Nr. 41/2012
Wahrheits- und Berichtigungspflicht / Sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen / Anhörung bei schweren Vorwürfen / Unabhängigkeit

(X. c. «Aargauer Zeitung») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 24. August 2012

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Plakatsünder online am Pranger» berichtete Fabian Hägler am 21. September 2011 in der «Aargauer Zeitung», X. und Y. zeigten auf ihrer Website www.wahlwerbung.aargau.ch «diverse Beispiele von Politikern, die Plakate illegal platzieren». X. und Y. wollten dies nicht hinnehmen. Es gehe nicht um Kleinigkeiten, sondern zum Teil «um gravierende Verstösse bei Kreiseln, Abzweigungen und Fussgängerstreifen, die sehr gefährlich sein können». Es sei bedenklich, dass Politiker, die Gesetze machten, diese selber nicht einhielten. In einem separaten Kommentar («Angeprangert statt angezeigt») bewertet Hägler X. als «streitbarer Mensch. Manche würden ihn wohl gar als kleinlich und pedantisch bezeichnen.» Früher habe er sich juristische Auseinandersetzungen mit SVP-Exponenten geliefert. «Sein Ziel, dass sich die Politiker an die Plakatierungsvorschriften halten, erreichte er jedoch nur selten.» Oft seien die Anzeigen erst behandelt worden, als die Wahlen schon vorbei waren. «Angeprangert statt angezeigt: Von diesem neuen Vorgehen verspricht sich X. mehr Erfolg gegen Plakatsünder.» Und ob man X. als «kleinlichen ‹Plakatjäger› oder legitimen Verfechter geltender Vorschriften» sehe, eines sei ihm zugutezuhalten: www.wahlwerbung.aargau.ch sei nicht nur Pranger, sondern auch Hilfe. Die Website bringe die Vorschriften übersichtlich auf den Punkt.

B. Tags darauf vermeldete die «Aargauer Zeitung» verschiedene Reaktionen zur neuen Website («Thomas Leitch entfernt illegale Plakate eigenhändig»). X. dürfe sich darüber freuen, dass seine Website Wirkung zeige. Allerdings löse diese nicht überall positive Reaktionen aus. Es gebe auch kritische Stimmen. Während SP-Kandidat Leitch ankündige, er werde künftig jedes ihm gemeldete falsch platzierte Plakat innert 24 Stunden entfernen, räume die SVP-Kandidatin Milly Stöckli zwar ein, es sei das gute Recht von Herrn X., die Verletzung von Plakatierungsvorschriften anzukreiden. Ihre Wahlhelfer hätten aber bereits jetzt einen riesigen Einsatz geleistet, weshalb sie diese nicht noch einmal losschicken könne, um ein paar Plakate umzuhängen. Viel besser als Milly Stöckli komme bei www.wahlwerbung-aargau.ch ihr SVP-Parteikollege Gregor Biffiger weg. «X. und Y. halten fest», sie hätten von diesem Kandidaten «kaum oder sogar keine illegal angebrachte Werbung» gesehen.

C. Am 18. Oktober 2011 («Plakatsünder gejagt, Beiträge gefälscht») war der «Aargauer Zeitung» zu entnehmen, die Website www.wahlwerbung-aargau.ch sei nach einem «Knatsch» zwischen den beiden Betreibern X. und Y. nicht mehr zugänglich. X. habe sich gegenüber Y. über die schlechte Programmierung der Website beklagt. Ausserdem habe sich Y. kaum engagiert. «Ich habe die Website praktisch allein betrieben.» Y. habe mehrfach E-Mails nicht beantwortet und auch generell «unprofessionell» agiert. Y. entgegnet, X. habe «nachweislich Beiträge auf der Website gefälscht». Laut Unterlagen, «die der ‹Aargauer Zeitung› vorliegen, hat X. unter dem Pseudonym ‹Foxi-Man› mehrere Mails an info@wahlwerbung-aargau.ch geschickt und seine eigenen Mailkommentare danach als anonyme Leserreaktionen auf der Website veröffentlicht. ‹Das grenzt für mich an Betrug, hinter solchen Praktiken kann ich nicht stehen.›» Und X.s Kritik am Content Management System der Website weise Y. zurück.

