Zusammenfassung
Die NZZ hat mit einem Artikel unter dem Titel «Der grosse Gedächtnis-Streit» und dem Untertitel «Dürfen Therapeuten allen Erinnerungen ihrer Patientinnen glauben? In der Psychiatrie kursiert eine Verschwörungstheorie» den Journalistenkodex nicht verletzt. Der Artikel beinhaltete eine sehr ausführliche Auseinandersetzung mit dem komplexen Krankheitsbild der «dissoziativen Identitätsstörung» und dem wissenschaftlichen Streit über deren Ursachen und Folgen. VertreterInnen einer bestimmten Theorie zu diesem Thema haben Beschwerde gegen den Text erhoben. Der Presserat kam zum Schluss, dass die NZZ weder das Wahrheitsgebot verletzt hat noch das Gebot der Trennung von Fakten und Kommentar und ebenso wenig die Privatsphäre der Patientin, die als Beispiel für die Problematik beschrieben wurde. Allerdings erinnerte der Presserat in seinem Entscheid an die sehr strengen Voraussetzungen für eine Publikation von höchst persönlichen Daten. Und er wies einmal mehr darauf hin, dass es nicht seine Aufgabe sein kann, über strittige komplexe Sachverhalte zu entscheiden; er beurteilt lediglich, ob ein Text den Vorgaben des Journalistenkodex entspricht.
Résumé
La NZZ n’a pas enfreint le code de déontologie en publiant son article intitulé « Der grosse Gedächtnis-Streit » (La guerre de la mémoire) et accompagné du sous-titre « Dürfen Therapeuten allen Erinnerungen ihrer Patientinnen glauben? In der Psychiatrie kursiert eine Verschwörungstheorie » (Les thérapeutes peuvent-ils croire tous les souvenirs de leurs patients ? Une théorie du complot circule dans le milieu de la psychiatrie). Celui-ci exposait de manière très détaillée les caractéristiques d’une maladie complexe, le trouble dissociatif de l’identité, et faisait état des différents avis scientifiques relatifs à ses causes et ses conséquences. Les tenants d’une théorie spécifique ont déposé une plainte à propos de cet article auprès du Conseil suisse de la presse, lequel a conclu que la NZZ n’avait pas contrevenu au principe de recherche de la vérité, ni à celui de la distinction entre l’information et les appréciations, et qu’elle avait encore moins porté atteinte à la sphère privée de la patiente qui a servi d’exemple pour illustrer la problématique. Dans sa prise de position, le Conseil suisse de la presse a rappelé les exigences très strictes encadrant la publication de données hautement personnelles. Enfin, il a rappelé une nouvelle fois qu’il ne lui revenait pas de trancher des états de fait litigieux complexes, mais seulement de déterminer si un texte correspond aux prescriptions du code de déontologie des journalistes.
Riassunto
La NZZ non ha violato il codice deontologico dei giornalisti con l’articolo intitolato «Der grosse Gedächtnis-Streit» (La grande controversia sulla memoria) e sottotitolato «Dürfen Therapeuten allen Erinnerungen ihrer Patientinnen glauben? In der Psychiatrie kursiert eine Verschwörungstheorie». (I terapeuti devono credere a tutti i ricordi dei pazienti? In psichiatria circola una teoria del complotto). L’articolo conteneva un’argomentazione molto dettagliata del complesso quadro clinico riguardante il «disturbo dissociativo dell’identità» e della controversia scientifica sulle sue cause e le sue conseguenze. I appresentanti di una determinata teoria riguardo a questo tema, hanno presentato un reclamo contro l’articolo. Il Consiglio della stampa è giunto alla conclusione che la NZZ non ha violato né il dovere del rispetto della verità, né quello della separazione tra fatti e commenti, né la sfera privata della paziente descritta come esempio di questa problematica. Nella sua decisione il Consiglio della stampa ha tuttavia ricordato i severi requisiti per la pubblicazione di dati altamente personali. E ha sottolineato una volta ancora che il suo compito non è decidere di questioni controverse, ma solo stabilire se un testo è conforme alle direttive del codice deontologico dei giornalisti.
