Zusammenfassung
Am 14. Juli 2024, respektive 17. August 2024 veröffentlichten zuerst das Magazin der «NZZ am Sonntag» und dann das «Zofinger Tagblatt» je eine längere Reportage zu einem Kriminalfall aus dem Jahr 1983. Damals war ein junger Schweizer im brasilianischen Urwald verschwunden, nachdem er mit einem mysteriösen angeblichen einheimischen Stammeshäuptling zusammengetroffen war. Einige Zeit später hatte eine Reisegruppe die sterblichen Überreste des Mannes gefunden. Alles deutete im Nachhinein darauf hin, dass der junge Mann von diesem Stammeshäuptling getötet worden sein musste, und dass der Täter effektiv ein Deutscher war. Beide Texte waren reich bebildert, unter anderem waren Bilder des jungen Mannes zu sehen, wie er mit dem «Häuptling» posierte, es waren die Gebeine des Toten zu sehen, sein Schädel umringt von Kerzen anlässlich einer Beerdigungszeremonie.
Eine Verwandte des Opferst erhob Beschwerde gegen die beiden Artikel. Diese verstiessen gegen eine grössere Anzahl von Bestimmungen des Journalistenkodex. Insbesondere sah sie durch die Nennung des Namens die Privatsphäre des Opfers und dessen überlebender, traumatisierter Familie verletzt. Weiter verstiessen die Bilder der Überreste das Recht des Opfers auf Totenruhe. Die gesamte Schilderung verletze die Menschenwürde des Getöteten. Zudem bestritt die Beschwerdeführerin in einzelnen Fällen, dass Bilder rechtmässig verwendet worden seien.
Die beiden Redaktionen wiesen umgekehrt darauf hin, dass sie legal zu den Bildern gekommen seien, dass von einer Verletzung der Privatsphäre nicht die Rede sein könne, weil die Autoren der Beiträge mit der Familie des Getöteten vor der Publikation Kontakt aufgenommen und sie über die Arbeit an diesen Artikeln informiert hätten. Weiter habe man auf die Menschenwürde des Getöteten Rücksicht genommen mit der Auswahl der Bilder und die Totenruhe des Opfers sei nicht gestört worden.
Der Presserat wies die Beschwerde ab mit der Begründung, dass die Privatsphäre der Familienangehörigen des Opfers nicht verletzt worden sei, niemand sei mit dieser Berichterstattung in deren eigene Privatsphäre eingedrungen. Das Opfer selber besitze laut bundesgerichtlicher Rechtsprechung keine Privatsphäre mehr, die verletzt werden könnte. Die angerufene Richtlinie 7.8, welche Rücksicht nicht nur auf die Opfer in Notlagen abstellt, sondern auch auf die Gefühle von deren Angehörigen, bezieht sich auf aktuelle Krisensituationen, jedoch nicht auf eine Notlage vor 40 Jahren. Dasselbe gilt für den Opferschutz der Richtlinie 8.3 und die Richtlinie 8.5 (Bilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen).
Résumé
Le magazine de « NZZ am Sonntag » et « Zofinger Tagblatt » ont publié respectivement le 14 juillet et le 17 août 2024 un long reportage consacré à une affaire criminelle de l’année 1983. À l’époque, un jeune Suisse avait disparu dans la forêt vierge brésilienne après avoir rencontré un mystérieux prétendu chef de tribu local. Quelque temps plus tard, un groupe de touristes avait retrouvé la dépouille du jeune homme. Tout portait à croire que celui-ci avait été tué par le soi-disant chef de tribu, en réalité un ressortissant allemand. Les deux articles étaient richement illustrés, notamment par des photos du jeune homme avec le « chef de tribu » : on y voyait les jambes du défunt et son crâne entouré de cierges, à l’occasion d’une cérémonie funéraire.
Une proche de la victime a déposé une plainte contre les deux articles, arguant qu’ils étaient contraires à de nombreuses dispositions du code de déontologie. Elle considérait notamment que le fait de nommer la victime violait la sphère privée de celle-ci, ainsi que celle de sa famille, traumatisée à jamais. Elle a ajouté que les photos de la dépouille portaient atteinte au droit des morts au repos éternel, et que les articles dans leur ensemble attentaient à la dignité du défunt. Enfin, la plainte faisait état d’une utilisation illicite des images dans certains cas.
