Nr. 56/2008
Wahrheitssuche / Unterschlagung wichtiger Informationen / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(Unia c. «Weltwoche») Stellungnahme des Presserates vom 25. November 2008

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Zusammenfassung

Resumé

Riassunto

I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Die Fertigmacher» veröffentlichte die «Weltwoche» am 6. September 2007 einen Artikel von Urs Paul Engeler zu Politik und Aktionen der Gewerkschaft Unia. Dieser wird vorgeworfen, sie nutze «fast das gesamte Repertoire, das mafiöse Vereinigungen zur Realisierung ihrer Egoismen entwickelt haben: überfallartige Kommandoaktionen, Einschüchterung, Drohung, Nötigung, Erpressung, Hetze, Kassieren von Schutzgeldern, öffentliche Fertigmache». Unter anderem werden die Haltung der Gewerkschaft zur Temporärarbeit, eine Aktion gegen die Berner Temporärfirma «Daily Job» sowie weitere Auseinandersetzungen im Baugewerbe thematisiert. Angesprochen wird insbesondere auch ein Konflikt zur Frage, welche gesamtarbeitsvertraglichen Lohnminima für ausgebildete Bauarbeiter aus dem EU-Raum gelten, die ihre Lehre nicht in der Schweiz absolviert haben.

B. Am 6. März 2008 gelangte die anwaltlich vertretene Gewerkschaft Unia an den Schweizer Presserat. Die Beschwerdeführerin rügt, die «Weltwoche» habe mit der Veröffentlichtung des obenerwähnten Artikels gegen folgende Bestimmungen der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» bzw. der dieser zugeordeten Richtlinien verstossen: Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche), Ziffer 3 (Unterschlagung wichtiger Informationen) sowie Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen).

Die «Weltwoche» stelle «die nachweislich falsche Behauptung» auf, die Gewerkschaften, im Speziellen die Unia, wollten generell die Temporärarbeit abschaffen. In diesem Zusammenhang werde eine Aussage der Unia verfälscht wiedergegeben. Der Kommunikationsbeauftragte der Unia, Nico Lutz, habe den Verfasser des Artikels auf die in dieser Sache differenziertere Haltung der Gewerkschaft hingewiesen und ihm entsprechende Unterlagen zugeschickt. Diese hätten dann allerdings keinen Eingang in den Artikel gefunden.

Ebenso habe Nico Lutz den Verfasser des Artikels, Urs Paul Engeler, per E-Mail darauf hingewiesen, dass die Interpretation der Unia, wonach die Bestimmungen der bilateralen Verträge über die Personenfreizügigkeit den Bestimmungen im Landesmantelvertrag für das Bauhauptgewerbe vorgehen, von der Schweizerischen Paritätischen Vollzugskommission geteilt werde. Die von «Daily Job» wie auch vom Präsidenten des Schweizerischen Baumeisterverbandes vertretene andere Lesart – die von der «Weltwoche» zitiert wurde – sei überholt. Entsprechend sei die Aktion der Unia gegen die Firma «Daily Job» gerechtfertigt gewesen, da die Firma sich nicht an die vorgeschriebenen Minimallöhne gehalten habe.

Vor allem aber sei die Unia nicht konkret mit dem Vorwurf eines im «Weltwoche»-Artikel anonym zitierten Firmenchefs konfrontiert worden, sie agiere «Gestapo-mässig». Dieser Vorwurf, mit dem die Unia in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt werde, wiege schwer. Deshalb hätte sie als beschuldigte Partei dazu vor der Publikation zwin-gend angehört werden müssen.

C. Am 6. August 2008 beantragte die ebenfalls anwaltlich vertretene Redaktion der «Weltwoche», die Beschwerde sei abzuweisen.

