verbessern – und könne nicht mit einem Eingeständnis, die Wahrheitspflicht verletzt zu haben, gleichgesetzt werden.
Was die behauptete Verletzung der Richtlinie 5.3, die Moderation von Online-Kommentaren betrifft, sei es nicht möglich, Kommentare auf «X» (früher «Twitter») im Vorneherein zu sichten. Man könne allenfalls einzelne Beiträge verbergen, diese seien dann aber immer noch auffindbar. «20 Minuten» müsse sich auf den Prozess der Plattform «X» verlassen, welche potenziell justiziable Kommentare entfernen müsste. Im Übrigen unterlägen laut Praxis des Presserates (Stellungnahmen 37/2015, 16/2016) Kommentare auf Foren wie «X» nicht den gleichen Kriterien wie Kommentare auf der eigenen Medienwebsite. Richtlinie 5.3 (Zeichnung von Online-Kommentaren) decke den Bereich «X» nicht ab. Es finde auf «X» auch nicht, wie behauptet, eine Radikalisierung und Förderung von Gewaltfantasien statt, es bestehe einfach Raum für einen wichtigen öffentlichen Diskurs über die Zulässigkeit von Klima-Aktionen. Diese Meinungsäusserungen dürften nicht ohne Not eingeschränkt werden. Hinzu komme, dass die Beschwerdeführerin keine konkreten Textstellen nenne, die ehrverletzend oder diskriminierend seien, wie dies erforderlich wäre.
D. Gestützt auf Art. 13 Abs. 1 des Geschäftsreglements des Presserats behandelt das Präsidium des Presserats Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder die von untergeordneter Bedeutung erscheinen.
E. Am 9. Februar 2024 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.
F. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 27. Mai 2024 verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. «20 Minuten» hat keine Begründung für seinen Antrag auf Nichteintreten vorgebracht.
2. Wahrheit: Zum einen ist es zutreffend – wie von der Beschwerdeführerin moniert –, dass die Formulierung «Schwerer Verkehrsunfall wegen Klimakleber-Blockade in Nürnberg: 31-Jähriger schwer verletzt» einen direkten Kausalzusammenhang herstellt zwischen der Blockade und dem Unfall mit der schweren Verletzung, während die Hauptursache für den Unfall wohl darin bestanden hat, dass der Autofahrer unaufmerksam war und heftig in einen das Stauende bildenden Lastwagen fuhr. Die Redaktion «20 Minuten» konzediert denn auch, dass von einem «adäquaten» Kausalzusammenhang zwischen Klima-Blockade und Unfall im juristischen Sinne nicht gesprochen werden könne. Nur fügt sie an, dass ein «natürlicher Kausalzusammenhang» sehr wohl bestehe. Dieses Verständnis von Ursache und Wirkung beinhalte sämtliche Faktoren, die zu einem Ereignis beigetragen hätten. Hier also: Ohne den von Klimaklebern verursachten Stau wäre der Unfall in dieser Form nicht passiert.
Der Presserat ist nicht an diese juristische Unterscheidung gebunden, er geht davon aus, dass die Blockade zwar ein erheblicher Faktor für das Zustandekommen des Unfalls gewesen sein dürfte, aber wohl nicht die Hauptursache. Dies würde im konkreten Fall eher für eine Verletzung der Wahrheitspflicht bei den beiden kritisierten Schlagzeilen sprechen («wegen Klimakleber-Blockade»). Umgekehrt fällt ins Gewicht, dass im Artikel gleich anschliessend an den Titel das Foto zu sehen ist, welches zeigt, wie massiv der Autofahrer mit seinem Wagen unter einem Lastwagen verkeilt ist, mit der Unterschrift: «Wegen Klima-Blockade – Autofahrer (31) baut Unfall – schwer verletzt». Diese Ergänzungen gleich anschliessend an die Schlagzeile relativieren die Aussage des Titels teilweise. Das Ereignis erscheint in Teilen als Folge des Verhaltens des Automobilisten (massiv verkeiltes Auto, «Autofahrer baut Unfall»). Aufgrund dieser Relativierung in Kombination mit dem Umstand, dass die Blockade doch ein erheblicher Faktor für den Unfall war, geht der Presserat davon aus, dass die Wahrheitspflicht knapp nicht verletzt wurde. Gleiches gilt insbesondere auch für den gleichentags geänderten Titel: «Wegen Klima-Blockade – Autofahrer baut Unfall». Und dasselbe gilt schliesslich ebenso für die Information auf «X»: Deren zugespitzter Titel wird auch dort durch Bild und Bildlegende etwas relativiert. Der Automobilist ist in dieser Darstellung (Bild und -legende) mit-ursächlich.
Die Pflicht, sich an die Wahrheit zu halten (Ziffer 1 der «Erklärung») ist insgesamt knapp nicht verletzt.
3. Die Beschwerdeführerin kritisiert in diesem Zusammenhang, dass «20min.ch» die gleichentags erfolgte Korrektur des Titels nicht kenntlich gemacht habe. Hier ist unter den Parteien strittig, ob es sich um eine reine Umformulierung handelte, welche nicht als Korrektur zu gelten habe, wie «20min.ch» behauptet, oder ob es sich eher um eine inhaltliche Korrektur handelt, welche gemäss der Praxis des Presserates hätte kenntlich gemacht werden müssen.
Wo – wie oben festgestellt – kein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht vorliegt, ist konsequenterweise auch keine Berichtigung geboten, entsprechend entfallen auch die Anforderungen der «Erklärung» an eine Berichtigung. Der Presserat erinnert aber ausdrücklich an seinen Grundsatzentscheid 29/2011, welcher verlangt, dass inhaltliche Berichtigungen als solche kenntlich gemacht werden müssen. Im Interesse der Transparenz wäre es wünschbar, dies auch in Grenzfällen wie dem vorliegenden so zu handhaben.
4. Online-Kommentare: Die Beschwerdeführerin sieht in den teilweise emotionalen Kommentaren, welche die Meldung auf «X» ausgelöst hat, die Richtlinie 5.3 (Zeichnung von Online-Kommentaren) verletzt, welche verlangt, dass Leserbriefe und Online-Kommentare mit Namen zu zeichnen seien. Betroffen ist aber vor allem die Richtlinie 5.2 (Leserbriefe und Online-Kommentare), welche die Verantwortlichkeit für Inhalte in den entsprechenden Foren regelt. Die Beschwerdeführerin legt der Beschwerde elf Seiten «X»-Kommentare bei, in denen sie «Gewaltaufrufe», «Radikalisierung», «Gewaltfantasien gegenüber Angehörigen der Klimabewegung» erkennt. Sie benennt aber nicht die einzelnen Kommentare, welche sie damit meint, wie Art. 9 des Geschäftsreglements dies erfordert (so etwa Stellungnahme 20/2021). Entsprechend kann der Presserat auf diesen Beschwerdepunkt nicht eintreten.
III. Feststellungen
1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.
2. «20min.ch» hat mit dem Titel «Schwerer Verkehrsunfall wegen Klimakleber-Blockade in Nürnberg: 31-Jähriger schwer verletzt» vom 14. Juli 2023 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 5 (Online-Kommentare) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.