Les deux rédactions ont fait valoir qu’elles avaient acquis les images en toute légalité et qu’il ne pouvait être question d’une atteinte à la sphère privée, car elles avaient pris contact avec la famille avant la publication pour l’informer de la préparation des articles. Elles ont assuré avoir pris en compte la dignité du défunt dans le choix des images et ne pas avoir perturbé son droit au repos éternel.
Le Conseil suisse de la presse a rejeté la plainte au motif que la sphère privée des proches de la victime n’avait pas subi d’atteinte, puisque nul ne s’y était immiscé. Selon la jurisprudence du Tribunal fédéral, la victime elle-même ne dispose plus d’une sphère privée. La directive 7.8. mentionnée dans la plainte, qui impose aux journalistes de faire preuve de réserve à l’égard de victimes en situation de détresse, mais aussi de leurs proches, est applicable aux situations de crise en cours, mais pas à celle remontant à plus de 40 ans. Il en est de même de la protection des victimes au sens des directives 8.3 et 8.5 (images d’accidents, de catastrophes et de crimes).
Riassunto
Il 14 luglio 2024 e il 17 agosto 2024, rispettivamente, prima la rivista «NZZ am Sonntag» e poi il quotidiano «Zofinger Tagblatt» hanno pubblicato un lungo reportage su un caso criminale risalente al 1983. All’epoca, un giovane svizzero era scomparso nella foresta tropicale brasiliana dopo aver incontrato un misterioso presunto capo tribù locale. Qualche tempo dopo una comitiva aveva trovato i resti mortali dell’uomo. A posteriori, tutto indicava che il giovane fosse stato ucciso da questo “capo tribù” e che l’autore del delitto fosse in realtà un tedesco.
Entrambi i testi erano riccamente illustrati: tra le immagini figuravano quelle del giovane mentre posava con il «capo tribù», le ossa del defunto e il cranio circondato da candele durante una cerimonia funebre.
Una parente della vittima ha presentato reclamo contro entrambi gli articoli, ritenendo che violassero numerose direttive del Codice deontologico del/della giornalista. In particolare, sosteneva che la menzione del nome avesse violato il diritto alla privacy della vittima e dei suoi familiari sopravvissuti e traumatizzati. Inoltre, le immagini dei resti mortali violavano il diritto della vittima al riposo dei defunti. L’intera narrazione ledeva la dignità umana del defunto. La reclamante ha altresì contestato, in singoli casi, la legittimità dell’uso delle immagini.
Entrambe le redazioni hanno invece sottolineato di essere entrate legalmente in possesso delle fotografie e che non si potesse parlare di violazione della privacy, poiché gli autori avevano contattato la famiglia della vittima prima della pubblicazione degli articoli e l’avevano informata del lavoro svolto al riguardo. Inoltre, la scelta delle immagini aveva tenuto conto della dignità umana del defunto e il suo diritto al riposo non era stato violato.
Il Consiglio della stampa ha respinto il reclamo, ritenendo che la privacy dei familiari della vittima non fosse stata invasa e che nessuno, con questo reportage, fosse entrato nella loro sfera privata. Secondo la giurisprudenza del Tribunale federale, la vittima stessa non gode più di una sfera privata che possa essere violata. La direttiva 7.8 invocata, che invita a tener conto non solo delle vittime in situazioni di emergenza, ma anche dei sentimenti dei loro familiari, si riferisce a situazioni di crisi attuali e non a una situazione di emergenza risalente a 40 anni fa. Lo stesso vale per la protezione delle vittime prevista dalla direttiva 8.3 e per la direttiva 8.5 (Immagini di incidenti, catastrofi e reati).
I. Sachverhalt
A. Am 14. Juli 2024 erschien im Magazin der «NZZ am Sonntag» (im Folgenden «NZZaS») unter dem Titel «Der Fluch von Akakor» ein sieben Seiten langer bebilderter Artikel von Dina Dada und Felix Meschede über einen vermeintlichen Häuptling namens Tatunca Nara und mehrere Personen, die vor Jahrzenten beim Versuch, mehr über diesen Mann und seinen ominösen Stamm im entlegenen Amazonas-Gebiet zu erfahren, ums Leben gekommen sind.
