Nr. 31/2012
Wahrheits- und Berichtigungspflicht / Quellen

(X. c. «Obwalden und Nidwalden Zeitung»); Stellungnahme des Schweizer Presserates 31/2012 vom 29. Juni 2012

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «‹Justizfall Durrer› auf dem rechtlichen Prüfstand» äusserte Mike Bacher («Jurist und Korrespondent der ONZ») am 6. Februar 2012 in der «Obwalden und Nidwalden Zeitung» seine Einschätzung zu diesem Gerichtsfall, der im Kanton Obwalden hohe Wellen geschlagen hat. Anlass des Artikels war die Veröffentlichung des Buchs des «Justizopfers» Hanspeter Durrer mit dem Titel «Sein Wille geschehe» und die darin gegenüber der Obwaldner Justiz erhobenen massiven Vorwürfe.

Gegenstand der langjährigen – nach Darstellung von Durrer von den Obwaldner Gerichten verschleppten – gerichtlichen Auseinandersetzung ist der Streit um ein Kaufrecht an einem Nachbargrundstück, das von den Obwaldner Gerichten «überraschenderweise» – ohne dass dies von einer Prozesspartei beantragt worden wäre – für ungültig erklärt wurde. Auf Beschwerde von Hanspeter Durrer hin hob das Bundesgericht 2008 den Entscheid des Obwaldner Obergerichts auf und erklärte den Kaufrechtsvertrag für gültig. Obwohl er schliesslich vom Bundesgericht in allen Punkten recht bekam, habe er noch 60’000 Franken Verfahrenskosten berappen müssen.

Im Buch «Sein Wille geschehe» kritisiert der Autor die «Fehlurteile» der Obwaldner Justiz. Bacher weist dazu darauf hin, Gerichte hätten immer einen Interpretationsspielraum. Die sich im konkreten Fall stellende Frage habe das Bundesgericht gemäss Einschätzung eines Dozenten für Notariatsrecht an der Universität Luzern noch nie entschieden. Bacher zitiert zudem den «ausserordentlichen Gerichtsschreiber», nach dessen Darstellung die «sorgfältige und dichte Begründung des Obergerichts» zeige, dass der «Entscheid rechtstheoretisch vertretbar war».

Rechtlich gewagter sei es hingegen gewesen, dass das Kantonsgericht den Vertrag als ungültig erklärte, obwohl keine der Parteien dessen Gültigkeit angezweifelt habe. Wenn ein Gericht zu einem solchen Schluss komme, müsse es den Parteien vor dem Urteil zumindest Gelegenheit geben, dazu Stellung zu nehmen. «Sollte das Kantonsgericht dies nicht berücksichtigt haben, dürfte es das rechtliche Gehör der Parteien verletzt haben.» Allerdings könne dieser Fehler behoben werden, wenn das Urteil wie im «Fall Durrer» an die nächsthöhere Instanz weitergezogen werde.

Speziell kritisiere Durrer in seinem Buch die kantonsrechtliche Rechtspflegekommission, die er noch vor dem Urteil des Kantonsgerichts wegen Rechtsverzögerung kontaktiert habe. «Er zeigte sich enttäuscht, dass diese in seinem Fall nichts unternahm.» Dabei sei aber wichtig zu beachten, dass diese in Einzelfällen gar nicht tätig werden dürfe. Es bestehe weder eine rechtliche Grundlage, dass die Rechtspflegekommission Einsicht in konkrete Fälle erhält, noch wäre dies aus Sicht der Gewaltentrennung zu rechtfertigen.

Zusammenfassend zieht Bacher das Fazit, das Buch Durrers liefere zwar einen Diskussionsbeitrag zum Funktionieren der Obwaldner Justiz, vertrete dabei allerdings einseitig einen Parteistandpunkt mit zum Teil «Koohlhaas’schen Zügen». Die von Durrer gegen die Obwaldner Justizbehörden erhobenen Vorwürfe würden durch die Ausführungen im Buch nicht belegt. Einzelne Verfahrensfehler, sofern sie sich korrigieren liessen und nicht zu Fehlurteilen führten, änderten nichts daran, dass den «Obwaldner Gerichten – auch im Rahmen eines schweizerischen Vergleichs – ein positives Zeugnis» auszustellen sei. Zu betonen sei auch, dass sich die kantonsrätliche Rechtspflegekommission an ihre Zuständigkeit gehalten und sich nicht dazu habe verleiten lassen, sich in die Rechtsprechung der Gerichte einzumischen. «Damit hat sie die Gewaltenteilung respektiert – eine der wichtigsten Grundregeln der Schweiz.» Illustriert ist der Beitrag mit einem Bild aus dem Buch von Hanspeter Durrer. Die Bildlegende lautet: «So sieht die Bebilderung im Buch ‹Sein Wille geschehe› aus. Illustration: eingesandt.»