I. Sachverhalt
A. Am 21. Mai 2022 erschien im «Wochenende»-Teil der «NZZ» ein sehr ausführlicher Text von Reto U. Schneider und Aline Wanner unter dem Titel «Der grosse Gedächtnisstreit». Der Untertitel lautete: «Dürfen Therapeuten allen Erinnerungen ihrer Patientinnen glauben? In der Psychiatrie kursiert eine Verschwörungstheorie.»
Der Artikel befasst sich mit der «Dissoziativen Identitätsstörung», einem Krankheitszustand, in welchem zwei oder mehrere Persönlichkeiten in derselben Person alternieren. Bei der Diagnose und Therapie dieses schweren Krankheitszustandes stehen sich in der Wissenschaft – laut dem Artikel – zwei unversöhnliche Lager gegenüber. Diejenigen, welche davon ausgehen, dass diese Störung nur als Folge schwerer Traumata entstehe und diejenigen, welche dies bezweifeln und davon ausgehen, dass Erinnerungen beeinflussbar sind, die Störung entsprechend nicht zwingend auf ein Trauma zurückzuführen sein müsse. Besonders heftig werde die Debatte geführt, wenn es um den Spezialfall der «dissoziativen Amnesie» gehe, bei dieser komme hinzu, dass ein allenfalls vorübergehender Verlust des Erinnerungsvermögens eintrete. Hier gehe das eine Lager davon aus, dass man nach dem Trauma suchen müsse, das die Krankheit ausgelöst habe, während die Gegenseite die Gefahr sehe, dass das Suchen nach dem Trauma Erinnerungen an Ereignisse produzieren könne, die es in Realität nie gegeben habe. Es wird schliesslich auf einen gefährlichen Spezialfall hingewiesen, der im Zusammenhang mit der «dissoziativen Amnesie» diskutiert wird, nämlich «Mind Control». Dahinter stehe die Idee, so die AutorInnen, «Täter seien in der Lage, das Verhalten ihrer Opfer zu steuern». Die Therapeuten, die dieser Idee anhingen, gingen davon aus, gewisse Täterkreise seien in der Lage, das Erinnerungsvermögen bei einem Gewaltopfer gezielt auszuschalten. Diese Theorie sei besonders Mitte der 1990er Jahren stark verbreitet gewesen. Unter dem Begriff «Satanic Panic» sei sie von WissenschaftlerInnen längst als Hysterie diskreditiert worden. In jüngster Zeit tauche sie aber wieder auf. Der Artikel beginnt mit dem Fall einer jungen Frau, der die Problematik illustrieren soll. In der Therapie soll sie sich an satanistische Rituale erinnert haben. Gemäss ihrer Erinnerung, war sie während einer Zeremonie zugegen und zuschauen musste, wie auf einem Altar Tiere geschlachtet und ihr Blut in einem Kelch aufgefangen wurde oder wie eine Person ein Baby getötet hatte. Die junge Frau erinnerte sie sich auch, dass ihr Vater sie missbraucht habe. Die Mutter der jungen Frau erzählt, dies habe zu einem Strafverfahren gegen den Vater geführt, das aber am Ende mangels Beweise eingestellt worden sei. Abschliessend zeigt der Artikel auf, dass TherapeutInnen – vor allem wenn es um Gewalt gegen Frauen geht – in jüngster Zeit wieder vermehrt auf Erinnerungen abstellen. Das Leiden der Patientinnen sei real, für die TherapeutInnen sei nicht relevant, ob die Erinnerung wahr sei. Therapie und Rechtsstaat seien zwei Welten, in denen unterschiedliche Regel gelten würden, schreiben die Beiden AutorInnen: «Sobald nach Jahrzehnten wiedererlangte Erinnerungen an einen Missbrauch den Raum der Therapie verlassen und an die Öffentlichkeit gelangen oder zu einem Prozess führen, leiden nicht mehr nur die Betroffenen selbst, sondern auch die Beschuldigten. Dann können Erinnerungen Existenzen vernichten. Dann ist noch entscheidender, ob sie wahr sind oder nicht.» Letztlich gehe es um die gesellschaftlich relevante Frage, wie wir mit der Erinnerung und ihrer Unzulänglichkeit umgingen.