Eines der Opfer war ein im Artikel namentlich genannter junger Schweizer, A. B., der Tatunca Nara 1983 zum dritten Mal getroffen hatte und der seither verschwunden blieb. Einige Monate später wurde eine Schweizer Reisegruppe, die im Amazonas-Gebiet unterwegs war, von Einheimischen auf Gebeine eines Fremden im Urwald aufmerksam gemacht. Die Reisegruppe fand ein Skelett, begrub die Überreste. Teile der Kieferknochen und weitere Fundstücke nahmen sie jedoch zur möglichen Identifikation mit nach Hause, weil es Hinweise gab, dass es sich beim Toten um einen Europäer oder gar einen Schweizer handeln könnte. Schliesslich, nach langen Irrungen und Zufällen, konnte der Tote aufgrund des Gebisses als A. B. aus einer Aargauer Gemeinde identifiziert werden. Illustriert ist der Text mit einem knappen Dutzend zum Teil grossformatiger Fotos, unter anderem mit einem Bild des A. B. vor seiner Abreise nach Brasilien und einem Foto des angeblichen Häuptlings Tatunca Nara. Auf einem weiteren Foto sieht man die auf dem Urwaldboden liegenden Gebeine des A. B. einschliesslich eines intakten Adidas-Turnschuhes. Zudem ist ein Bild des Schädels abgedruckt, der von Kerzen eingerahmt ist. Aufgrund des Lochs im Hinterkopf sei die Kripo Zürich von einem Tötungsdelikt ausgegangen und habe begonnen, zu ermitteln, heisst es im Text.
Der vermutliche Mörder, der «Urwald-Häuptling Tatunca Nara», sei in Wirklichkeit ein namentlich bekannter Deutscher, der heute mangels funktionierender Strafverfolgungsbehörden immer noch im nördlichen Amazonasgebiet frei herumlaufe. Er habe wahrscheinlich noch drei weitere Personen umgebracht, die an seine Geschichte geglaubt hatten.
B. Am 17. August 2024 erschien im «Zofinger Tagblatt» (im Folgenden ZT) auf drei Seiten ein ebenfalls reich bebilderter Artikel von Philippe Pfister, Titel: «Der Rattenfänger von Barcelos». Der Artikel schildert ebenfalls die Abläufe und Zufälle, die zur Identifikation des Opfers geführt hatten. Der Text geht auch auf die Rolle weiterer Personen in der Saga Tatunca Nara ein. So hatte etwa ein bekannter deutscher Journalist Tatunca Naras Geschichte geglaubt und ein wohlwollendes Buch über ihn und den geheimen Stamm geschrieben. Auch dieser Journalist starb eines gewaltsamen Todes, nachdem er an der Geschichte des angeblichen Häuptlings zu zweifeln begann. Es wird auch über das Verschwinden von zwei weiteren Personen geschrieben, die «Gäste» von Tatunca Nara waren. Thematisiert wird ausserdem die Rolle von Erich von Däniken, der ebenfalls an die Märchen des selbsternannten Stammesführers mit seinen ausserirdischen Verbindungen geglaubt hatte und für eine Expedition – die dann nie stattfand – einen erheblichen Geldbetrag bezahlt hatte.
Illustriert ist dieser Artikel mit zehn Bildern: A. B zusammen mit Tatunca Nara posierend, der eine mit einem Gewehr, der andere mit einem Pfeilbogen; die Gebissknochen, welche schliesslich zur Identifikation geführt hatten; der von Kerzen umrahmte Totenschädel allerdings deutlich kleiner als im «NZZaS»-Magazin.
C. Am 19. August 2024 reichte X., eine Schwägerin des Opfers, Beschwerde gegen den Artikel des «Zofinger Tagblatts» beim Schweizer Presserat ein. Sie macht geltend, der Artikel verletze die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Quellenbearbeitung), 4 (Unlautere Beschaffung von Bildern), 7 (Verletzung der Privatsphäre) und 8 (Verletzung der Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»).
Die Veröffentlichung des Fotos mit dem Schädel verletze die Ziffern 7 und 8 sowie die Richtlinien 3.3 (Archivdokumente), 3.6 (Montagen), 7.5 (Recht auf Vergessen), 7.8 (u. a. Recht auf Totenruhe) und 8.5 (u. a. Wahrung der Menschenwürde bei Verbrechen). Insbesondere werde das Recht auf Privatsphäre der Familien verletzt, wenn der Schädel des toten Verwandten abgebildet werde, das verletze die Gefühle der traumatisierten Angehörigen, einige hätten diese Bilder noch nie gesehen (Richtlinie 8.3, Opferschutz bei Gewaltverbrechen). Erschwerend komme hinzu, dass dieses Bild gleich zweimal benutzt worden sei, einmal «verfälscht» mit dem Insert eines der an der Entdeckung der Leiche Beteiligten.
Weiter hätte gemäss der Beschwerde der Name des Opfers nicht genannt werden dürfen. Auch dies verletze die Gefühle der Angehörigen. Zudem werde die Totenruhe des Opfers gestört (Richtlinie 8.5 Bilder von Verbrechen, Rücksicht auf Angehörige).