Fabian Hägler kommentiert in einem separaten Text («Scheinheiliger Saubermann»), X. kritisiere mit markigen Worten Politiker und Medien, «wenn seine Aktivitäten nicht nur positiv kommentiert werden. Selber nimmt er es aber nicht so genau mit der Wahrheit. Der vermeintliche Saubermann publiziert auf seiner Website eigene Kommentare als angebliche Lesermeinungen. (…) Sein ehemaliger Compagnon Y. hat Recht, wenn er X.s Verhalten als scheinheilig bezeichnet. X. stellt sich damit selber ins Abseits und verliert seine Glaubwürdigkeit – genau wie die Politiker, die ihre Plakate falsch platzieren.»

D. Tags darauf veröffentlichte die «Aargauer Zeitung» eine Reaktion von X. («Ich darf auch Leserbriefe schreiben») zu den am Vortag publizierten Vorwürfen von Y.. Die Seite www.wahlwerbung-aargau.ch sei nie seine Homepage gewesen. «Herausgeber und Verantwortlicher war und ist Y..» Er selber sei lediglich ein freier, unbezahlter Mitarbeiter gewesen. Zudem sei unwahr, dass die Website vom Netz genommen worden sei, weil er nachweislich Beiträge auf der Website gefälscht habe. Er hält fest: «Auch ich bin ein Leser (und nicht der Herausgeber) dieser Page und habe wie alle Leser das Recht, Leserbriefe zu schreiben». Die «Aargauer Zeitung» hält dazu fest, ihr lägen Dokumente vor, die «eindeutig belegen, dass X. am 27. September unter dem Pseudonym ‹Foxi-Man› eine E-Mail an info@wahlwerbung-aargau.ch geschickt und diese danach als Lesermeinung auf der Website veröffentlicht hatte». Gemäss Darstellung von X. hätten sowohl Y. als auch er selber Zugriff zu den Leserbriefen gehabt. Gemäss der internen Aufgabenteilung habe X. die Lesermails dann auf die Homepage gestellt.

E. Am 7. Februar 2012 reichte X. dem Presserat eine umfangreiche Beschwerde gegen die obengenannten und zahlreiche weitere, frühere Berichte der «Aargauer Zeitung» ein.

F.
Mit Schreiben vom 9. Februar 2012 wies das Presseratssekretariat den Beschwerdeführer darauf hin, dass der Presserat nicht auf Beschwerden gegen Medienberichte eintritt, deren Publikation länger als sechs Monate zurückliegt. Zudem machte der Presserat X. darauf aufmerksam, dass er weder die Mittel habe, Sachverhalte «lückenlos» abzuklären, noch Journalisten dazu zwingen könne, Fragen des Beschwerdeführers zu beantworten, die Veröffentlichung einer Richtigstellung anzuordnen, oder einer Redaktion zu verbieten, über ein hängiges Beschwerdeverfahren zu berichten.

G. Am 16. Februar 2012 reichte X. dem Presserat eine überarbeitete Fassung der Beschwerde ein. Darin beanstandet er insbesondere:

– Fabian Hägler bezeichne ihn im Kommentar vom 21. September 2011 als «streitbarer Mensch, manche würden ihn wohl gar als kleinlich und pedantisch bezeichnen». Weiter behaupte Hägler wahrheitswidrig, sein Ziel, dass sich Politiker an die Plakatierungsvorschriften halten, habe er (X.) jedoch nur selten erreicht. Schliesslich brauche Hägler in seinem Kommentar den Begriff «Plakatjäger», obwohl der Beschwerdeführer dies der «Aargauer Zeitung» schon länger untersagt habe.

– Der Artikel vom 22. September 2011 unterstelle ihm Handlungen, für die nicht er, sondern vielmehr Y. verantwortlich sei. Weder habe er mit der SVP-Kandidatin Milly Stöckli gesprochen noch deren Parteikollegen Gregor Biffiger für dessen Plakatierungsverhalten gelobt.

– Der Titel des Berichts vom 18. Oktober 2011 «Plakatsünder gejagt, Beiträge gefälscht» sei wahrheitswidrig und ehrverletzend. Hägler habe zudem krass gegen die Wahrheitssuche verstossen, indem er die Aussagen des Beschwerdeführers Y. unterbreitet, den Beschwerdeführer umgekehrt aber nicht mit den Vorwürfen Y.s konfrontiert habe. Es habe nie einen heftigen Streit gegeben. Und es sei eine «fiese, gemeine Lüge», dass Y. die Website eingestellt habe, «weil ich Beiträge gefälscht habe». Die Y. angeblich so störenden Mails seien bereits wesentlich früher – Ende September 2011 geschrieben worden. Am meisten störe ihn aber, dass Hägler mit Hilfe von Y. ihn als «Scheinheiliger Saubermann» bezeichne.

