I. Sachverhalt
A. Am 4. April 2009 veröffentlichte die «Berner Zeitung» einen Bericht von Fabian Schäfer («‹Kanton muss irgendwann zahlen›») über die Bernische Lehrerversicherungskasse (BLVK). Gemäss den Forderungen der Kasse solle der Kanton Bern zur Behebung der aktuellen Unterdeckung erneut massgeblich Geld einschiessen. Als «Gegenleistung» für ein allfälliges Entgegenkommen des Kantons fordert der Autor, die BLVK solle vom Leistungs- zum Beitragsprimat wechseln.
B. Am 20. Mai 2009 veröffentlichte die «Berner Zeitung» ein Interview («Stabilisierung nicht Sanierung») von Claude Chatelain mit Hansjürg Schwander, dem Direktor der Bernischen Pensionskasse (BPK). Eine der Fragen lautete: «Im Unterschied zur Lehrerversicherungskasse hat die BPK kein strukturelles, sondern ein anlagetechnisches Defizit. Auf jede Baisse folgt eine Hausse. Deshalb ist es nicht klar, weshalb Sie zusätzliche Steuermittel brauchen.»
C. Am 22. Mai 2009 brachte die «Berner Zeitung» unter dem Titel «Lehrer betreiben Medienschelte» einen «Stimmungsbericht» von Claude Chatelain über die Delegiertenversammlung der Bernischen Lehrerversicherungskasse (BLVK). Der Journalist schreibt, die BLVK sei bekanntlich in einem «desolaten Zustand». Die Schuld daran trügen für einzelne Delegierte und auch für Jürg Boss, den Präsidenten der Delegiertenversammlung, «die Medien». Boss habe zu einem Rundumschlag ausgeholt, «nannte den Namen eines Journalisten dieser Zeitung und warf ihm vor den siebzig Delegierten vor, etwas geschrieben zu haben, ‹was sachlich nicht stimmt›. Nach der Versammlung zur Rede gestellt, vermochte Boss aus dem fraglichen Artikel nicht einen einzigen Satz vorzulesen, der sachlich falsch war.» Nicht nur die Medien seien «die Bösen» gewesen, sondern auch der Berner Finanzdirektor. Ein Delegierter habe ausgeführt, das Stimmenpotential von Versicherten von BLVK und BPK samt Angehörigen genüge, um BDP-Regierungsrat Urs Gasche abzuwählen.
D. Am 23. Mai 2009 verlangte Jürg Boss, Rapperswil, der Präsident der Delegiertenversammlung der Bernischen Lehrerversicherungskasse (BLVK) den Abdruck einer Berichtigung durch die «Berner Zeitung». Zudem ersuchte er darum, «Herrn Chatelain nicht mehr für Berichte über die BLVK einzusetzen.» Entgegen der wahrheitswidrigen Behauptung von Claude Chatelain habe er den Fehler im Artikel vom 4. April nach der Delegiertenversammlung klar nennen können. Zudem unterstelle der Journalist in ungehöriger Weise einem Delegierten, eine Abwahlempfehlung für Regierungsrat Urs Gasche ausgesprochen zu haben.
E. Am 29. Mai 2009 antwortete der Chefredaktor der «Berner Zeitung», Michael Hug, er sehe keine Veranlassung zur Veröffentlichung einer Berichtigung. Und seine Zeitung lasse sich nicht vorschreiben, wer in Zukunft über die BLVK berichte.
F. Gleichentags – vor Erhalt des Antwortschreibens der «Berner Zeitung» – reichte Jürg Boss beim Presserat Beschwerde gegen die obengenannten Berichte der «Berner Zeitung» vom 20. und 22. Mai 2009 ein.
Die im Bericht vom 20. Mai 2009 enthaltene Behauptung – im Gegensatz zur BLVK habe die BPK kein strukturelles, sondern ein anlagetechnisches Defizit – sei falsch. Die BLVK habe ihre strukturellen Defizite nach der PUK-Untersuchung beseitigt. Nach der Delegiertenversammlung vom 21. Mai 2009 habe er vergeblich versucht, diese Herrn Chatelain zu erklären. Trotzdem werfe der Journalist ihm im Bericht vom 22. Mai 2009 vor, er habe aus dem Artikel vom 4. April 2009 nicht einen einzigen falschen Satz zitieren können. Diese Behauptung sei inakzeptabel und rufschädigend.
Weiter habe es in der Versammlung – der Tonmitschnitt beweise dies – keine Empfehlung zur Abwahl von Regierungsrat Gasche gegeben. Ebenso wenig hätten die Delegierten den Medien die Schuld am BLVK-Debakel gegeben. Obwohl auch darauf aufmerksam gemacht, habe der Journalist die frei erfundene Behauptung am Anfang seines Artikels platziert.
Zusammenfassend beanstandet der Beschwerdeführer, der Artikel verbreite Unwahrheiten, er sei rufschädigend und unterschlage wichtige Informationen. Mithin macht er geltend, die «Berner Zeitung» habe die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagung wichtiger Informationen) und 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Ferner verlange er, «dass der besagte Journalist nie mehr über BLVK-Angelegenheiten berichten darf».