B. Am 15. August 2022 reichten X. und drei weitere Personen Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Die Beschwerdeführenden (im Folgenden: BF) machen geltend, der Artikel verletze die Ziffern 1 und Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»), weiter Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), Richtlinie 3.8 (Anhören bei schweren Vorwürfen), Richtlinie 7.3 (Kinder), 7.7 (Sexualdelikte) 7.8 (Notsituationen, Krankheit, Krieg und Konflikte) und Richtlinie 8.1 (Achtung der Menschenwürde).
C. Mit Beschwerdeantwort vom 15. November 2022 beantragte die «NZZ», (Beschwerdegegnerin, im Folgenden: BG) vertreten durch den Rechtsdienst und einen Autor des Beitrages, die Beschwerde sei vollumfänglich abzuweisen soweit darauf einzutreten sei.
Angesichts der Länge des Artikels (über 38’000 Zeichen) und der Fülle von zur Diskussion gestellten Sachverhalten (auf 8 Seiten) und Quellen verzichtet der Presserat darauf, die beiden Argumentationen wie üblich an dieser Stelle je einzeln zusammenzufassen. Vielmehr werden diese im Rahmen der Erwägungen unter II jeweils Punkt für Punkt kurz skizziert.
D. Am 17. Februar 2023 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde der 3. Kammer zur Behandlung übertragen, die sich wie folgt zusammensetzt: Jan Grüebler (Kammerpräsident), Annika Bangerter, Monika Dommann, Simone Rau, Pascal Tischhauser und Hilary von Arx (Kammermitglieder). Christina Neuhaus trat in den Ausstand.
E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 6. März 2023 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. Die Beschwerdegegnerin NZZ gibt keine Begründung für ihren Vorbehalt «soweit darauf einzutreten ist».
2. Eine Vorbemerkung als Basis der folgenden Beurteilungen:
Der Presserat ist weder befugt noch in der Lage, wissenschaftliche Streitfragen zu klären. Die Frage, welche Ursachen zu dissoziativen Identitätsstörungen führen oder ob diese in einer wissenschaftlichen Abhandlung korrekt beschrieben sind, entzieht sich seiner Kenntnis und seiner Bestimmung. Was der Presserat beurteilt, ist einzig, ob die Leitlinien der «Erklärung» in der journalistischen Behandlung einer Materie befolgt wurden, oder nicht.
3. Die BeschwerdeführerInnen sehen die Pflicht zur Wahrheitssuche (Ziffer 1 und Richtlinie 1.1 zur «Erklärung) in verschiedenen Punkten verletzt.
– Die NZZ bezeichne die traumabedingte dissoziative Identitätsstörung fälschlicherweise als «eine der umstrittensten und faszinierendsten Diagnosen», und stütze sich dabei auf eine veraltete Quelle (DSM-5, 2013), anstatt auf eine zusätzlich von der WHO 2019 erstellte Liste ICD-11 hinzuweisen, welche einen wissenschaftlichen Konsens gestützt auf Informationen tausender Experten belege.
Die NZZ nennt demgegenüber in ihrer Beschwerdeantwort eine grössere Anzahl von wissenschaftlichen Quellen, welche von dem von den BF behaupteten universellen Konsens abweichen. Sie macht weiter geltend, sie behaupte nicht, dissoziative Identitätsstörungen seien nie auf Traumata zurückzuführen. Bestritten sei jedoch sehr wohl, dass sie nur darauf zurückzuführen seien.