Die Haltung der Gewerkschaft zur Temporärarbeit werde weder falsch noch verkürzt wiedergegeben. Vielmehr habe sich der Verfasser des Artikels auf eine andere als die von der Beschwerdeführerin angeführte Quelle gestützt. Urs Paul Engeler habe die von der Beschwerdeführerin beanstandete Passage wortwörtlich von der Homepage der Unia übernommen.

Zudem habe der Verfasser des Artikels den Kommunikationsbeauftragten der Unia vor der Publikation telefonisch kontaktiert und ihn zu den darin enthaltenen Vorwürfen angehört. Die durch die Unia vertretene Rechtsauffassung zum Verhältnis von bilateralen Verträgen und Landesmantelvertrag sei danach als wichtige Ergänzung in den Artikel eingeflossen. Nicht mehr berücksichtigen können habe die «Weltwoche» hingegen die nachträglich vom Kommunikationsbeauftragten der Unia unabgesprochen per E-Mail zugestellten Ergänzungen. Als der Autor des Artikels davon Kenntnis nahm, sei der Artikel bereits im Druck gewesen.

Schliesslich werde der Vorwurf bestritten, die Beschwerdeführerin sei mit dem Vorwurf des «Gestapo-mässigen» Agierens nie konfrontiert worden. Gestützt auf ein E-Mail des Kommunikationsbeauftragten der Unia vom 3. September 2007 sei vielmehr davon auszugehen, dass der Beschwerdeführerin der gesamte Text zur Stellungnahme vorgelegen habe.

D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin an sowie Thomas Bein, Andrea Fiedler, Claudia Landolt Starck, Peter Liatowitsch, Daniel Suter und Max Trossmann.

E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 25. November 2008 sowie auf dem Korrespondenzweg

II. Erwägungen

1. Die «Weltwoche» berichtet im beanstandeten Bericht «Die Fertigmacher» einseitig und polemisch über Aktivitäten der Gewerkschaft Unia. Dies ist berufsethisch a priori erlaubt. Gemäss konstanter Praxis des Presserates kann weder aus der Ziffer 1 der «Erklärung» (Wahrheit) noch aus der zugehörigen Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) eine Pflicht zu objektiver Berichterstattung abgeleitet werden. Berufsethisch sind auch einseitige und fragmentarische Standpunkte zulässig. Allerdings müssen sich auch parteiergreifende Berichte an die Fakten halten und dürfen sie keine Informationen entstellen. Ebenso gilt die Pflicht, Betroffene vor der Publikation zu schweren Vorwürfen anzuhören, auch für subjektiv gefärbte, stark kommentierende Medienberichte.

2. a) Zum Thema Temporärarbeit schreibt die «Weltwoche» unter dem Zwischentitel: «Verbot der Temporärarbeit als Ziel»: «Am 1. Mai kündigten die Gewerkschafter unter den Titeln ‹Respekt› und ‹Arbeit für alle› an, dass sie die Temporärarbeit, die boomt und zurzeit rund 250’000 Menschen ein Einkommen ermöglicht, untersagen wollen. Gegen den starken gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Trend hin zu flexibleren Arbeitsmodellen erklären die Genossen die nicht mit langfristigen Verträgen fixierte Arbeit kurzerhand als menschenunwürdig. ‹Für die Betroffenen heisst dies unsichere Einkommen, ungewisse Arbeitszeiten, kaum mehr planbare Zukunft, mehr Gesundheitsschäden und Unfälle. – Respekt! Jetzt müssen die Arbeitgeber diese prekären Stellen in dauerhafte umwandeln. Alle sind am Aufschwung zu beteiligen.›»

b) Geht die «Weltwoche» mit dieser Darstellung der Gewerkschaftsforderungen zu weit, verzerrt sie die Fakten? Der Presserat verneint dies. Zwar gibt die «Weltwoche» die Haltung der Gewerkschaft zur Temporärarbeit wenig differenziert und stark zugespitzt wieder. Und tatsächlich forderte eine Resolution des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes vom 21. Mai 2007, auf die sich die Beschwerdeführerin beruft, bloss eine Beschränkung der Temporärarbeit «auf die Überbrückung von ausserordentlichen Kapazitätsspitzen sowie von vorübergehenden Abwesenheiten von Mitarbeiter/innen (etwa Krankheit und Mutterschaftsurlaub)». Faktisch würde die Umsetzung dieser Forderung aber trotzdem auf ein (Teil-)Verbot oder zumindest auf eine weitgehende Einschränkung von weiten Teilen der heute praktizierten Temporärarbeitsformen hinauslaufen.