Das Bild des Opfers zusammen mit dem vermeintlichen Häuptling sei im Übrigen Eigentum der Familie, seine Veröffentlichung verstosse gegen die Ziffern 3 und 8 der «Erklärung». Und der Titel «Der Rattenfänger von Barcelos» degradiere die Opfer des angeblichen Häuptlings zu Ratten.
D. Am 20. August 2024 erhob die gleiche Person X. Beschwerde gegen den Artikel des «NZZaS»-Magazins. Hier wird die Abbildung des Schädels des Opfers als Verstoss gegen Ziffer 3 der «Erklärung» bezeichnet (das Bild sei Eigentum der Familie und sei entsprechend falsch deklariert) und als Verstoss gegen Ziffer 7 sowie die Richtlinien 7.1 (Schutz der Privatsphäre) und 7.8 (Bilder von Menschen in Notsituationen, insbesondere Schutz der Totenruhe, Freigabe von Bildern nur mit Zustimmung der Familie). Das Bild sei geschmacklos und unverhältnismässig. Dasselbe gelte für das Bild mit den Gebeinen und dem Turnschuh. Die Angehörigen hätten ein Recht auf Privatsphäre und der verstorbene Schwager ein Recht auf Totenruhe. Die Privatsphäre der Familie sei auch verletzt, weil der Verstorbene mit vollem Namen und Wohnort identifiziert werde.
Weiter wird moniert, dass der Transport der Kieferknochen in die Schweiz (für die Untersuchung der Identität des Opfers) der falschen Person zugeschrieben werde, das verletze die Pflicht zur Wahrheitssuche (Richtlinie 1.1 Wahrheitssuche).
E. Mit Beschwerdeantwort vom 10. März 2025 beantragte die Rechtsabteilung der «Neuen Zürcher Zeitung», die gegen sie gerichtete Beschwerde sei abzuweisen, soweit auf sie einzutreten sei. Sie argumentiert grundsätzlich damit, dass das Aufarbeiten ungelöster Kriminalfälle eine zentrale Aufgabe der Medien sei, insbesondere wenn – wie in diesem Fall – der vermutliche Mörder sich nach wie vor ungestraft in Freiheit befinde.
Die «NZZ am Sonntag» widerspricht dem Vorwurf, sie habe die Privatsphäre (Ziffer 7 der «Erklärung») der Angehörigen des Opfers verletzt und argumentiert mit der Praxis des Bundesgerichts, wonach Tote keine Privatsphäre mehr haben, die verletzt werden könne. Was die Angehörigen betrifft, zeigt die Redaktion Verständnis für die Gefühle von Hinterbliebenen. Die Berichterstattung über derartige Fälle liege aber im öffentlichen Interesse, das subjektive Empfinden der Betroffenen dürfe nicht zur Einschränkung einer sachlichen Berichterstattung führen. A. B. werde nicht in diffamierender oder respektloser Weise beschrieben.
Was den Inhalt der Bilder angeht (Schädel, Gebeine), weist die «NZZaS» darauf hin, dass die Fotos einen entscheidenden Moment in den Ermittlungen dokumentierten. Die Veröffentlichung solcher Bilder sei in dokumentarischen Kontexten üblich, von der Abbildung von ägyptischen Mumien bis zur Dokumentation von Kriegsverbrechen. Identifizierende menschliche Züge seien auf den Überresten nicht mehr zu erkennen.
Auf den Vorwurf, das Opfer ohne jede Notwendigkeit identifiziert und den Wohnort genannt zu haben, argumentiert die Redaktion analog. Dies sei bei der «True Crime»-Berichterstattung so üblich, es gehe um die möglichst präzise Aufarbeitung der Sachverhalte.
Auf die vorgebrachten Vorwürfe «Störung der Totenruhe» und «Recht auf Vergessen» geht die «NZZaS» nicht explizit ein.
Was den in der Beschwerde angesprochenen Fehler betrifft, wonach der Transport der Kieferknochen in die Schweiz einer falschen Person zugeschrieben worden sei, verweist die Redaktion auf eine ausführliche Recherche und auf Zeitzeugen, auf die abgestellt worden sei. Falls sich die Darstellung in diesem Punkt aber als falsch erweisen sollte, stellt die «NZZaS» eine Berichtigung in Aussicht. In jedem Fall aber ändere dieser Aspekt nichts am Kern der Berichterstattung und könne nicht als eigentlicher Verstoss gegen die Pflicht zur Wahrheitssuche gelten.