Der Presserat geht im Ergebnis davon aus, dass es gemäss den vorliegenden Quellenangaben eine ganze Reihe von Stimmen in der Wissenschaft gibt, welche in Frage stellen, dass die Störung nur auf Traumata zurückzuführen sei. Der Ausdruck «umstritten» enthält demgemäss eine belegte Aussage. Welche von den verschiedenen Stimmen schliesslich inhaltlich oder quantitativ recht behält, kann der Presserat nicht beurteilen. Und die Charakterisierung «faszinierend» ist angesichts der beidseitigen Schilderungen einer äusserst komplexen und für Laien erstaunlichen Erkrankung eine legitime journalistische Qualifikation. In diesem Punkt ist kein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht ersichtlich.
– Die BeschwerdeführerInnen kritisieren, es sei wahrheitswidrig, wenn die NZZ Folgendes feststelle: Die zentrale Frage bleibe, was die Ursache sei für eine dissoziative Identitätsstörung. Wenn man davon ausgehe, dass immer ein Trauma dahinterstecke, werde man zur Heilung immer nach diesem Trauma suchen, das sei aber gefährlich, es könne dazu führen, dass ein Missbrauch gefunden werde, wo keiner stattgefunden habe. Damit stelle – so die BF – die NZZ wissenschaftliche Erkenntnisse in Frage. Hierzu werden wissenschaftliche Quellen zitiert.
Die NZZ erwidert, die von den BF angeführten Quellen unterstützten die Thesen der BeschwerdeführerInnen nur tendenziell, nicht absolut. Vor allem aber gebe es zahlreiche andere wissenschaftliche Quellen, die der gegenteiligen Auffassung seien, dass nämlich die Ursache für die dissoziative Identitätsstörung nach wie vor mindestens unklar sei. Auch hierzu werden wissenschaftliche Arbeiten verschiedener AutorInnen zitiert.
Für den Presserat steht hier Aussage gegen Aussage. Die sehr eindeutige Haltung der BeschwerdeführerInnen (nur traumabedingt) in dieser Frage erscheint jedenfalls aufgrund der dem Presserat vorliegenden Akten nicht, wie behauptet, als wissenschaftlicher «Konsens».
– In diesem Zusammenhang steht der Vorwurf der BeschwerdeführerInnen, der Autor und die Autorin hätten ohne fundierte Literaturrecherche und ohne fachliche Kompetenz gearbeitet, was ebenfalls als Verstoss gegen die Wahrheitssuche gewertet wird. Angesichts der reinen Zahl von Quellen, welche im Artikel und in der Beschwerdeantwort vorgelegt werden, ist der Vorwurf der fehlenden Literaturrecherche nicht haltbar. Die fachliche Kompetenz, respektive die hier behauptete Inkompetenz einzelner Parteien kann und soll der Presserat nicht beurteilen.
– Einen weiteren Verstoss gegen die Pflicht zur Wahrheitssuche sehen die BeschwerdeführerInnen in der Formulierung der «längst diskreditierten Idee der unterdrückten Erinnerungen aus den 1990er Jahren», sowie darin, dass die NZZ behaupte, die Auseinandersetzung werde ungewohnt ruppig geführt, ohne zu belegen, auf welche Fachzeitschriften sie sich beziehe. Es werden in diesem Zusammenhang seitens der BeschwerdeführerInnen Textstellen zitiert, welche zeigten, dass die Autorenschaft des Artikels sich nicht genügend in die Thematik eingelesen habe.
Die NZZ erwidert, auch hier gebe es kein Schwarz oder Weiss, wie die BeschwerdeführerInnen dies sähen. Sie verweist auf Texte, die ihrerseits auf über ein halbes Dutzend AutorInnen verweisen, welche die «wiedererlangten Erinnerungen» problematisieren. Und was die Ruppigkeit der Auseinandersetzung betrifft, werden wörtliche Zitate zu deren Beleg angeführt. Auch hier ist für den Presserat ein Verstoss gegen die Ziffer 1 nicht nachgewiesen, die Autorenschaft legt Belege für ihre Feststellungen vor.
