Nr. 3/2023
Unterschlagen wichtiger Informationen / Schutz der Privatsphäre

(X. c. «20 Minuten online»)

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Zusammenfassung

Am 2. Mai 2022 veröffentlichte «20 Minuten online» einen Artikel mit der Oberzeile «Ukraine ist sich sicher» und dem Titel «Diese zehn Männer haben in Butscha gemordet und gefoltert». Darunter findet sich eine Bildstrecke mit den Porträts von jungen Männern, die alle namentlich genannt und eindeutig zu erkennen sind. Ein Leser erhob dagegen Beschwerde: «20 Minuten online» entstelle Tatsachen und verletze mit der Verwendung von Bildern und Namen die Privatsphäre der abgebildeten Personen.

Der Presserat kommt zum Schluss, dass aus dem Inhalt des Artikels deutlich genug hervorgeht, dass es sich bei der Oberzeile um eine Vermutung handelt. «20 Minuten online» hat demnach keine wichtigen Elemente von Informationen unterschlagen und nicht gegen den Berufskodex verstossen. Anders verhält es bei der Verwendung der Bilder und der Namensnennung. Bei den zehn Personen handelt es sich mutmasslich um russische Staatsangehörige, die möglicherweise Kriegsbeteiligte des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine sind. In diesem Fall ist das private Interesse der Abgebildeten höher zu werten als das öffentliche Interesse an einer identifizierenden Berichterstattung. Die Informationen stammten offensichtlich von den ukrainischen Behörden. Doch selbst wenn eine Strafverfolgungsbehörde Namen zur Publikation freigibt, entbindet dies Medienschaffende nicht von der Pflicht, nach berufsethischen Kriterien zu prüfen, ob eine Namensnennung gerechtfertigt ist. Medienschaffende sollten nicht reflexartig publizieren, was Behörden zur Publikation freigeben. Der Presserat kommt zum Schluss, dass die Privatsphäre der zehn Personen verletzt wurde.

Résumé

Le 2 mai 2022, « 20 Minuten online » a publié un article avec le titre principal «Ukraine ist sich sicher» (L’Ukraine en est sûre) et le titre «Diese zehn Männer haben in Butscha gemordet und gefoltert»(Ces dix hommes ont tué et torturé à Boutcha). En dessous, on trouve une série de photos avec les portraits de jeunes hommes, tous nommés et clairement reconnaissables. Un lecteur a porté plainte contre cette publication : « 20 Minuten online » déforme les faits et viole la sphère privée des personnes représentées en utilisant des images et des noms.

Le Conseil suisse de la presse considère que l’article met suffisamment en avant le fait que le titre principal est une supposition. « 20 Minuten online » n’a donc pas dissimulé d’éléments d’information importants et n’a pas enfreint le Code de déontologie. Il en va autrement de l’utilisation des images et de la mention des noms. Les dix personnes photographiées sont vraisemblablement des ressortissants russes potentiellement impliqués dans le conflit entre la Russie et l’Ukraine. Si tel est le cas, l’intérêt privé de ces personnes dépasse l’intérêt public à une information permettant de les identifier. Même si les autorités de poursuite pénale fournissent des noms, les journalistes ne sont pas dispensés de l’obligation de vérifier à l’appui de critères d’éthique professionnelle si la publication desdits noms se justifie. Les journalistes ne devraient pas publier par réflexe les informations fournies par les autorités, et ce d’autant moins lorsqu’il s’agit d’un belligérant. En pareille situation, ils devraient mener leurs propres réflexions en rapport avec l’éthique professionnelle et faire preuve d’esprit critique vis-à-vis des autorités. Le Conseil suisse de la presse infère de ce qui précède que l’article viole la sphère privée des dix personnes.