F. Mit Schreiben vom 23. März 2025 nimmt der Chefredaktor des «Zofinger Tagblatt» und Autor des Artikels, Philippe Pfister, zu den Beschwerdepunkten Stellung. Er erklärt, der Beitrag sei aus Anlass einer ausführlichen Dokumentation der ARD und des Artikels in der «NZZaS» verfasst worden. Er weist jeden Verstoss gegen presserechtliche oder presseethische Bestimmungen zurück und betont, dass der Artikel sehr gründlich und sauber recherchiert sei. Das Thema sei von öffentlichem Interesse, da der mutmassliche Täter noch immer frei herumlaufe. Aufgrund dessen sei auch die Namensnennung des Opfers gerechtfertigt, es frage sich sogar, ob das Opfer A. B. nicht zu einer Person der Zeitgeschichte geworden sei.
Was das Foto des Schädels betrifft, argumentiert das «ZT», dieser sei mit der gebotenen Zurückhaltung abgebildet worden. Mit den fünf Kerzen erscheine das Bild nicht pietätlos. Auf weitere Bilder vom Tatort habe man mit Rücksicht auf noch lebende Angehörige bewusst verzichtet und die Bilder vom Schädel habe das «ZT» jetzt aufgrund der Beschwerde von sich aus vom Online-Artikel entfernt. Die Rechte an diesem Bild lägen im Übrigen bei dem Leiter der Reisegruppe, welche die Überreste von A. B. gefunden habe. Dieser habe das Bild dem «ZT» zur Verfügung gestellt. Das Bild von A. B. mit Tatunca Nara stamme aus dem Buch eines inzwischen verstorbenen Deutschen, Rüdiger Nehberg, dies sei durch den Ausriss und die Bildlegende klar gekennzeichnet.
Der Autor weist im Übrigen darauf hin, dass er einen Monat vor Erscheinen des Artikels mit einem Bruder von A. B. Kontakt aufgenommen und ihn über den in Arbeit befindlichen Artikel informiert habe. Dieser habe das «ZT» bei den Recherchen unterstützt, indem er das genaue Datum beigesteuert habe, an welchem das «ZT» zum ersten Mal über den Fall berichtet habe. Zudem sei klar geworden, dass die Familie auch die «NZZaS» unterstützt habe, etwa indem sie ihr ein Bild von A. B. vor dessen Abreise zur Verfügung gestellt habe. Das «ZT» habe daraufhin versucht, einen weiteren Bruder, den Ehemann der Beschwerdeführerin, zu erreichen. Dieser habe aber auf die Bitte um ein Gespräch nicht reagiert. Insbesondere habe seitens der Familie niemand gebeten, auf die Namensnennung oder die Verwendung gewisser Bilder zu verzichten, dies trotz mehrerer Kontaktnahmen und ausreichend Zeit, Stellung zu nehmen. Da die Familie der «NZZaS» ein Bild zur Verfügung gestellt hatte, habe der Autor nicht angenommen, dass die Familie mit der Namensnennung ein Problem haben könnte.
Die Verwendung des Wortes «Rattenfänger» im Titel bedeute nicht, dass das «ZT» das Opfer als Ratte habe bezeichnen wollen. Das Wort werde metaphorisch gebraucht für jemanden, der andere manipuliert oder verführt.
G. Am 24. April 2025 teilte der Presserat den Parteien mit, die beiden Beschwerden würden von der 1. Kammer behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Luca Allidi, Ursin Cadisch, Stefano Guerra, Erik Schönenberger und Casper Selg. Catherine Boss trat von sich aus in den Ausstand.
H. Die 1. Kammer des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 10. Oktober 2025 sowie auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Im Wesentlichen macht die Beschwerdeführerin in beiden Artikeln Verletzungen der Privatsphäre (Ziffer 7 der «Erklärung» mit den Richtlinien 7.1, 7.5 und 7.8) und der Menschenwürde (Ziffer 8 der «Erklärung» mit den Richtlinien 8.3 und 8.5) geltend. Dies betrifft die Fotos des Opfers sowie die Nennung von dessen vollem Namen und letztem Wohnsitz. Die Beschwerdeführerin moniert auch, es sei gegen Bildrechte (Ziffer 3 – Quellen und Ziffer 4 – unlautere Beschaffung von Bildern der «Erklärung») und gegen die Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») verstossen worden. Ausserdem verletze das Wort «Rattenfänger» die Menschenwürde des Opfers (Ziffer 8 der «Erklärung»).
