Nr. 33/2024
Schutz der Privatsphäre / Identifikation / Unschuldsvermutung

(X. c. «blick.ch» und «Luzerner Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 12. Mai 2023 erschien auf «blick.ch» ein Artikel gezeichnet von Myrte Müller unter dem Titel «Kinder verlieren ihre Eltern bei zwei verschiedenen Tötungsdelikten». Darin wird berichtet, dass drei Geschwister nicht nur ihre Mutter verloren hätten, die erstochen in einer Wohnung in Emmenbrücke aufgefunden worden sei, sondern knapp zwei Jahre später auch noch ihren Vater, der von einem eifersüchtigen Mann getötet worden sei. Im ersten Fall sei die Mutter «offenbar aus Eifersucht brutal getötet» worden, die Luzerner Staatsanwaltschaft habe für den Täter eine lebenslängliche Gefängnisstrafe gefordert, das Urteil werde noch erwartet. Nach dem Tod der Mutter seien die Kinder zu ihrem Vater ins Tessin gebracht worden. Dieser sei eine neue Beziehung eingegangen mit einer Frau, deren früherer Partner sich mit der vorangegangenen Trennung nicht habe abfinden wollen. Dieser habe «das zweite grauenvolle Verbrechen» begangen, indem er den Vater der drei Kinder am Arbeitsplatz seiner neuen Freundin erschoss. Begleitet ist der Artikel von einer Bild-Serie, welche dreimal Tessiner Polizeiautos beim Einsatz am Tatort zeigt, einmal das total verpixelte Porträt des ermordeten Vaters, einmal das Bild der Mutter mit verpixeltem Gesicht, einmal den Täter im Tessiner Fall, mit verpixeltem Gesicht und einmal den Mann, der mutmasslich die Mutter getötet hat, hier ist allerdings nur die Augenpartie unkenntlich gemacht, die Mundpartie ist klar erkennbar.

Am 5. Juni 2023 erschien zur gleichen Problematik ein Artikel in der «Luzerner Zeitung» von Karl Kälin. Titel: «Das Schicksal schlägt doppelt zu», Untertitel: «Drei Tessiner Kinder werden zu Vollwaisen, weil zuerst ihre Mutter und zwei Jahre später ihr Vater ermordet wird. Wie können Kinder eine solche Tragödie verarbeiten? Eine Psychotherapeutin erklärt.» Im Folgenden wird zunächst der Tessiner Fall mit Details zum Hergang und zum weiteren Verbleib der Kinder erläutert, anschliessend wird der erste Fall angesprochen: «Eine besonders dramatische Note bekommt das Tötungsdelikt, weil die Kinder bereits ihre Mutter durch ein Gewaltverbrechen verloren haben. Am 11. Juli 2021 entdeckte die Luzerner Polizei in einer Wohnung in Emmenbrücke die Leiche einer 29-jährigen Frau …». «Die Polizei verhaftete den mutmasslichen Täter, ihren Freund (…). Die Staatsanwaltschaft hat den Turnlehrer wegen Mordes angeklagt.» Es wird weiter dargelegt, dass die beiden sich heftig gestritten hätten über eine allfällige Zentralamerika-Reise zur Covid-Zeit. Im weiteren Text wird mit einer Psychotherapeutin darüber gesprochen, ob und wie Kinder eine solche «geballte Ladung Tragik» verarbeiten könnten. Insgesamt ist bezüglich des ersten Falles noch einmal vom «Mordfall» und zweimal von den beiden «Gewaltverbrechen» die Rede.

B. Am 23. Juli 2023 reichte X., der als Täter Beschuldigte im ersten Tötungsfall, Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, die Beiträge von «blick.ch» und «Luzerner Zeitung» verletzten die Richtlinie 7.1 (Persönlichkeitsschutz) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») sowie die Richtlinien 7.2 (Identifizierung) und 7.4 (Unschuldsvermutung). Im Weiteren moniert er verschiedene Ungenauigkeiten in den Texten, allerdings ohne explizit Verstösse gegen die Wahrheitspflicht (Ziffer 1, Richtlinie 1.1) geltend zu machen. Und er beanstandet weiter, sein Bild sei ohne seine Zustimmung – vermutlich von seinem WhatsApp-Account – heruntergeladen und erst noch unzureichend verpixelt veröffentlicht worden.