Riassunto

Il 2 maggio 2022, «20 Minuten online» ha pubblicato un articolo con l’occhiello «Ukraine ist sich sicher» (L’Ucraina è sicura) e il titolo «Diese zehn Männer sollen in Butscha gemordet und gefoltert haben» (A Butscha, questi dieci uomini hanno ucciso e torturato). Un lettore ha inoltrato un reclamo, ritenendo che «20 Minuten online» abbia distorto i fatti e violato la privacy delle persone ritratte, diffondendone le foto e i nomi.

Il Consiglio della stampa giunge alla conclusione che l’articolo sottolinea con sufficiente chiarezza che quanto appare nella didascalia è una supposizione e che di conseguenza la «Dichiarazione» non è stata violata. Per quanto riguarda l’uso delle immagini e dei nomi, il Consiglio giunge a una conclusione diversa. Le dieci persone in questione sono presumibilmente cittadini russi che potrebbero essere coinvolti nel conflitto tra Russia e Ucraina. In questo caso, l’interesse privato delle persone ritratte è superiore all’interesse pubblico per una loro identificazione nel reportage. L’informazione sembra provenire dalle autorità ucraine. Tuttavia, anche quando le forze dell’ordine rilasciano
i nomi per la pubblicazione, ciò non esime i professionisti dei media dall’obbligo di verificare, secondo i criteri etici professionali, se la divulgazione del nome è giustificata. I giornalisti non dovrebbero pubblicare per riflesso ciò che le autorità rendono pubblico. Il Consiglio della stampa conclude che la privacy delle dieci persone è stata violata.

I. Sachverhalt

A. Am 2. Mai 2022 publizierte «20 Minuten» online einen Artikel unbekannter Autoren mit der Oberzeile «Ukraine ist sich sicher» und dem Titel «Diese zehn Männer haben in Butscha gemordet und gefoltert» (Teaserbild) bzw. «Diese zehn Männer sollen in Butscha gemordet und gefoltert haben» (Artikel). Der Lead ergänzt: «Das Massaker an Zivilistinnen und Zivilisten in Butscha steht exemplarisch für die Grauen des Krieges. Die Ukraine will nun zehn Männer identifiziert haben, die im Kiewer Vorort Kriegsverbrechen begangen haben sollen.» Der Artikel hält fest, dass die Ukraine zehn Männer identifiziert habe, welche im Kiewer Vorort Butscha Kriegsverbrechen begangen hätten. Die Fotos mit den vollen Namen haben die Quellenangabe Twitter/DefenceU. Dabei handelt es sich um eine ukrainische Regierungsorganisation. Hauptteil des kurzen Artikels bilden die Namen eben dieser Personen sowie deren Fotos. Danach folgt eine kurze Erläuterung zum Massaker in Butscha, für welches die Ukraine Russland verantwortlich mache. Russland bestreite dies. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft habe zehn junge Männer mit Namen identifiziert und deren Fotos veröffentlicht. Nach Angaben der Ukraine suche diese nach «zehn russischen Schlächtern der 64. motorisierten Brigade als Verdächtige des Massakers».

B. Am 2. Mai 2022 reichte X. Beschwerde gegen den Artikel beim Schweizer Presserat ein. Der Beschwerdeführer kritisiert, dass «20 Minuten» Lynchjustiz betreibe und Wasserträger für eine Kriegspartei sei. Es werde entgegen dem Grundsatz in dubio pro reo vorgegaukelt, dass die Situation rechtlich klar sei. Mit dem Titel habe «20 Minuten» Tatsachen entstellt und gegen Ziffer 3 (Unterschlagung wichtiger Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») verstossen. Bei der Verwendung von Bildern und Namen handle es sich um einen Verstoss gegen Ziffer 7 der «Erklärung» (Privatsphäre). Das öffentliche Interesse verlange, dass keine privaten Daten und Bilder veröffentlicht würden.