– Am 19. Oktober 2011 habe die «Aargauer Zeitung» zwar eine Richtigstellung abgedruckt. Dabei seien allerdings wesentliche Einwände des Beschwerdeführers nicht berücksichtigt worden. Zudem sei die Richtigstellung nur in der Ausgabe «Freiamt» erschienen, während der ihn diffamierende Artikel vom 18. Ok
tober 2011 auch in den Ausgaben Baden und Brugg erschienen sei.

Mit der beanstandeten Berichterstattung habe die «Aargauer Zeitung» die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagung von Informationen, Anhörung bei schweren Vorwürfen), 5 Berichtigung), 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) und 9 (Unabhängigkeit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

H. Am 30. März 2012 wies Chefredaktor Christian Dorer die Beschwerde namens der Redaktion «Aargauer Zeitung» als unbegründet zurück.

– Die Kommentare von Fabian Hägler vom 21. September 2011 und 18. Oktober bewegten sich innerhalb der Grenzen der Kommentarfreiheit.

– In Bezug auf den Artikel vom 22. September 2011 wendet die Beschwerdegegnerin ein, X. sei nicht glaubwürdig, wenn er sich von Aussagen auf der Seite www.wahlwerbung-aargau.ch distanziere, jedoch gleichzeitig ausführe, er habe «die Website praktisch allein betrieben». Fabian Hägler habe unter diesen Umständen das Gebot der Wahrheitssuche erfüllt, wenn er Aussagen auf der Internetseite dem Beschwerdeführer und Y. gemeinsam zuschreibe.

– Schliesslich sei der im Artikel vom 18. Oktober 2011 enthaltene Vorwurf, der Beschwerdeführer habe unter dem Pseudonym «Foxi-Man» mehrere Mails an info@wahlwerbung-aargau.ch geschickt, und seine eigenen Mailkommentare danach als anonyme Leserreaktionen auf der Website veröffentlicht, nicht als schwerer Vorwurf im Sinne der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» zu werten. Eine Anhörung vor der Publikation sei deshalb nicht zwingend gewesen.

I. Am 4. April 2012 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

J. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 24. August 2012 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die im Kommentar von Fabian Hägler vom 21. September 2011 enthaltene Bewertung des Beschwerdeführers als «streitbarer Mensch» und als «kleinlich und pedantisch» bewegt sich innerhalb des weiten Rahmens der Freiheit des Kommentars und der Kritik. Ebenso steht es der «Aargauer Zeitung» frei, X. als «Plakatjäger» zu bezeichnen, zumal es unbestritten ist, dass sich der Beschwerdeführer seit Jahren für die Einhaltung der Plakatierungsvorschriften engagiert. Und die kommentierende Wertung des Journalisten, wonach X. mit seinem juristischen Vorgehen nur beschränkten Erfolg erzielt habe ist ebenso als solche erkennbar wie deren faktische Grundlage: nämlich, dass über die Beschwerden häufig erst nach den Wahlen entschieden worden sei.

2. Nachdem sich der Beschwerdeführer im Artikel vom 21. September unwidersprochen – gemeinsam mit Y. – von der «Aargauer Zeitung» als Betreiber von www.wahlwerbung-aargau.ch darstellen lässt und später (im Artikel vom 18. Oktober 2011) gar mit der (unbestrittenen) Aussage zitiert wird, er selber habe die «Webseite fast allein betrieben», muss er sich gefallen lassen, dass ihm die «Aargauer Zeitung» im Bericht vom 22. September 2011 Inhalte der Website – die laut X. von Y. stammen – als eigene zurechnet. Zumal es für das Verständnis der Leserschaft der «Aargauer Zeitung» keinen wesentlichen Unterschied macht, wer von den beiden mit der SVP-Kandidatin Milly Stöckli und deren Parteikollegen Gregor Biffiger gesprochen und deren Plakatierungsverhalten bewertet hat, solange die entsprechenden Ausführungen auf der gemeinsamen Website publiziert wurden.

