Nr. 37/2000
Wahrheitswidriger Vergleich mit dem Dritten Reich

(Ogi c. „Zeit-Fragen“) Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 3. November 2000

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I. Sachverhalt

A. Die in Zürich erscheinende Wochenzeitung „Zeit-Fragen“ veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom 14. August 2000 zwei einander sehr ähnlich sehende Karikaturen. Die eine entstammt dem „Nebelspalter“ von 1937 und zeigt einen kleinen, stramm stehenden Schweizer Frontisten, der die Rechte zum Hitlergruss erhebt und mit der Linken nach hinten die hohle Hand macht, um Geld in Empfang zu nehmen, das ihm eine grosse, aus der dunklen Kulisse herausragende Nazi-Hand entgegenstreckt. Die von damals stammende Bildlegende lautet: „Die Unabhängigkeitsbewegung der eidgenazischen Front“. Die andere Karikatur zeigt einen kleinen, uniformierten Bundespräsidenten Adolf Ogi, der mit der Rechten einen Friedenszweig hochhält und der von einer aus der Kulisse hervorlugenden grossen Nato-Hand an der Kette gehalten wird. Am Kulissen-Vorhang prangen die Europa-Sterne, hinter der Vorhang-Öffnung wird die Flagge der USA sichtbar. Die von der Redaktion der „Zeit-Fragen“ gesetzte Bildlegende lautet: „Ogi als Anschluss-Bundesrat“. Über den beiden Karikaturen steht der Titel: „Die Schweiz 1937 und der heutige Pilet-Golaz-Bundesrat: Zuerst alle Neutralen – der Rest geht dann schnell“. Ergänzt werden die Karikaturen durch ein Zitat aus dem Bauernkriegs-Buch von Hans Mühlestein, mit dem Schlusssatz: „Ja, die eigene Herrenklasse der Schweiz, gut bezahlt von ausländischen Fürsten der totalitären Gewalt, gab sich als zupackende Faust her, um den letzten Funken der Freiheit im Herzen des Kontinents zu ersticken.“

B. Im Namen von Bundespräsident Adolf Ogi erhob Informationschef Dr. Oswald Sigg am 28. August 2000 beim Presserat gegen diese Darstellung Beschwerde.

C. Chefredaktorin Erika Vögeli von der Wochenzeitung „Zeit-Fragen“ widersetzte sich mit einem Schreiben vom 14. September 2000 der Beschwerde.

D. Der Presserat wies den Fall der 1. Kammer zu, der Roger Blum als Präsident und Marie-Louise Barben, Luisa Ghiringhelli, Silvana Ianetta, Philip Kübler, Katharina Lüthi und Edy Salmina als Mitglieder angehören. Die Kammer behandelte den Fall an ihrer Sitzung vom 3. November 2000 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. „Zeit-Fragen“, die „Wochenzeitung für freie Meinungsbildung, Ethik und Verantwortung“, kann sich nach freiem Ermessen in die politischen Auseinandersetzungen einschalten. Die Meinungsäusserungsfreiheit steht ihr zu wie allen anderen Medien und allen übrigen Bürgerinnen und Bürgern auch.

2. Zur Meinungsäusserungsfreiheit gehört auch das Recht, sich der Satire zu bedienen. Die Satire ist eine kommentierende journalistische Darstellungsform. Im Unterschied zum eigentlichen Kommentar oder Leitartikel darf sie nicht nur zuspitzen, sondern auch übertreiben. Laut Kurt Tucholsky bläst sie die Wahrheit auf, damit die Wahrheit deutlicher wird. Die Satire geht also immer von einem wahren Kern aus. Was überzeichnet wird, darf daher nicht frei erfunden sein, denn auch eine virtuos vorgetragene Unwahrheit bleibt eine Lüge. Die Satire geniesst zwar einen weiten Spielraum, aber nur insoweit, als sie über etwas Wahres spottet (Vgl. die Stellungnahme des Presserates vom 7. November 1996 i.S. EMD c. „Nebelspalter“, Sammlung 1996, S. 104ff.). Die Karikatur ist eine gezeichnete Form der Satire.

3. Es ist unbestritten, dass Bundespräsident Adolf Ogi die Schweiz gegenüber Europa und der Welt öffnen will und ihre weitere Annäherung an die Europäische Union, die Zusammenarbeit mit der Nato und bewaffnete friedenspolitische Einsätze der Armee im Ausland befürwortet. Den Medien ist es unbenommen, diese Positionen zu kritisieren. Solche Kritik gehört zum demokratischen Diskurs. Die Kritik kann angriffig, polemisch und hart sein. Doch sie muss sich an die Wahrheit halten.

4. Dr. Oswald Sigg argumentierte im Namen von Bundespräsident Adolf Ogi, dass die Darstellung, gegen die sich die Beschwerde richtet, ehrenrührig und verleumderisch sei, dass sie der Wahrheit widerspreche und durch diskriminierende und diffamierende Anspielungen die Menschenwürde von Bundespräsident Ogi verletze. Damit habe „Zeit-Fragen“ die Ziffern 1 (Wahrheit) und 8 (Diskriminierung) der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“verletzt. Sinngemäss machte er damit zudem auch eine Verletzung von Ziffer 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) geltend.