C. Am 12. Juli 2022 nahm der Rechtsdienst der TX Group im Namen und Auftrag der Redaktion von «20 Minuten» zu den Vorwürfen des Beschwerdeführers Stellung. Die Redaktion hält fest, der Artikel habe keine Tatsachen entstellt und auch keine Persönlichkeitsrechte widerrechtlich verletzt. Aufgrund der Soll-Formulierung sei klar, dass es sich um einen Verdacht handle, sodass die Unschuldsvermutung gewahrt bleibe. Zudem sei die Quelle, die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft, genannt. Ebenfalls festgehalten sei, dass Russland die Massaker bestreite. Zwischenzeitlich hätte aber auch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte Evidenz für Kriegsverbrechen vorgelegt. Folglich habe «20 Minuten» keine wichtigen Informationen unterschlagen.

Des Weiteren liege keine Verletzung der Persönlichkeitsrechte gemäss Ziffer 7 der «Erklärung» vor. «20 Minuten» argumentiert, bei den publizierten Bildern handle es sich um Fahndungsfotos, die im Sinne der Strafverfolgung gezeigt werden dürften. Das öffentliche Interesse an der Veröffentlichung der Bilder und Namen der mutmasslichen Täter überwiege. Beim Abwägen zwischen Persönlichkeitsschutz und öffentlichem Interesse sei dem Prinzip der Verhältnismässigkeit Rechnung getragen worden.

D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu. Ihr gehören Jan Grüebler (Kammerpräsident), Annika Bangerter, Monika Dommann, Christina Neuhaus, Simone Rau, Pascal Tischhauser und Hilary von Arx an.

E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 14. November 2022 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Der Beschwerdeführer sieht die Ziffern 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) und 7 (Privatsphäre) der «Erklärung» als verletzt an. In Bezug auf Ziffer 3 der «Erklärung» macht er geltend, dass «20 Minuten» Lynchjustiz betreibe und unterschlagen habe, dass in Bezug auf die genannten Personen die Unschuldsvermutung gelte. Dazu hielt die Redaktion fest, dass die von ihr gewählte Soll-Formulierung klar gemacht habe, dass es sich um einen Verdacht handle. Zudem sei die Quelle der Information klar benannt worden und auch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hätte inzwischen Evidenz für Kriegsverbrechen vorgelegt.

Die Unschuldsvermutung hindert Medienschaffende nicht, pointiert zu kommentieren und Partei zu ergreifen. Sie sollten aber zumindest darauf hinweisen, ob es sich um einen Verdacht handelt oder ob eine Verurteilung vorliegt. Diesbezüglich ist festzustellen, dass Oberzeile und Titel des Teaserbilds auf die Soll-Formulierung verzichten und es dort heisst: «Ukraine ist sich sicher. Diese zehn Männer haben in Butscha gemordet und gefoltert». Der Verzicht auf die Soll-Formulierung im Teaserbild könnte dazu führen, dass ein Durchschnittsleser von einer Verurteilung dieser zehn Männer ausgeht. Im Artikel selbst heisst der Titel jedoch: «Diese zehn Männer sollen in Butscha gemordet und gefoltert haben». Diesem Titel folgt sodann ein Lead, der deutlich macht, dass es sich um eine Vermutung handelt. Basierend darauf ist davon auszugehen, dass eben keine Verurteilung vorliegt, sondern es sich um eine Vermutung bzw. Anschuldigung der Ukraine handelt. Zudem steht im Text: «Moskau bestreitet dies und beschuldigt die Ukraine, die Morde inszeniert zu haben.» Auch wenn die Formulierung im vorliegenden Kontext nicht unproblematisch ist, liegt keine Verletzung von Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) der «Erklärung» vor.