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass der ausführliche Rückblick auf den gewaltsamen Tod eines Familienangehörigen, illustriert mit detaillierten Bildern von Leichenteilen, eine erhebliche Belastung für eine Familie bedeutet. Die zu klärende Frage lautet, ob die Berichterstattung auch die medienethischen Grenzen der «Erklärung» verletzt hat.
2. Zur Privatsphäre (Ziffer 7): Der Schutz der Privatsphäre gemäss der Ziffer 7 der «Erklärung» betrifft grundsätzlich die in einem Medienartikel beschriebenen Person(en) selber. Die Berichterstattung darf nicht in deren privaten Bereich eindringen, es sei denn, es bestehe ein überwiegendes öffentliches Interesse an dessen Verletzung. Im vorliegenden Fall bedeutet das: Allenfalls lösen Beiträge über ein derartiges Verbrechen bei der Verwandtschaft selbst 40 Jahre, nachdem sie vom Tod des jungen Mannes erfahren haben, Betroffenheit und Trauer aus, aber niemand ist in die Privatsphäre der Verwandten eingedrungen, wie die Ziffer 7 der «Erklärung» das voraussetzt.
Die von der Beschwerdeführerin angerufene Richtlinie 7.1 (Schutz der Privatsphäre) bezieht sich auf das Privatleben von Personen und untersagt es, in ihren Privatbereich einzudringen oder sie im öffentlichen Bereich ohne deren Einwilligung zu filmen oder zu fotografieren. Beides ist im vorliegenden Zusammenhang nicht von Belang.
Die Richtlinie 7.5 (Recht auf Vergessen) bezieht sich auf Gerichtsverfahren, insbesondere auf Verurteilte, über die berichtet wird. Diese sollen – im Sinne der Resozialisierung – nach verbüsster Strafe nicht weiter mit dem Delikt in Zusammenhang gebracht werden. Auch diese Bestimmung ist hier nicht von Belang.
Die Richtlinie 7.8 (Notsituationen, Krankheit, Krieg, Konflikte) bezieht sich in erster Linie auf Bilder von Personen, die sich selber in einer Notlage befinden. Die Richtlinie spricht zwar von der Betroffenheit und der Trauer von Verwandten, auf die bei der Berichterstattung Rücksicht zu nehmen sei. Hier aber geht es weder um eine Notlage noch um einen aktuellen Trauerfall, die Tragödie hat vor 40 Jahren stattgefunden. Es stellt sich allenfalls die Frage, ob mit den Berichten, mit der Abbildung von Gebeinen und Schädel, die in Richtlinie 7.8 auch angesprochene Totenruhe des Opfers gestört wird. Die damaligen «Entdecker» der Überreste haben den Toten beerdigt und in diesem Sinne für seine Totenruhe gesorgt. Dass eine Abbildung der damaligen Zeremonie (Schädel mit Kerzen umgeben, Bild der Gebeine) heute die Totenruhe des Beerdigten noch stört, ist auszuschliessen. Der «Duden» umschreibt die Totenruhe als «einem Verstorbenen aufgrund seines Persönlichkeitsrechts, der allgemeinen Menschenwürde und des Pietätsgefühls der Angehörigen rechtlich gewährter Schutz vor Übergriffen auf den Leichnam und seine Ruhestätte». Ein ungebührlicher Umgang mit dem Leichnam oder der Grabstätte steht hier nicht zur Debatte. Die Richtlinie 7.8 ist nicht betroffen.
Von der Schwägerin des Opfers nicht angerufen, aber in ihrer Beschwerde mit der Kritik an der namentlichen Identifizierung mitgemeint ist die Richtlinie 7.2 (Identifikation). Die Schwägerin geht davon aus, dass die Nennung des korrekten, vollen Namens für das Verständnis und die Relevanz der Geschichte nicht erforderlich, für die Angehörigen jedoch sehr belastend sei.
Das «Zofinger Tagblatt» geht umgekehrt davon aus, dies sei zu dokumentarischen Zwecken wichtig gewesen. Durch das Verbrechen sei A. B. möglicherweise sogar zu einer Person der Zeitgeschichte geworden. Die Redaktion argumentiert, der volle Name sei schon zur Zeit des Verbrechens in den 1980er-Jahren publik geworden, dies sei bei der «True Crime-Berichterstattung» ohnehin üblich, es sei auch wichtig, nachvollziehbar zu machen, dass dieser spezifische Fall aufgerollt werde. Das Opfer werde auch nicht diffamierend oder respektlos beschrieben.