– Einen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht sehen die BF weiter darin, dass der Artikel behaupte, man habe in Experimenten in den 1990er Jahren zeigen können, dass sich falsche Erinnerungen in die Köpfe von Versuchspersonen einpflanzen lassen. Dabei werde bewusst oder unbewusst verschwiegen, dass die viel wichtigeren klinischen Studien zu diesem Thema fehlten.
Die NZZ antwortet, klinische Studien zu Gewalterinnerungen seien aus ethischen Gründen nicht möglich, dass aber eine ganze Reihe von Gerichtsentscheiden und anderen Quellen bewiesen, dass sich Menschen an Dinge erinnerten, die so gar nicht möglich gewesen seien, dass die Betroffenen dabei aber in ihrer Erinnerung die gleichen Angst- und Stresssymptome zeigten wie wirkliche Gewaltopfer.
In der Summe erkennt der Presserat in der Aussage, man habe feststellen können, dass sich Erinnerungen in Personen einbringen liessen, angesichts der angeführten Beispiele aus der Praxis als eine in der Wissenschaft in der Tat diskutierte Annahme. Sie ist offenbar kontrovers, aber nicht inexistent. Richtig ist sicher die Feststellung, dass klinische Experimente mit Gewaltanwendung natürlich nicht möglich sind. Auch hier ist ein eigentlicher Verstoss gegen die Wahrheitspflicht nicht erstellt.
Gegen die Wahrheitspflicht (Ziffer 1) und gegen das Gebot der Trennung von Fakten und Kommentar (Richtlinie 2.3) verstosse es, laut Beschwerde, wenn die Autorenschaft Folgendes behaupte: Bestimmte beschriebene Erinnerungen seien die Folge von suggestiven Therapien. Zwar gäben sich Therapeuten heute geläutert und suchten nicht nur nach einem Trauma. Dennoch überlebten diese wiedererlangten Erinnerungen als Teil eines Krankheitsbildes (der dissoziativen Identitätsstörung) weiter. Diese Darstellung sei – so die BeschwerdeführerInnen – aus Sicht der grossen wissenschaftlichen Mehrheit falsch. Wenn die Autorenschaft das dennoch behaupte, müsse das mindestens als Kommentar gekennzeichnet sein.
Die NZZ entgegnet, es stimme auch in diesem Punkt nicht, dass eine grosse Mehrheit der Wissenschaft hinter den Thesen der BeschwerdeführerInnen stehe und zitiert dafür wieder die entsprechenden verschiedenen Belege. Sie stelle nur dar, was sie wahrheitsgemäss an Positionen vorfinde. Dass sie damit gegen das Gebot der Trennung von Fakten und Kommentar verstosse, sei absurd.
Letztlich geht es hier aus der Sicht des Presserates wieder um die Frage, ob die Position der BeschwerdeführerInnen von der grossen Mehrheit der wissenschaftlichen Literatur gestützt werde. Das erscheint angesichts der vorliegenden Quellenlage – wie oben schon festgestellt – als fraglich.
Zusammenfassend zu Ziffer 1: Der Artikel beschreibt einen wissenschaftlichen Streit um einen äusserst komplexen Sachverhalt. Dabei werden die verschiedenen Positionen beschrieben, wobei der Autor und die Autorin einer der beiden Seiten mehr Kredit geben. Dies tun sie transparent und mit entsprechenden Begründungen. Dass dabei mangelhaft recherchiert worden sei, erschliesst sich angesichts der im Artikel und in der Beschwerdeantwort zitierten Vielzahl von Quellen nicht. Die BeschwerdeführerInnen, die sich beruflich zweifellos intensiv mit der Materie beschäftigen, sind im Ergebnis anderer Ansicht. Das ist ihr gutes Recht, aber einen Verstoss gegen die korrekte journalistische Arbeitsweise, gegen die Wahrheitspflicht und das Trennungsgebot im Rahmen dieses Artikels wurde nicht erstellt.