3. Gestützt auf die Beschwerdeunterlagen kommt der Presserat zum Schluss, dass der Titel des Berichts vom 18. Oktober 2011 «Plakatsünder gejagt, Beiträge gefälscht» nicht wahrheitswidrig und damit auch nicht ehrverletzend ist. Auch wenn der Beschwerdeführer den Vorgang ganz anders bewertet («aus einer Mücke einen Elefanten gemacht») bestreitet er nicht prinzipiell, dass er von ihm selbst verfasste Beiträge auf der Website als Leserbriefe veröffentlicht hat, ohne dies transparent zu machen. Unter diesen Umständen durfte ihn Fabian Hägler durchaus als «Scheinheiliger Saubermann» kritisieren.

Der Presserat kann nicht beurteilen, ob der Streit zwischen Y. und X. heftig war. Die ihm vorliegenden Indizien, insbesondere die Äusserungen beider Seiten gegenüber der «Aargauer Zeitung» deuten aber zumindest darauf hin. Ebenso wenig ergeben die von den Parteien dem Presserat eingereichten Unterlagen Klarheit darüber, weshalb die Website vom Netz genommen wurde. Im Ergebnis ist deshalb auch bei diesen Punkten die behauptete Verletzung der Ziffer 1 der «Erklärung» nicht erstellt.

4. Wäre die «Aargauer Zeitung» aber wenigstens verpflichtet gewesen, den Beschwerdeführer vor der Veröffentlichung des Artikels vom 18. Oktober 2011 mit den Vorwürfen Häglers zu konfrontieren, so wie sie dies zuvor mit denjenigen X.s gegenüber Y. tat? Nach Auffassung des Presserats wäre dies zwar empfehlenswert gewesen, war jedoch nicht zwingend. Gemäss der Praxis des Presserats ist ein Vorwurf als «schwer» im Sinne der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» (Anhörung bei schweren Vorwürfen) zu qualifizieren, wenn dem davon Betroffenen damit ein illegales oder damit vergleichbares Verhalten unterstellt wird. Dies ist vorliegend zu verneinen, zumal den Äusserungen von Y. nicht zu entnehmen ist, dass der Beschwerdeführer auf diese Weise angebliche Missstände «konstruiert» hätte. Und immerhin liess die «Aargauer Zeitung» X. bereits einen Tag später ausführlich zu Wort kommen, wenn auch offenbar lediglich in der Ausgabe «Freiamt» der «Aargauer Zeitung».

5. Verstösst letzteres hingegen gegen Ziffer 5 der «Erklärung» (Berichtigung)? Dies wäre dann zu bejahen, wenn erstellt wäre, dass die «Aargauer Zeitung» nachweislich eine Falschmeldung veröffentlicht hat. Nachdem dies zu verneinen ist, war sie auch nicht verpflichtet, eine Berichtigung abzudrucken. Trotzdem, auch hier wäre es aus Sicht des Presserats empfehlenswert gewesen, die Reaktion des Beschwerdeführers auf den Artikel vom 18. Oktober 2011 wenn schon in allen Ausgaben zu veröffentlichen, in denen dieser erschienen ist.

6.
Soweit der Beschwerdeführer schliesslich eine Verletzung von Ziffer 9 (Unabhängigkeit) rügt, ist darauf hinzuweisen, dass allein aus der – aus Sicht von X. – einseitigen Parteinahme der «Aargauer Zeitung» keine fehlende Unabhängigkeit abgeleitet werden kann. Zumal Journalistinnen und Journalisten gemäss Praxis des Presserates nicht zu einer «objektiven» Berichterstattung verpflichtet sind (vgl. z.B. die Stellungnahme 50/2009 und 4/2012).

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde gegen die «Aargauer Zeitung» wird abgewiesen.

2. Die «Aargauer Zeitung» hat mit der Veröffentlichung der Berichte vom 21. September («Plakatsünder online am Pranger», «Angeprangert statt angezeigt»), 22. September («Thomas Leitch entfernt illegale Plakate eigenhändig»), 18. Oktober («Plakatsünder gejagt, Beiträge gefälscht», «Scheinheiliger Saubermann») und 19. Oktober 2011 («‹Ich darf auch Leserbriefe schreiben›») die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagung von Informationen, Anhörung bei schweren Vorwürfen), 5 (Berichtigung), 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) und 9 (Unabhängigkeit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten») nicht verletzt.