G. Am 11. Juni 2009 beantragte die Redaktion der «Berner Zeitung», die Beschwerde sei abzuweisen.
Herr Boss habe in seiner Ansprache vor der BLVK-Delegiertenversammlung öffentlich behauptet, ein Artikel von Fabian Schäfer sei sachlich falsch gewesen. Wie dies Claude Chatelain im Artikel vom 22. Mai geschrieben habe, sei er aber im Anschluss an die Versammlung nicht in der Lage gewesen, darzulegen, was am Bericht sachlich falsch gewesen sei. In seiner Beschwerde vom 29. Mai 2009 moniere Jürg Boss nun einen anderen «sachlichen Fehler». Gemäss Auffassung von Herrn Chatelain, einem in Sozialversicherungsfragen erfahrenen und versierten Journalisten, gebe es keinen allgemeingültigen Begriff des strukturellen Defizits. Entsprechend könne dieser unterschiedlich interpretiert werden.
Weiter sei es keine freie Erfindung der «Berner Zeitung», dass an der BLVK-Delegiertenversammlung eine Abwahlempfehlung formuliert wurde. Dies ergebe sich aus folgender Passage der Abschrift des Tonbandmitschnitts der Versammlung: «Schiff steuert auf Eisberg zu (…) Steuermann Herr RR Gasche (…) Wahlpotential von sage ich jetzt einmal 100’000 Stimmen (…) und ich hoffe, dass die in den kommenden Wahlen ihr Stimmrecht dementsprechend nutzen werden.»
Ebenso falsch sei schliesslich die Darstellung des Beschwerdeführers, wonach niemand an der Versammlung die Medien beschuldigt hätte. Neben Jürg Boss selber habe insbesondere auch der Delegierte Bangerter nachweislich entsprechende Vorwürfe erhoben.
H. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 1. Kammer zu, der Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Klaus Lange, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider (Mitglieder) angehören.
I. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 21. Oktober 2009 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Soweit der Beschwerdeführer sinngemäss beantragt, der Presserat habe zu verfügen, dass der Journalist Claude Chatelain nicht mehr über die BLVK berichte, ist auf die Beschwerde nicht einzutreten. Gemäss Art. 16 Abs. 3 seines Geschäftsreglements kann der Presserat Feststellungen treffen und Empfehlungen erlassen. Hingegen kann er keine Sanktionen verfügen. Ohnehin ist darauf hinzuweisen, dass Medien und einzelne Journalistinnen und Journalisten gestützt auf die Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit frei darüber entscheiden, ob und wie sie über ein Thema berichten und wer einen Medienbericht verfasst.
2. Am Interview mit dem Direktor der BPK vom 20. Mai 2009 («Stabilisierung, nicht Sanierung») beanstandet der Beschwerdeführer die in einer Frage enthaltene indirekte Feststellung als wahrheitswidrig, die BLVK habe im Gegensatz zur BPK nicht ein «anlagetechnisches», sondern ein «strukturelles» Defizit. Ungeachtet der Prüfung der Frage, wie der Begriff «strukturelles Defizit» im Kontext eines Berichts über eine Pensionskasse genau zu verstehen ist, fällt für den Presserat eine Verletzung der berufsethischen Wahrheitspflicht bereits aus einem anderen Grund ausser Betracht.
Der Presserat hat in seiner jüngeren Praxis wiederholt darauf hingewiesen, dass eine formale oder inhaltliche Ungenauigkeit – soweit hier von einer solchen überhaupt die Rede sein kann –
aus Sicht der Leserschaft eine gewisse Relevanz aufweisen muss, um die Feststellung einer Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» als verhältnismässig erscheinen zu lassen (vgl. z.B. die Stellungnahmen 10 und 26/2005, 5/2006, 6/2008). Dies ist bei der im Kontext des Interviews als blosse Randbemerkung zu wertenden indirekten Aussage, die BLVK habe ein strukturelles Defizit, offensichtlich zu verneinen. Zumal die finanztechnische Diskussion darüber, ob die unbestrittenen finanziellen Probleme der BLVK auf einem anlagetechnischen oder einem strukturellen Defizit beruhen, an einem wesentlichen Teil der Leserinnen und Leser vorbeigehen dürfte.
3. a) Weil er darin kritisiert wird, stösst sich der Beschwerdeführer verständlicherweise hauptsächlich am «Stimmungsbericht» vom 22. Mai 2009 über die Delegiertenversammlung der BLVK. Für die Leserschaft der «Berner Zeitung» weist allerdings bereits der Untertitel «Stimmungsbericht» darauf hin, dass es sich um eine subjektive Wiedergabe der emotionalen Stimmung aus Sicht des Autors handelt. Der kommentierende Bericht lässt zudem durchschimmern – beispielsweise durch den Hinweis, dass der Beschwerdeführer einem Journalisten der «Berner Zeitung» vorgeworfen habe, etwas sachlich Falsches geschrieben zu haben – dass zwischen den Parteien sachliche Differenzen bestehen und es auch um persönliche Empfindlichkeiten geht.