4. Das Gebot, Betroffene bei schweren Vorwürfen anzuhören (Richtlinie 3.8) und Stellung nehmen zu lassen, sehen die BeschwerdeführerInnen dadurch verletzt, dass die zu Beginn des Artikels beschriebene Patientin nicht angehört worden sei. Zudem sei ihre Problematik ausschliesslich aus der Sicht der Mutter dargestellt worden, was ein unausgewogenes Bild der Entwicklung innerhalb der Familie und insbesondere hinsichtlich der Problematik der Tochter ergebe.
Darauf erwidert die NZZ, dass die Frau um eine Stellungnahme gebeten wurde, von der Möglichkeit aber keinen Gebrauch machte. Und sie führt aus, dass die ganze Familie im Artikel anonymisiert und entsprechend auch nicht öffentlich erkennbar dargestellt worden sei.
Das an die Tochter gerichtete Angebot einer Stellungnahme erfüllt grundsätzlich die Anforderung von Richtlinie 3.8. Insofern ist diese Bestimmung nicht verletzt worden.
Hinzu kommt, dass der Tochter nach Auffassung des Presserats keine schweren Vorwürfe gemacht werden, wie die Richtlinie 3.8 dies voraussetzt, sondern dass an ihrem Beispiel eine sehr komplexe Problematik und ihre gravierenden Auswirkungen auf alle Beteiligten beschrieben wird. Dass dabei die Entwicklung innerhalb der Familie aufgrund der Quellenlage (Tochter antwortet nicht) einseitig ausgefallen sein könnte, mag zutreffen. Da die NZZ die Familie aber anonymisiert hat und das Thema des Artikels nicht das Verhalten der einzelnen Familienmitglieder, sondern speziell die Krankheit der Tochter und deren Hintergrund zum Inhalt hat, wäre eine Ungenauigkeit in diesem Punkt noch nicht ein eigentlicher Verstoss. Weder gegen Richtlinie 3.8, aber auch nicht gegen das Wahrheitsgebot. Es geht aus der Sicht des Presserates auch nicht um Ausgewogenheit, wie das kritisiert wird, diese ist nicht Teil der «Erklärung», sondern die Pflicht, die Wahrheit fair zu ergründen. Daran, dass das Schicksal der Patientin sehr schwer und tragisch ist, kann aufgrund der Beschreibung nicht gezweifelt werden, unabhängig davon, wie die Mutter die Problematik wahrnimmt.
Es ist kein Verstoss gegen die Richtlinie 3.8 festzustellen.
5. Problematisch ist allerdings unter dem Titel Schutz der Privatsphäre (Ziffer 7, insbesondere Richtlinie 7.7: Sexualverbrechen sowie Richtlinie 7.3: Kinder), dass die Familie zwar von der NZZ anonymisiert wurde, ihr Schicksal aber zuvor schon in anderen Medien mit vollem Namen besprochen worden ist, wie die BeschwerdeführerInnen anführen. Das ist zwar unerheblich im Falle der Eltern, die offensichtlich mit der Veröffentlichung einverstanden waren, diese sogar gesucht haben. Für die Tochter sieht das anders aus: die Schilderung, die sich auf sie bezieht, ist angesichts ihrer bereits andernorts veröffentlichten Identität heikel, auch wenn im fraglichen Artikel eine Anonymisierung vorgenommen wurde. Einzelne LeserInnen des Artikels mögen sich an die spezifische Patientin erinnert haben. Das dürfte aber nur einen kleineren Kreis betreffen, daher kann gemäss Richtlinie 7.2 (Person wird nur im Umfeld der Familie und des beruflichen Umfeldes erkannt) allenfalls noch davon ausgegangen werden, dass die Privatsphäre der Tochter nicht einschneidend tangiert wurde. Besser wäre es sicher gewesen, wenn die Redaktion einen Fall ausgewählt hätte, bei dem überhaupt nicht hätte eruiert werden können, um wen es sich handelt.
Der spezielle Schutz der Privatsphäre von Kindern gilt nur für Menschen, die bei der Veröffentlichung über sie noch im Kindesalter sind, diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben.