Im vorliegenden Fall wird vor allem der Täter negativ dargestellt, nicht aber das Opfer. Ausserdem war die Familie des Opfers nicht erst durch die Berichte der «NZZaS» und des «ZT» mit belastenden Tatsachen konfrontiert, sondern musste sich schon vor 40 Jahren mit dem Tod des jungen Mannes auseinandersetzen. Daher geht der Presserat davon aus, dass keine Verletzung der Privatsphäre im Sinne der Ziffer 7 vorliegt.
Die Kritik der Beschwerdeführerin an der Veröffentlichung des Namens des Opfers kann deshalb nicht unter Ziffer 7, sondern muss unter Richtlinie 8.5 (Menschenwürde) beurteilt werden (siehe unten Erwägungen 3 und 4).
3. Zur Menschenwürde (Ziffer 8 der «Erklärung»): Diese Bestimmung besagt unter anderem: «Die Grenzen der Berichterstattung in Text, Bild und Ton über Kriege, terroristische Akte, Unglücksfälle und Katastrophen liegen dort, wo das Leid der Betroffenen und die Gefühle ihrer Angehörigen nicht respektiert werden». Die von der Beschwerdeführenden angerufene Richtlinie 8.3 (Opferschutz) führt aus: «Autorinnen und Autoren von Berichten über dramatische Ereignisse oder Gewalt müssen immer sorgfältig zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und den Interessen der Opfer und der Betroffenen abwägen. Journalistinnen und Journalisten sind sensationelle Darstellungen untersagt, welche Menschen zu blossen Objekten degradieren. Als sensationell gilt insbesondere die Darstellung von Sterbenden, Leidenden und Leichen, wenn die Darstellung in Text und Bild hinsichtlich detailgetreuer Beschreibung sowie Dauer und Grösse der Einstellungen die Grenze des durch das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit Gerechtfertigten übersteigt.» Und die Richtlinie 8.5 (Bilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen) erklärt: «Fotografien und Fernsehbilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen müssen die Menschenwürde respektieren und darüber hinaus die Situation der Familie und der Angehörigen der Betroffenen berücksichtigen.»
Die allgemeine Bestimmung der Ziffer 8 der «Erklärung» bezieht sich demnach auf die Berichterstattung über aktuelle Katastrophen, Kriege, Unglücksfälle und terroristische Anschläge Das gilt deshalb weitgehend auch für die Richtlinien 8.3 und 8.5, wobei Richtlinie 8.3 (Opferschutz) ausdrücklich davon spricht, es sei auf sensationelle Bilder zu verzichten, wenn die Darstellungsform die Grenze zum legitimen Informationsbedürfnis übersteige, also wenn es etwa darum geht, wie detailliert ein Leidender oder Toter abgebildet wird. Damit sind insbesondere Leidende oder Verstorbene von aktuellen Kriegen, terroristischen Akten, Unglücksfällen und Katastrophen gemeint, die noch erkennbare, identifizierbare Züge tragen.
Richtlinie 8.5 (Bilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen) bezieht darüber hinaus ausdrücklich die Befindlichkeit der betroffenen Familie mit ein. «Fotografien von (…) Verbrechen (…) müssen die Menschenwürde respektieren und die Situation der Familie und die Angehörigen der Betroffenen berücksichtigen». Gemeint ist auch hier zunächst die Familie des Täters, die durch die Berichterstattung nicht mitbestraft werden soll. Diese Bestimmung bezieht sich aber ausdrücklich auch auf die Familien der Opfer. Hier stellt sich wieder die Frage, ob dies auch für die Berichte über einen und die Abbildung eines vor 40 Jahren Verstorbenen gilt.
In beiden Fällen, Richtlinien 8.3 und 8.5, geht der Presserat davon aus, dass die Bestimmungen auf den zur Diskussion stehenden Fall nicht zutreffen. Zwar ist der Beschwerdeführerin zuzustimmen, dass abgewogen werden muss, ob ein öffentliches Interesse an einer problematischen Darstellung besteht oder ob hier der Schutz der Menschenwürde überwiegt. Der Presserat geht in diesem Punkt mit der Beschwerdeführerin einig, dass diese Geschichte sich inhaltlich nicht geändert hätte, wenn die Bilder des Schädels und der Gebeine weggelassen worden wären, dass also grundsätzlich kein erhebliches öffentliches Interesse an den fraglichen Bildern bestand.