B.
Gleichentags beschwerte sich X. beim Presserat, der Artikel von Mike Bacher verletze die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Entstellung von Tatsachen) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten»:

– Die Bildquellenangabe der Illustration sei ungenügend. Das Bild stamme eindeutig aus dem Buch «Sein Wille geschehe» von Hanspeter Durrer.

– Die Angabe, dass die Rechtspflegekommission Obwalden keinen Einblick in einzelne Dossiers habe, sei eindeutig falsch. Ohne stichprobenartigen Zugriff auf die einzelnen Gerichtsfälle wäre die Daseinsberechtigung von Rechtspflegekommissionen zwecklos.

– Autor Bacher habe in seinem Text «Testament-Entwürfe» erfunden, von denen der aufmerksame Leser weder im Buch Durrers noch im Bundesgerichtsurteil vom 12. Juni 2008 etwas finde.

– Die Behauptung, wonach das Bundesgericht lediglich eine «andere Meinung» als das Obergericht Obwalden habe, sei abstrus.

– Und schliesslich handle es sich beim unzutreffenden Fazit Bachers, wonach sich die meisten Vorwürfe Durrers gegen die Obwaldner Justiz nicht bestätigen liessen, um eine offensichtliche Beschönigung der Zustände.

C. Am 24. März 2012 wies Beat Rechsteiner, Vorsitzender der Geschäftsleitung der ONZ Obwalden und Nidwalden Zeitung AG, die Beschwerde namens der Redaktion als unbegründet zurück.

– Bei der als ungenügend deklariert beanstandeten Quelle der Illustration im Bericht von Mike Bacher sei für die Leserschaft klar ersichtlich, dass sie aus dem Buch «Sein Wille geschehe» stamme.

– Der Beschwerdeführer verkenne die Rolle und die Kompetenzen der kantonsrätlichen Rechtspflegekommission. Die Kommission übe zwar die Oberaufsicht über die Rechtspflege der Gerichtsbehörden aus. Es gehe dabei allerdings nicht um eine rechtliche Kontrolle der Behandlung von Einzelfällen, sondern primär um eine finanzielle Kontrolle.

– Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers schreibe Durrer auf Seite 10 seines Buchs «Sein Wille geschehe» durchaus von Testament-Entwürfen, deren Existenz die Gegenpartei behauptet habe.

– Haltlos sei auch die Rüge, wonach die Einschätzung von Bacher abstrus sei, das Bundesgericht habe lediglich eine «andere Meinung» als das Obergericht Obwalden vertreten. Bacher berufe sich bei seiner Einschätzung auf einen Dozenten für Notariatsrecht der Universität Luzern, der zum Schluss gekommen sei, es habe sich vor dem Bundesgerichtsentscheid nicht «um einen klaren Fall gehandelt». Der Bundesgerichtsentscheid sei denn auch in der juristischen Literatur als «Klarstellung» interpretiert worden.

– Der Beschwerdeführer suggeriere «ohne stichhaltige Beweisführung und unter Auflistung unzusammenhängender und unbewiesener Vorwürfe», dass die Justiz im Kanton Obwalden nicht funktioniere. Dass Mike Bacher gestützt auf eine sorgfältige Analyse zum gegenteiligen Schluss gelange, sei ihm jedenfalls nicht als journalistische Fehlleistung anzulasten. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass die «Obwalden und Nidwalden Zeitung» in zahlreichen Artikeln breit und kontrovers über den Justizfall berichtet habe.

D. Am 8. März 2012 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde ungeachtet der zwischenzeitlich (am 2. März 2012) erfolgten Einstellung der «Obwalden und Nidwalden Zeitung» vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 29. Juni 2012 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Ein Interesse des Beschwerdeführers an der Beantwortung der von ihm in Bezug auf
die beanstandete Berichterstattung aufgeworfenen Fragen besteht selbst dann, wenn eine Zeitung wie vorliegend die «Obwalden und Nidwalden Zeitung» während der Dauer des Presseratsverfahrens ihr Erscheinen eingestellt hat.

2. Soweit der Beschwerdegegner zunächst beanstandet, die Bildquellenangabe zur Illustration des beanstandeten Artikels sei ungenügend, ist diese Rüge für den Presserat nicht nachvollziehbar. Wie die «Obwalden und Nidwalden Zeitung» in ihrer Beschwerdeantwort darlegt, macht die Bildlegende «So sieht die Bebilderung im Buch ‹Sein Wille geschehe› aus» unmissverständlich deutlich, dass die Illustration aus dem Buch von Hanspeter Durrer stammt.