Zudem beruft sich die «Weltwoche» auf die aktuelle Website der Beschwerdeführerin als Quelle. Dort ist die ablehnende Haltung zur Temporärarbeit unter dem Titel «Geregelte Arbeit statt Verwilderung» praktisch vorbehaltlos formuliert: «Temporärarbeit und Arbeit auf Abruf haben in den letzten Jahren stark zugenommen. Für die Betroffenen heisst dies unsichere Einkommen, ungewisse Arbeitszeiten, kaum mehr planbare Zukunft, mehr Gesundheitsschäden und Unfälle. – Respekt! Jetzt müssen die Arbeitgeber diese prekären St
ellen in dauerhafte umwandeln. Alle sind am Aufschwung zu beteiligen.›» Journalistisch war es unter Berufung auf das von der «Weltwoche» im Artikel wiedergegebene Zitat vertretbar, die Haltung der Unia auf die Kurzformel zu reduzieren, die Gewerkschaft wolle die Temporärarbeit abschaffen.

3. Ebenso hält die zweite Rüge der Beschwerdeführerin einer näheren Prüfung nicht stand, die «Weltwoche» habe die Auffassung des Präsidenten des Baumeisterverbandes zur Anwendbarkeit von Mindestlohnvorschriften auf ausgebildete Bauarbeiter aus dem EU-Raum zitiert, ohne darauf hinzuweisen, dass diese Interpretation überholt sei.

Zwar referiert die «Weltwoche» auch dieses Thema in polemischem Stil. Zudem wird das Verständnis der Leserschaft durch den Aufbau des Artikels nicht gerade vereinfacht, werden doch die unterschiedlichen Auffassungen zum Thema an auseinanderliegenden Stellen des Artikels wiedergegeben. Trotzdem ist aber festzustellen, dass die wichtigsten Fakten und Positionen im Bericht enthalten sind. Dies obwohl die «Weltwoche» die nachträglich per E-Mail zugestellten Präzisierungen des Kommunikationsbeauftragten der Unia aus nachvollziehbaren, produktionsbedingten Gründen nicht mehr berücksichtigen konnte. So ist die Position der Unia angeführt, wonach aufgrund der bilateralen Verträge über die Personenfreizügigkeit mit der EU deutsche Lehrabschlüsse bei der Bestimmung der massgebenden gesamtarbeitsvertraglichen Lohnminima entgegen dem Wortlaut des geltenden Gesamtarbeitsvertrages gleich wie schweizerische Lehrabschlüsse zu behandeln sind. Ebenso erwähnt die «Weltwoche», auch die LMV-Vollzugskommission für das Bauhauptgewerbe habe sich dieser neuen Auffassung angeschlossen. Die Leserschaft war unter diesen Umständen in der Lage, sich eine eigene Meinung zu diesem Lohnstreit zu bilden. Dies auch ohne den Hinweis auf die Auffassung der Unia, die vom Präsidenten des Baumeisterverbandes vertretene Interpretation sei überholt.