2. Weiter moniert der Beschwerdeführer die Verletzung von Ziffer 7 (Schutz der Privatsphäre) der «Erklärung» in Bezug auf die Namensnennung und Abbildung der zehn Soldaten. In Richtlinie 7.2 zur identifizierenden Berichterstattung heisst es: «Journalistinnen und Journalisten wägen die beteiligten Interessen (Recht der Öffentlichkeit auf Information, Schutz der Privatsphäre) sorgfältig ab.» Der Journalistenkodex listet mehrere Gründe auf, wann eine identifizierende Berichterstattung zulässig ist. Diese ist zum Beispiel zulässig, wenn «die Namensnennung oder identifizierende Berichterstattung anderweitig durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist». Das öffentliche Interesse an einer Publikation muss jedoch abgewogen werden gegen die Gefahr, die Privatsphäre der abgebildeten Personen zu verletzen. Die Redaktion macht geltend, dass es sich bei den publizierten Bildern um Fahndungsfotos handle, welche im Sinne der Strafverfolgung gezeigt werden dürften. Das öffentliche Interesse an der Publikation der Namen und der Bilder überwiege und dem Prinzip der Verhältnismässigkeit sei Rechnung getragen worden.

Zur Diskussion steht, ob hier eine identifizierende Berichterstattung durch das Veröffentlichen der Bilder und Namen möglicher Kriegsverbrecher zulässig ist. Der Presserat hat dazu bereits verschiedentlich Stellung genommen, insbesondere in zwei grundlegenden Stellungnahmen (8/1994 und 6/2003). In Erwägung 1 von Stellungnahme 30/2009 hielt der Presserat sodann fest, dass identifizierendes Berichten im Fall eines zur Fahndung ausgeschriebenen flüchtigen Gewalttäters zulässig sein kann, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Kenntlichmachung besteht. Der Schutz der Privatsphäre gilt grundsätzlich auch für vermutete und/oder verurteilte Straftäter (Entscheid 9/2014). Selbst wenn Strafverfolgungsbehörden, vorliegend die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft, Namen zur Publikation freigeben, entbindet dies Medienschaffende nicht von der Pflicht, ihrerseits nach berufsethischen Kriterien zu prüfen, ob eine Namensnennung gerechtfertigt ist. Medienschaffende sollten nicht reflexartig publizieren, was Behörden zur Publikation freigeben. Das gilt besonders, wenn es sich um eine Kriegspartei handelt. Vielmehr wird von Journalistinnen und Journalisten erwartet, in derartigen Situationen eigenständige berufsethische Überlegungen anzustellen. Dazu gehört aus Sicht des Presserates im konkreten Fall, das Handeln der Behörde in Bezug auf die Freigabe von Namen und Bildern kritisch zu hinterfragen.

Vorliegend ist die Generalklausel des «überwiegenden öffentlichen Interesses» näher zu prüfen. Wie bereits in Stellungnahme 6/2003 sowie 26/2013 ausgeführt, liegt die Aufklärung von Delikten und die möglichst genaue Ermittlung der Tatumstände durch die Strafverfolgungsbehörden im öffentlichen Interesse. Dieses wiegt aber nur dann schwerer als das Interesse am Schutz der Privatsphäre, wenn unmittelbare Gefahr besteht. Dies ist aber vorliegend nicht der Fall. Bei den zehn Personen handelt es sich mutmasslich um russische Staatsangehörige, welche möglicherweise Kriegsbeteiligte des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine sind. Unter Berücksichtigung dessen sowie des Voranstehenden hätte die Interessenabwägung der Redaktion zu einem anderen Resultat führen müssen. Es besteht allenfalls ein öffentliches Interesse für die Publikation von Namen und Fotos aus der Perspektive der Ukraine, nicht aber in Bezug auf ein Schweizer Publikum. «20 Minuten» hätte in diesem Fall von einer identifizierenden Berichterstattung absehen müssen.

III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerde teilweise gut.

2. «20 Minuten online» hat mit dem Artikel «Diese zehn Männer haben in Butscha gemordet und gefoltert» bzw. «Diese zehn Männer sollen in Butscha gemordet und gefoltert haben» vom 2. Mai 2022 die Ziffer 7 (Schutz der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.