Ungeachtet davon ist aber daran zu erinnern, dass nach ständiger Praxis des Presserates aus der «Erklärung» keine Verpflichtung zu «objektiver» Berichterstattung abgeleitet werden kann. Vielmehr ist es berufsethisch auch zulässig, einseitige, fragmentarische Standpunkte zu vertreten (vgl. zuletzt die Stellungnahme 10/2009 mit weiteren Hinweisen). Der Presserat hat zudem beispielsweise in der Stellungnahme 7/2000 darauf hingewiesen, dass es im Ermessen der Journalistinnen und Journalisten steht, sich in einem Bericht oder Kommentar auf einen einzelnen, subjektiv ausgewählten Aspekt zu beschränken.
b) Anhand der ihm eingereichten Unterlagen sieht sich der Presserat nicht in der Lage, den Beschwerdesachverhalt zweifelsfrei zu klären. Er vermag deshalb auch hier keine Verletzung der Wahrheitspflicht oder der weiteren als verletzt gerügten berufsethischen Bestimmungen festzustellen. Die Parteien berufen sich in ihrer Argumentation in Beschwerde und Beschwerdeantwort zwar auf Referatmanuskripte und Protokolle von Tonmitschnitten. Sie haben diese zur Klärung des Sachverhalts möglicherweise entscheidenden Dokumente dem Presserat jedoch nicht vollständig eingereicht.
c) Für die vom Beschwerdeführer bestrittene Abwahlempfehlung eines Delegierten gegenüber Regierungsrat Urs Gasche liegen aber jedenfalls Indizien vor, welche die Interpretation im «Stimmungsbericht» vom 22. Mai 2009 als zulässige kommentierende Wertung erscheinen lassen. So ist dem Manuskript des Votums des Delegierten Bangerter der Satz zu entnehmen: «Nehmt sie in die Pflicht, denn wir alle stehen vor den Wahlen 2010». Regierungsrat Urs Gasche selber führte am 26. Mai 2009 in einer E-Mail an Claude Chatelain dazu aus: «Ich bin mir bewusst, dass Sie die Aussage nicht erfunden, sondern allenfalls verdeutlicht haben.» Und gegenüber dem Beschwerdeführer reagierte der Regierungsrat wie folgt: «Ich ärgere mich nicht darüber, dass eine enttäuschte Lehrkraft – wenn auch etwas verklausuliert – auf die Chance meiner Abwahl hinweist (…) Ich bin aber trotzdem froh zu erfahren, dass es nicht ganz so deutlich gewesen ist, wie man nach der Lektüre des Zeitungsartikels hätte meinen können.»
d) Ebenso wie die umstrittene Abwahlempfehlung mag auch die Interpretation des Journalisten zugespitzt sein, die Delegierten der BLVK hätten die Medien als Schuldige ausgemacht. Das bereits erwähnte Votum des Delegierten Bangerter enthält aber auch dazu zumindest Anhaltspunkte und insbesondere folgende Sätze «Mit allem Nachdruck muss deshalb schlecht recherchierten oder tendenziösen Falschmeldungen in den Medien umgehend entgegengehalten werden» und «Wo bleibt die Stimme der Presse als 4. Kraft im Staate?» sowie «Die unselige Saat ähnlich populistischer Zeitungsartikel war auch schon in bernischen Blättern in Form von Leserbriefen wieder zu finden. Kein Wunder, wenn bereits in der Überschrift alles geklärt war: ‹Renten-Loch: die wohlhabenden Pensionäre sollen bluten› (…) Der Schreibtischindianer weiss natürlich dank sorgfältigster Recherche, dass die Pensionäre wohlhabend sind.»
e) Schliesslich steht bei der nach Auffassung des Beschwerdeführers rufschädigenden Behauptung, er habe entgegen den Ausführungen in seinem Referat an der BLVK-Delegiertenversammlung nicht einen einzigen Satz zitieren können, der am Artikel von Fabian Schäfer («‹Kanton muss irgendwann zahlen›») vom 4. April 2009 falsch war, Aussage gegen Aussage. Entsprechend ist eine Verletzung der Wahrheitspflicht bzw. der Pflicht der Unterlassung sachlich nicht gerechtfertigter Anschuldigungen auch hier nicht erstellt. Zwar ist für den Presserat nachvollziehbar, dass sich der Beschwerdeführer über diese happige Kritik ärgert. Allerdings fällt auch auf: Der Artikel vom 4. April 2009 bildet weder Gegenstand der Beschwerde an den Presserat, noch führt der Beschwerdeführer gegenüber dem Presserat oder in einer seiner Korrespondenzen mit der «Berner Zeitung» näher aus, welche(n) sachliche(n) Fehler er dem Bericht vorwirft.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit der Presserat darauf eintritt.
2. Die «Berner Zeitung» hat mit den Berichten «Stabilisierung, nicht Sanierung» vom 20. Mai 2009 und «Lehrer betreiben Medienschelte» vom 22. Mai 2009 die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagung von Informationen) und 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) nicht verletzt.