4. a) Am schwersten getan hat sich der Presserat mit der dritten Rüge der Unia, ihr werde im Artikel von einem nicht namentlich genannten Firmenchef vorgeworfen, «Gestapo-mässig» zu agieren.

b) Zunächst einmal ist es zwischen den Parteien strittig, ob der Autor des Berichts den Kommunikationsverantwortlichen der Unia im Rahmen der Kontaktnahme vor der Publikation auch mit diesem Vorwurf explizit konfrontiert hat. Die dem Presserat eingereichten Unterlagen erlauben dazu keine eindeutigen Schlüsse. Unbestritten ist lediglich der telefonische Kontakt vor der Publikation als solcher, nicht aber dessen genauer Inhalt. Auch die von der «Weltwoche» in der Beschwerdeantwort (S. 10) gewählte Formulierung, gestützt auf das E-Mail des Kommunikationsverantwortlichen der Unia vom 3. September 2007 müsse «davon ausgegangen werden, dass der gesamte Text der Beschwerdeführerin zur Stellungnahme vorgelegen hat», lässt einigen Interpretationsspielraum offen.

c) Ungeachtet davon stellt sich in Bezug auf die Anhörung im konkreten Fall aber ohnehin noch ein anderes Problem. Was ist von einer Anhörung zum Vorwurf zu erwarten, jemand handle «Gestapo-mässig»? Alles andere als ein entschiedenes Dementi erscheint höchst unwahrscheinlich. Auch wenn das Prinzip der Anhörung des Betroffenen vor der Publikationen für den Presserat eines der zentralen Prinzipien der journalistischen Berufsethik bildet, bleibt bei einer derartigen Konstellation kaum Raum für eine sinnvolle Anwendung.

d) Entsprechend ist es letztlich nicht entscheidend, ob die «Weltwoche» die Beschwerdeführerin zu diesem Vorwurf effektiv angehört hat oder nicht. Vielmehr ist in erster Linie zu prüfen, ob die Wiedergabe der Äusserung eines Firmenchefs, die Unia agiere «Gestapo-mässig» nicht gegen die Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») und das Verbot der Veröffentlichung sachlich ungerechtfertigter Anschuldigungen (Ziffer 7) verstösst.

Nach eingehender und kontroverser Diskussion verneint dies der Presserat trotz grossem Unbehagen an Stil und Wortwahl des Artikels. Die kommentierende Wertung «Gestapo-mässig» schiesst weit über das Ziel hinaus. Ziel der Gestapo war letztlich das leibliche Vernichten des Gegners. Solches wird im Artikel von den Aktionen der Unia nicht behauptet. Faktisch wirft die «Weltwoche» der Gewerkschaft im Zusammenhang mit einem Baustellenbesuch denn auch bloss ein etwas forsches, effekthascherisches Vorgehen vor, das auch nicht annähernd etwas mit den verbrecherischen Methoden der Geheimen Staatspolizei während dem Nazi-Regime zu tun hat. Generell erscheint es zudem befremdlich, den politischen Gegner mit einer Art von «Fertigmacherjournalismus» – wie ihn die Beschwerdeführerin in Anspielung auf den Titel des beanstandeten Berichts bezeichnet – systematisch mit offensichtlich überzogenen negativen Werturteilen und Methaphern einzudecken.

Für den Presserat ist letztlich aber entscheidend, dass die zweifelhaften Werturteile und Metaphern für die Leserschaft ohne Weiteres als übertriebene Polemik und Provokation erkennbar sind. Ebenso ist die Transparenz über die sehr magere faktische Grundlage der wortgewaltigen Polemik des Autors gewährleistet. Entsprechend erscheint eine wahrheitswidrige Täuschung der Leserschaft der «Weltwoche» über Tatsachen trotz den oben angeführten Bedenken ausgeschlossen (ähnlich bereits die Stellungnahme 16/2007). Die von der «Weltwoche» weiterverbreitete Polemik eines ungenannten Firmenchefs provoziert angesichts der tatsächlichen historischen Geschehnisse höchstens eine Diskussion über angemessenen Stil und Anstand in der öffentlichen Auseinandersetzung.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Die «Weltwoche» hat mit der Veröffentlichung des Artikels «Die Fertigmacher» in der Ausgabe vom 6. September 2007 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagung von wichtigen Informationen, Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.

Zusammenfassung

Resumé

Riassunto