Der Beschwerdeführer begründet seine Anträge damit, dass er zwar derjenige sei, welcher den Tod der Kindsmutter herbeigeführt habe, dass es dabei aber nicht um eine strafbare Handlung gegangen sei, sondern um einen medizinisch-neurologisch begründeten, im juristischen Sinn schuldbefreienden Notwehrexzess in Todesangst, nachdem er, geschwächt durch Krankheit im Bett liegend, von der Frau mit einem Messer angegriffen worden sei. Infolgedessen bildeten auf «blick.ch» die Ausdrücke «Tötungsdelikt», «Täter», «Gewaltverbrechen», «brutal getötet», «grauenvolles Verbrechen», «er nahm den drei Tessiner Kindern die Mutter» Vorverurteilungen, welche gegen die Unschuldsvermutung verstiessen. Sie verletzten in diesem Sinne auch seine Persönlichkeitsrechte. Zudem werde er mit «Deutschschweizer, 33 Jahre alt», «mutmasslicher Täter von Emmenbrücke» und vor allem mit dem Bild, das charakteristische Teile seines Gesichts zeige, in einem zu weitgehenden Masse identifiziert. Das Bild stamme im Übrigen von seinem WhatsApp-Account und werde ohne Berechtigung publiziert.

Dasselbe, Verstösse gegen die Unschuldsvermutung, gelte für die «Luzerner Zeitung» hinsichtlich der Charakterisierungen «… zuerst ihre Mutter (…) ermordet …», «… bereits ihre Mutter durch ein Gewaltverbrechen verloren …», «Mordfall in Emmenbrücke», «zwei Kapitalverbrechen», «zweimal indirekt Opfer eines Gewaltverbrechens», «zweier schlimmer Verbrechen». Auch dies seien Vorverurteilungen und in diesem Sinne auch Verletzungen seiner Persönlichkeit. Zudem werde auch hier zu viel erwähnt, was ihn über seinen engeren Kreis hinaus erkennbar werden lasse («Wohnung in Emmenbrücke», «Turnlehrer»).

C. Mit Beschwerdeantwort vom 17. Oktober 2023 beantragte der Chefredaktor der Zentralredaktion von «CH Media», Patrik Müller, namens der «Luzerner Zeitung», die Beschwerde sei abzuweisen. Er begründet dies hinsichtlich des Verstosses gegen die Unschuldsvermutung (Richtlinie 7.4) damit, dass am Ursprung der gesamten Berichterstattung eine Medienmitteilung der Luzerner Strafuntersuchungsbehörden gestanden habe, welche von einem «Tötungsdelikt» berichtet habe. Für die Redaktion habe kein Anlass bestanden, einen anderen Begriff als diesen zu wählen. Erstens aufgrund der damals schon bekannten Tatumstände und zweitens, weil als «Tötungsdelikt» gemeinhin alles an Vorfällen mit Todesfolge bezeichnet werde, was nicht als Suizid oder Unfall gelte. Im Weiteren sei die Unschuldsvermutung explizit angesprochen worden. Der Ausdruck «Mordfall» stützte sich auf eine Medienmitteilung der Luzerner Staatsanwaltschaft, aus welcher hervorgegangen sei, dass der Beschwerdeführer wegen Mordes beim Kriminalgericht des Kantons angeklagt werde. Wenn der Beschwerdeführer von bewiesenen Umständen spreche, die ihn vollends entlasteten, dann sei dies eine Schutzbehauptung, er könne sich nicht auf eine Unschuld berufen, die er selber feststelle. Und hinsichtlich der zu weit gehenden Identifizierung (Richtlinie 7.2) sei nur festgehalten worden, dass der Beschwerdeführer Turnlehrer sei. Wo er wohne sei nicht angesprochen worden, sondern nur, dass die Leiche der Frau in einer Wohnung in Emmenbrücke gefunden worden sei. Das reiche bei Weitem nicht aus, um den Beschwerdeführer über seinen engen Kreis hinaus identifizierbar werden zu lassen.