Dennoch geht er nicht von einer Verletzung der Richtlinien 8.3 und 8.5 aus. Einerseits macht es einen grossen Unterschied, ob Angehörige konfrontiert werden mit einer eben eingetretenen Tragödie – (worauf die Richtlinien 8.3 und 8.5 primär abzielen) – oder ob sie erneut mit einem Verlust konfrontiert werden, den sie schon vor 40 Jahren betrauern mussten. Was vor Jahrzehnten geschah, kann nicht verglichen werden mit dem Schmerz, der Belastung, die unmittelbar nach dem Tod eines nahen Verwandten zu bewältigen ist. Hinzu kommt, dass ein Mitglied der Familie seitens der «NZZaS» auf den bevorstehenden Bericht hingewiesen wurde und offenbar keine Einwände vorbrachte, sondern sogar eine Hilfestellung zur Berichterstattung leistete. Weiter hat sich im Fall des «ZT» der Autor um einen Kontakt mit einem weiteren Bruder des Opfers bemüht. Er erhielt keine Antwort und es wurden ihm keine Vorbehalte signalisiert. Die Richtlinien 8.3 (Opferschutz) und 8.5 (Bilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen) sind mit den beiden Artikeln nicht verletzt.
Die Bezeichnung des angeblichen Häuptlings als «Rattenfänger» verstösst nicht gegen Ziffer 8 der «Erklärung» (Menschenwürde). Der Begriff sagt nichts aus über diejenigen, die er belog. Der Ausdruck bezeichnet laut Duden «Volksverführer», also Personen, welche andere mit Tricks dazu bringen, ihnen zu folgen. Er impliziert nicht die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Erniedrigung von Opfern von Rattenfängern als «Ratten». Die Ziffer 8 der «Erklärung» ist damit nicht verletzt.
Zu den Ziffern 3 (Quellenmaterial) und 4 (unlautere Beschaffung von Bildern) der «Erklärung»: Die Beschwerdeführerin sieht die Bildrechte und deswegen die beiden Ziffern verletzt. Dazu ist festzustellen, dass das «ZT» die eine Abbildung legal vom Reiseleiter der damaligen Exkursion erhalten hat, welche die sterblichen Überreste aufgefunden hat. Ein weiteres Bild hat das «ZT» einem Buch entnommen und dies im Text mit der Darstellung und einer Bildlegende deutlich gemacht. Die «NZZaS» hat ein Bild des A. B. direkt von einem seiner Brüder erhalten. Eine unstatthafte Beschaffung von Bildern ist nicht erwiesen. Wie sich die urheberrechtliche Lage im Einzelnen präsentiert, kann der Presserat nicht beurteilen. Er sieht damit keine Verletzung der Ziffern 3 und 4 der «Erklärung».
Zu Ziffer 1 der «Erklärung», Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche): Im Beitrag der «NZZaS» wird erwähnt, dass die Kieferknochen, die schliesslich zur Identifikation der Leiche führten, von einer bestimmten Person (Reiseleiter) aus Brasilien herausgeschmuggelt worden seien. Das stimme nicht, es sei ein Mitglied von dessen Reisegruppe gewesen, diese Darstellung verstosse – so die Beschwerde – gegen die Wahrheitspflicht. Die «NZZaS» zeigt sich erstaunt, wäre aber gegebenenfalls bereit, den Sachverhalt in der Onlineausgabe zu korrigieren. Sie macht aber geltend, dass dieser Aspekt im Rahmen der ganzen Geschichte über Tatunca Nara von sehr geringer Bedeutung sei und keinen eigentlichen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht konstituiere. Hier steht Aussage gegen Aussage. Vor allem aber ginge es um einen marginalen Fehler. Solche bezeichnet der Presserat in konstanter Praxis als «handwerkliche Fehler» und nicht als regelrechte Verstösse gegen die Wahrheitspflicht. Die Passage im Text verstösst nicht gegen die Ziffer 1 der «Erklärung».
Die Richtlinien 3.3 (Archivdokumente) und 3.6 (Montagen) beziehen sich nicht auf den vorliegenden Sachverhalt.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Das Magazin der «NZZ am Sonntag» hat mit dem Artikel «Der Fluch von Akakor» die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Quellenbearbeitung), 7 (Persönlichkeitsschutz) und 8 (Schutz der Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.
3. Das «Zofinger Tagblatt» hat mit dem Artikel «Der Rattenfänger von Barcelos» die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Quellenbearbeitung), 4 (Bilder), 7 (Persönlichkeitsschutz) und 8 (Schutz der Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.