6. Besonders problematisch ist die Veröffentlichung aber unter dem Gesichtspunkt einer Notsituation (Richtlinie 7.8 Notsituationen, Krankheit, Krieg und Konflikte). Die «Erklärung» erwähnt «Krankheit» explizit. Deshalb stellt sich die Frage, ob die Tochter in ihrer seelischen Not hätte geschützt werden müssen. Die wörtliche Veröffentlichung von dramatischen Teilen ihrer Chats an ihren Therapeuten, voller quälender Erinnerungen, – veröffentlicht im Wissen, dass die Person für einen bestimmten Kreis erkennbar ist – birgt das Risiko, diese Not zu verstärken. Sie verstösst insofern gegen das Gebot des Schutzes von Menschen in Notsituationen und damit auch generell gegen den Schutz der Privatsphäre.
Die BG wendet zwar ein, die Frau sei anonymisiert, für die mangelnde Anonymisierung seitens anderer Medien könne nicht der NZZ verantwortlich sein. Und ohne die Schilderungen in den Chats bleibe das Thema zu abstrakt, es würde nicht erkennbar, wie irreal das vermeintlich erlebte (Satanisten-)Trauma sei.
Das trifft zu und birgt das Risiko, dass das Leiden der Frau mit dieser Veröffentlichung aus dem innersten Privaten noch weiter verstärkt wird. Was dabei letztlich den Ausschlag geben muss ist die Frage, ob ein öffentliches Interesse vorliegt, das es rechtfertigt, diese Informationen trotzdem zu veröffentlichen und in die innerste Privatsphäre der jungen Frau einzudringen. Der Presserat geht davon aus, dass es im Zusammenhang mit der aktuellen kontroversen Debatte darum geht, wichtige Hintergründe darzulegen – im Beitrag wird die Rolle verschiedener Institutionen und die Tragweite der Problematik thematisiert, die für die alle Beteiligten gravierende und konkrete Auswirkungen haben – was für ein hohes öffentliches Interesse spricht. Das würde die Verletzung der Privatsphäre rechtfertigen, allerdings nur, wenn kein anderer, gleichermassen zur Illustration geeigneter Fall vorgelegen hat – einer, welcher einerseits die fraglichen Bereiche gleichermassen gut abgebildet hätte und gleichzeitig besser hätte anonymisiert werden können. Ob dies möglich gewesen wäre, entzieht sich der Kenntnis des Presserates. Insofern ist von einem übergeordneten öffentlichen Interesse auszugehen. Die Richtlinie 7.8 (Notsituation, Krankheit, Krieg und Konflikte) ist insofern nicht verletzt worden.
7. Die BeschwerdeführerInnen sehen schliesslich die Menschenwürde (Richtlinie 8.1) der Tochter verletzt und begründen dies damit, dass die junge Patientin mit der Veröffentlichung der Chats vor aller Öffentlichkeit blossgestellt worden sei. Die NZZ bestreitet dies mit dem Hinweis darauf, dass man sich bemüht habe, genau dies nicht zu tun, indem man die Person anonymisiert habe, dass aber die Chats nötig seien zum Verständnis dessen, was an später sich formenden Erinnerungen möglich sei.
Der Beschrieb der Krankheit der Patientin ist nicht in einer Weise erfolgt, welche die Menschenwürde der Patientin verletzt. Im Gegenteil, es wird durch die Zitate aus dem Chat klar, unter welchen Qualen die Frau und ihr Umfeld leidet. Die Frage lautet vielmehr, wie oben 6. beschrieben, ob damit eine Verletzung der Privatsphäre (Ziffer 7) vorliegt. Die Richtlinie 8.1 (Menschenwürde) aber ist nicht verletzt.
III. Feststellungen
1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.
2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit dem Artikel «Der grosse Gedächtnisstreit» vom 21. Mai 2022 die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3 (Anhören bei schweren Vorwürfen), 7 (Schutz der Privatsphäre) und 8 (Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.