D. Am 8. April 2024, nach einer Nachfrist, nahm die anwaltschaftlich vertretene Redaktion von «blick.ch» Stellung zur Beschwerde und beantragte deren Abweisung. Der Artikel fokussiere auf das tragische Schicksal der drei Kinder der Verstorbenen. Hinsichtlich des ersten Todesfalles halte der Artikel – was die Unschuldsvermutung angehe – nur fest, was die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten vorwerfe. Und das sei gravierend. Immerhin fordere diese eine lebenslängliche Haftstrafe. Der Artikel halte aber fest: «Der Prozess gegen Julian P. wird noch erwartet.» Damit sei die Berichterstattung nicht vorverurteilend. Dass der Angeklagte «aus Eifersucht gehandelt» haben soll, gehe ebenfalls aus der Anklage hervor, das sei im Text mit «offenbar» zum Ausdruck gebracht. Und was den Schutz der Privatsphäre und die Identifizierung anbelangt sei der Artikel unbedenklich. Die Angaben von Alter, «Deutschschweizer» und «Emmenbrücke» machten den Beschwerdeführer nicht identifizierbar im Sinne von Richtlinie 7.2, also nicht über den Kreis der Familie und das berufliche Umfeld hinaus. Auch decke das Foto das Gesicht des Angeklagten mit dem eingefügten Balken «vollkommen ab». Schliesslich verweist «blick.ch» auf die Stellungnahme 4/2022 des Presserats, in welcher es um einen früheren «Blick»-Artikel über den gleichen Vorgang, verfasst unmittelbar nach der Tat, gegangen war. Schon dort sei die Redaktion vom Presserat nicht gerügt worden. Der vorliegende Artikel gehe beim Schutz der Privatsphäre aber noch weiter als der damalige.

E. Am 29. Mai 2024 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

F. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 23. Oktober 2024 verabschiedet.


II. Erwägungen

1. Der Presserat hat zur Berichterstattung über den ersten der beiden hier zur Diskussion stehenden Todesfälle schon zweimal Stellung genommen: In Stellungnahme 4/2022 zu Berichten unmittelbar nach Bekanntwerden der Tat und in Stellungnahme 9/2024 zur Berichterstattung, nachdem die Anklage wegen Mordes bekanntgegeben wurde. Im Unterschied zu damals ist mit dieser dritten Beschwerde heute nicht nur bekannt, dass es nach Auffassung der Untersuchungsbehörden um einen Mordfall geht (Mord bezeichnet eine vorsätzliche Tötung, die besonders skrupellos, mit besonders verwerflichem Beweggrund begangen wird), sondern auch, dass der Beschwerdeführer identisch ist mit dem Angeklagten jener Tötung. Das ändert insofern etwas an der Beurteilung der in allen Eingaben immer gleichen Fragen (Vorverurteilung? Identifikation des Beschuldigten?), als jetzt bekannt ist, wovon der Betreffende, der Täter selber, ausgeht. Nämlich davon, dass er trotz seiner Tötungshandlungen geltend macht, dass es dabei aber nicht um eine strafbare Handlung gegangen sei, sondern um einen medizinisch-neurologisch begründeten, im juristischen Sinn schuldbefreienden Notwehrexzess in Todesangst., nachdem er, geschwächt durch Krankheit im Bett liegend, von der Frau mit einem Messer angegriffen worden sei Das heisst, es war zu jenem Zeitpunkt nicht hundertprozentig auszuschliessen, dass der Angeklagte freigesprochen werden könnte, obwohl er mehrfach zugestochen und den Tod der Frau verursacht hat.

2. Das ändert aber nichts daran, dass die von «blick.ch» verwendeten Ausdrücke «Tötungsdelikt», «Täter», «Gewaltverbrechen», «brutal getötet», «grauenvolles Verbrechen», «er nahm den drei Tessiner Kindern die Mutter» nicht falsch und letztlich auch nicht klar vorverurteilend sind. Das gilt selbst für die problematische Formulierung «offenbar aus Eifersucht brutal getötet». Die Eifersucht (welche die Staatsanwaltschaft dem Anschein nach annimmt) ist mit einem «offenbar» relativiert und das wertende «brutal» ist angesichts der vielen Stichverletzungen beim Opfer zulässig. Auch wenn ein Gericht den Beschuldigten schliesslich freispräche, würde sich nichts daran ändern, dass der Beschwerdeführer die Frau getötet hat. Das Strafgesetzbuch bezeichnet den Ausführenden einer Tat selbst dann als «Täter», wenn er in einem entschuldbaren Notstand gehandelt hat (Art. 18 StGB). Es kommt hinzu, dass die Staatsanwaltschaft nach Prüfung aller Umstände von einem Mord ausgeht. In einem derartigen Fall nur von «Verursacher» und von einem «fraglichen Vorgang mit Todesfolge» zu schreiben, erschiene verharmlosend.