5. Chefredaktorin Erika Vögeli beanstandete, dass sich die Beschwerde isoliert gegen die Darstellung auf der Titelseite und nicht gegen den Artikel über Adolf Ogi auf Seite 2 richte. Ogi müsse sich Kritik gefallen lassen. Das Delikt der Majestätsbeleidigung gebe es nicht mehr. Die Zeitung habe weder die Privatsphäre noch die Geheimsphäre Ogis thematisiert. Solange der Text von Hans Mühlestein richtig zitiert sei, könne man nicht gegen die Wahrheit verstossen. Was allenfalls ehrenrührig oder verleumderisch sei, müsste ein Gericht überprüfen.

6. Die Chefredaktion von „Zeit-Fragen“ versuchte offensichtlich, die Absicht des Frontseiten-Beitrags (mit Karikatur, Titel, Legenden und Zitat) zu verwedeln. Wäre nämlich allein die aktuelle Karikatur mit dem an die Kette der Nato und der Europäischen Union gelegten Bundespräsidenten Ogi veröffentlicht worden, so hätte dagegen aus berufsethischer Sicht wenig eingewendet werden können, weil damit in zwar extremer Überzeichnung und einseitig, aber in satirischer Form die Interdependenz zwischen der Schweiz und ihren wichtigsten Partnern zum Ausdruck gebracht worden wäre. Auch die Anspielung auf Pilet-Golaz mag trotz dessen Anpassungsbereitschaft noch hingehen, denn Pilet-Golaz war kein Quisling und kein Seyss-Inquart. Die veröffentlichte Doppel-Karikatur ist jedoch eindeutig darauf angelegt, Ogi mit einem Frontisten, und die Europäische Union bzw. die Nato und die USA mit dem nationalsozialistischen Dritten Reich gleich zu setzen.

7. Die Gleichsetzung Adolf Ogis mit einem Fronstisten und mit einem Anschluss-Befürworter ist eindeutig wahrheitswidrig. Denn die Frontisten waren direkte oder indirekte Parteigänger Hitlers; viele von ihnen wurden zu Landesverrätern. Und „Anschluss“ spielt auf die 1938 erfolgte Eingliederung Österreichs ins Dritte Reich an, die eine einzige Erpressung war. Der gegenwärtige Bundesrat will indessen keinen diktierten Anschluss der Schweiz an die EU (oder gar an die Nato), sondern faire und freie Verhandlungen mit Brüssel, denen eine Volksabstimmung folgt, bei der das Stimmgeheimnis gilt und eine freie Entscheidung möglich ist. Völlig wahrheitswidrig ist auch die Gleichsetzung der Europäischen Union mit dem Dritten Reich, weil zwischen einem gleichgeschalteten Führerstaat, in dem die Grundrechte aufgehoben waren und Staatsterror grassierte, und einer Union freiheitlich organisierter Demokratien ein fundamentaler Unterschied besteht (Vgl. hierzu auch die Stellungnahme 33/2000 vom 20. September 2000 i.S. Brühwiler / KVP Thurgau c. „Tagesspiegel“-Zeitungen). Ebenso können die USA und die Nato keinesfalls mit dem Dritten Reich gleichgesetzt werden. Mit diesem Versuch, Ogi wahrheitswidrig in schlechter Gesellschaft zu platzieren, hat „Zeit-Fragen“ die Ziffer 1 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletzt.

8. Dadurch, dass „Zeit-Fragen“ Ogi mit einem Frontisten vergleicht, als gehorsamen Trabanten ausländischer Mächte zeichnet und durch das Zitat von Hans Mühlestein sogar zum Landesverräter stempelt („Ja, die eigene Herrenklasse der Schweiz, gut bezahlt von ausländischen Fürsten der totalitären Gewalt, gab sich als zupackende Faust her, um den letzten Funken der Freiheit im Gerzen des Kontinents zu ersticken“), erhebt die Wochenzeitung ungerechtfertigte Anschuldigungen. Sie hat damit Ziffer 7 der „Erklärung“ verletzt.

9. Nicht verletzt ist hingegen Ogis Privatsphäre, denn die Anschuldigung
en beziehen sich auf seine öffentliche Rolle. Ebensowenig verletzt ist ferner Ziffer 8 der „Erklärung“. Die dort angesprochene Pflicht auf Unterlassung von diskriminierenden Anspielungen bezieht sich in erster Linie auf Gruppenzugehörigkeiten (Ethnie, Religion, Geschlecht usw.) oder Behinderungen. Zudem ist die Veröffentlichung der sachlich ungerechtfertigten Vorwürfe gegen Bundespräsident Ogi – wie oben ausgeführt – berufsethisch war klar zu verurteilen, die Art und Weise der Darstellung erscheint aber nicht als derart erniedrigend, dass dadurch die Menschenwürde von Adolf Ogi verletzt worden wäre.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Mit der Doppel-Karikatur, die Bundespräsident Adolf Ogi mit einem Frontisten und „Anschluss“-Befürworter und die Europäische Union sowie die Nato und die USA mit dem Dritten Reich gleichsetzte, hat die Wochenzeitung „Zeit-Fragen“ ungerechtfertigte Anschuldigungen erhoben und die Wahrheit missachtet und somit die Ziffern 1 und 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletzt.

3. Die Satire geniesst einen grossen Spielraum, aber sie darf nur übertreiben, was auf einem wahren Kern beruht.