3. Und in Bezug auf den Vorwurf, die «Obwalden und Nidwalden Zeitung» stelle die (eingeschränkte) Zuständigkeit der kantonsrätlichen Rechtspflegekommission Obwalden eindeutig falsch dar, stellt der Presserat zunächst fest, dass die Beschwerde diese Behauptung weder argumentativ noch mit Dokumenten unterlegt. Soweit dem beanstandeten Bericht zu entnehmen ist, dass die Rechtspflegekommission zwar unter anderem eine generelle (politische) Aufsicht über die Justizbehörden (Wahlen, Finanzen, allgemeine Geschäftsführung) wahrnimmt, währenddem die rechtliche Aufsicht über die Verfahrensführung in konkreten Einzelfällen jeweils Aufgabe der nächsthöheren Gerichtsinstanz sei, ist für den Presserat zudem nicht ersichtlich, inwiefern diese Darstellung unzutreffend wäre.

4. Näher zu prüfen ist hingegen der Vorwurf, Mike Bacher erfinde in seiner Analyse «Testament-Entwürfe», obwohl im Buch Durrers und auch im darin abgedruckten Bundesgerichtsurteil nicht davon die Rede sei. Die Entgegnung der Beschwerdegegnerin, auf Seite 10 des Buches sei sehr wohl von Testament-Entwürfen die Rede, vermag den Vorwurf von X. nach Auffassung des Presserats nicht ganz zu entkräften. Denn in der fraglichen Buchpassage ist lediglich zu lesen, dass die Beklagten in der gerichtlichen Auseinandersetzung um das Kaufrecht die Existenz eines Testaments behauptet hätten, was das Kaufrecht unter bestimmten Voraussetzungen hinfällig gemacht hätte. Zudem habe der verstorbene Nachbar – immer gemäss Darstellung der Beklagten – durch einen Rechtsanwalt und Notar diverse Verfügungen und Varianten für eine letztwillige Verfügung ausarbeiten lassen. Mike Bacher schreibt hingegen in seiner Analyse wörtlich: «Es erscheint etwa seltsam, dass zwar Entwürfe eines Testaments von Karl vorhanden waren, aber keine endgültige Fassung davon. Dass hier der Verdacht auf die Existenz einer solchen aufkam, ist naheliegend.» Existierten tatsächlich Testament-Entwürfe und wurden sie im Gerichtsverfahren beigebracht oder behaupteten die Beklagten – ebenso wie beim mutmasslichen Testament – bloss, es habe solche Entwürfe gegeben? Der Presserat kann dies gestützt auf die ihm eingereichten Unterlagen nicht beurteilen, weshalb für ihn eine Verletzung der Wahrheitspflicht auch bei diesem Punkt nicht erstellt ist.

5. Schliesslich wirft X. der «Obwalden und Nidwalden Zeitung» vor, mit seinem Fazit, wonach das Buch Durrers entgegen seiner Intention belege, dass die Obwaldner Justiz funktioniere und ihre gesetzlichen Aufgaben wahrnehme, beschönige Mike Bacher die Zustände. Ebenso sei es abstrus zu behaupten, dass das Bundesgericht im Fall Durrer lediglich eine «andere Meinung» vertreten habe als das Kantonsgericht. Bei beidem – der Kritik des Beschwerdeführers und den Einschätzungen des Journalisten – handelt es sich um wertende Kommentierungen, die sich nicht gestützt auf Wahrheitskriterien beurteilen lassen.

Es ist zudem offenkundig nicht Aufgabe des Presserats, die Rolle der Obwaldner Gerichte im «Justizfall Durrer» oder gar deren Funktionieren im Allgemeinen zu bewerten. Ebenso wie es im Lichte der Meinungsäusserungs- und Kommentarfreiheit zulässig sein muss, die (Obwaldner) Justiz hart zu kritisieren, ist es einem Journalisten wie Mike Bacher unbenommen, die gegenteilige Auffassung zu vertreten und darzulegen, weshalb die Obwaldner Gerichte aus seiner Sicht trotz einzelner möglicher (und korrigierter) Verfahrensfehler auch im Fall Durrer gut funktioniert hätten. Und ebenso bewegt sich der Autor des beanstandeten Berichts eindeutig im weit auszulegenden Rahmen der Freiheit des Kommentars und der Kritik, wenn er unter anderem gestützt auf Urteile von Experten und auf den Umstand, dass das Bundesgericht den Entscheid in Fünferbesetzung gefällt hat – was auf eine nicht eindeutige Rechtslage hinweist – zum Schluss kommt, es handle sich nicht um ein offensichtliches Fehlurteil, vielmehr habe das Bundesgericht lediglich eine «andere Meinung» vertreten als das Obwaldner Obergericht.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Die «Obwalden und Nidwalden Zeitung» hat mit der Veröffentlichung des Artikels «‹Justizfall Durrer› auf dem rechtlichen Prüfstand» vom 6. Februar 2012 die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Quellen) und 5 (Berichtigung») der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.