Der Rat mahnt jedoch zu zurückhaltender Terminologie. Die «Luzerner Zeitung» schreibt zum Beispiel vom «Mordfall in Emmenbrücke». Mit Begriffen wie «Mord» sollte sorgsam umgegangen werden, insbesondere wenn noch kein Gerichtsprozess stattgefunden hat, sondern erst die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vorliegt.
Mord ist eine besonders qualifizierte, hoch zu bestrafende Form eines Tötungsdelikts. Die dafür erforderliche besonders verwerfliche Gesinnung zu insinuieren, bevor ein Urteil vorliegt, ist problematisch. Auch müsste der Hinweis auf die Unschuldsvermutung deutlicher erfolgen als – wie auf «blick.ch» – mit der Formulierung, der Prozess stehe noch aus.

Aber insgesamt liegen nach Auffassung des Presserats keine klaren Verstösse gegen die Unschuldsvermutung vor.

3. Was die Frage betrifft, ob die Angaben über den Täter diesen über den Kreis der Familie und des beruflichen Umfeldes hinaus erkennbar werden lassen, sind keine zusätzlichen Elemente im Vergleich zu den früheren Beschwerden festzustellen, im Gegenteil, beide Publikationen haben sich hier im Sinne von Richtlinie 7.2 (Identifizierung) zurückgehalten. Allerdings mit einer Ausnahme, nämlich dem Bild des mutmasslichen Täters auf «blick.ch». Dort wurde zwar der Bereich der Augen abgedeckt, nicht aber die sehr charakteristisch erscheinende Mund- und Kinnpartie. Es ist davon auszugehen, dass nicht nur LehrerkollegInnen oder Schülerinnen oder Schüler den als Turnlehrer Bezeichneten anhand dieses Bildes erkennen. Dadurch ist er über den Kreis der Familie und des beruflichen Umfeldes hinaus erkennbar. In diesem Punkt verstiess «blick.ch» gegen die Richtlinie 7.2 (Identifizierung).

4. Schliesslich macht der Beschwerdeführer geltend, sein Bild sei ohne seine Zustimmung verwendet worden. Der Presserat geht davon aus, dass er damit einen Verstoss gegen Ziffer 4 (unlautere Beschaffung von Bildern) in Verbindung mit Richtlinie 7.1 (Recht am eigenen Bild) moniert. Der Presserat hatte diesen Punkt in Entscheid 9/2024 nicht angesprochen, weil das Konterfei des Beschuldigten damals vollkommen verpixelt und gar nicht erkennbar war. Das ist mit dem vorliegenden Artikel – wie unter Erwägung 3. festgestellt – anders. Falls das Bild nicht auf einer an die Öffentlichkeit gerichteten Plattform wie «X» aufgeschaltet war (vgl. Stellungnahme 65/2021, der Beschwerdeführer vermutet «WhatsApp» als Ausgangsplattform), hätte eine Zustimmung für die Veröffentlichung eingeholt werden müssen, was offensichtlich nicht der Fall war. Die Richtlinie 7.1 (Recht am eigenen Bild) ist mit der Abbildung verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde gegen die «Luzerner Zeitung» ab.

2. Die «Luzerner Zeitung» hat mit dem Artikel «Das Schicksal schlägt doppelt zu», veröffentlicht am 5. Juni 2023, die Ziffer 7 (Schutz der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.

3. Der Presserat heisst die Beschwerde gegen «blick.ch» teilweise gut.

4. «blick.ch» hat mit dem Artikel «Kinder verlieren ihre Eltern bei zwei verschiedenen Tötungsdelikten» vom 12. Mai 2023 Ziffer 7 (Identifizierung / Recht am eigenen Bild) der «Erklärung» verletzt.

5. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.