Nr. 21/2012
Wahrheit / Anonyme Informationen / Lauterkeit der Recherche / Menschenwürde

(X. c. «Blick am Abend») Stellungnahme des Presserates vom 14. Mai 2012

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I. Sachverhalt

A. Am 18. April 2012 veröffentlichte «Blick am Abend» unter dem Titel «Gekommen um zu motzen», eine «Replik» von Kathia Baltisberger und Thomas Benkö auf einen zuvor im Berliner «Tagesspiegel» erschienenen Text der in Zürich lebenden «deutschen Journalistin Verena Mayer». Letztere berichtet darin über ihre Erfahrungen in der «teuersten Stadt der Welt». «Blick» relativiert und gibt zurück: «Ja! Miete ist teuer. Grund: Wohnungsnot. Ausgelöst auch durch den Zuzug der Deutschen.» Das sage nicht nur die SVP. Illustriert ist der Artikel mit einem Ausriss des «Tagesspiegel»-Artikels und einem Bild eines weiblichen Fussballfans mit deutscher Flagge in einem Zürcher Tram anlässlich der Fussballweltmeisterschaft 2010. Zudem sind Kurzinterviews mit Statements von fünf von «Blick am Abend» befragten Passanten samt je einem kleinen Bild abgedruckt.

B. Am 20. April 2012 beschwerte sich X. beim Presserat über den Artikel von «Blick am Abend», der gegen die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Anonyme Quellen), 4 (Lauterkeit der Recherche) und 8 (Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstosse.

Der Artikel mache bereits im Titel («Gekommen um zu motzen») Stimmung gegen die Deutschen und mache sie in pauschalisierender Weise verantwortlich für schweizerische Probleme, beispielsweise für die Wohnungsnot. Die Autorin Verena Mayer, gegen deren Text sich die Replik richtet, sei nicht Deutsche, sondern Österreicherin. «Blick am Abend» verwende zudem eventuell erfundene oder mit falschem Namen versehene Personen. Eine Internetrecherche nach der von «Blick am Abend» als solche bezeichneten «Ethnologin» mit Namen Sabine Oostra sei jedenfalls erfolglos geblieben. Ihre abschätzige Bemerkung – «Die soll doch in Deutschland bleiben. In der Schweiz hat es sowieso zu viele Deutsche.» – erhalte durch die Berufsbezeichnung besonderes Gewicht. Bezüglich dem Bild eines weiblichen Fussballfans mit ausgestrecktem Arm und deutscher Flagge beanstandet der Beschwerdeführer, dieses werde aus dem Kontext gerissen: «Es soll der laute, aggressive Deutsche gezeigt werden; der ausgestreckte Arm gemahnt an den Hitlergruss.»

C. Gemäss Art. 12 Abs. 1 des Geschäftsreglements behandelt das Präsidium Beschwerden, auf die der Presserat nicht eintritt.

D. Das Presseratspräsidium, bestehend aus Presseratspräsident Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann, hat die vorliegende Stellungnahme per 14. Mai 2012 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss Art. 10 Abs. 1 seines Geschäftsreglements tritt der Presserat nicht auf eine Beschwerde ein, wenn sie offensichtlich unbegründet erscheint.

2. a) Hauptthema der Beschwerde sind die im beanstandeten Artikel wiedergegebenen polemischen Äusserungen gegen Deutsche in der Schweiz. Der Beschwerdeführer beruft sich dazu zwar formal auf den Schutz der Menschenwürde. Soweit er sich dabei gegen pauschalisierende, generalisierende Werturteile zur Wehr setzt, rügt er jedoch faktisch eine Verletzung des Diskriminierungsverbots. Ziffer 8 der «Erklärung» verpflichtet die Journalistinnen und Journalisten dazu, in der Berichterstattung auf diskriminierende Anspielungen zu verzichten, welche die ethnische oder nationale Zugehörigkeit zum Gegenstand haben. Laut der Richtlinie 8.2 (Diskriminierung) zur «Erklärung» ist bei derartigen Angaben zu beachten, dass sie bestehende Vorurteile gegen Minderheiten verstärken können.

Nach der Praxis des Presserats zum Diskriminierungsverbot gilt eine Anspielung als diskriminierend, wenn ein Medienbericht durch eine unzutreffende Darstellung das Ansehen einer geschützten Gruppe beeinträchtigt und die Gruppe kollektiv herabwürdigt. In der Stellungnahme 21/2001 empfahl der Presserat, bei jeder Aussage «kritisch zu fragen, ob damit eine angeborene oder kulturell erworbene Eigenschaft herabgesetzt wird oder ob herabsetzende Eigenschaften kollektiv zugeordnet werden, ob lediglich Handlungen der tatsächlich dafür Verantwortlichen kritisiert werden oder ob die berechtigte Kritik an einzelnen in ungerechtfertigter Weise kollektiviert wird». Der Presserat hat in seinen Stellungnahmen zum Diskriminierungsverbot und zur Menschenwürde (vgl. die Stellungnahmen 38/2000, 32/2001, 6, 9 und 37/2002, 44/2003, 32/2006, 16/2007 und 21/2008) zudem konstant darauf hingewiesen, dass die abwertende Äusserung gegen eine Gruppe oder ein Individuum eine Mindestintensität erreichen muss, um als herabwürdigend oder diskriminierend zu gelten. Nur dann verletzt sie Ziffer 8 der «Erklärung».

b) In den Stellungnahmen 11/2004 und 16/2007 setzte sich der Presserat mit polemischer, pauschaler Kritik an den Bewohnern des Kantons Wallis respektive den Rätoromanen auseinander. Ein Artikel in «Le Temps» warf dem Wallis und den Wallisern vor, sie seien immer zuvorderst, wenn es darum gehe, in Form von Subventionen von der nationalen Solidarität zu profitieren. Noch schärfer schoss die «Weltwoche» gegen die Rätoromanen, die ebenfalls im Zusammenhang mit dem Bezug von Subventionen als «anachronistisch, kryptisch, erpresserisch, exotisch, fanatisch, räuberisch» und als «frechste Minderheit der Schweiz» betitelt wurden. In beiden Fällen wies der Presserat darauf hin, selbst ein verletzendes Pamphlet sei mit der Kommentarfreiheit vereinbar, sofern die Fakten, auf welche die umstrittenen Wertungen abstellen, für die Leserschaft erkennbar sind und nicht auf sachlich ungerechtfertigten Anschuldigungen beruhen.

Ebenso verneinte der Presserat eine Verletzung von Ziffer 8 der «Erklärung» in einem mit dem vorliegenden beanstandeten Bericht von «Blick am Abend» vergleichbaren Blick»-Artikel (Stellungnahme 37/2009): Ungeachtet einer etwas polemischen und provokativen Wortwahl durfte «Blick» unter dem Titel «Rav-gierige Deutsche» und dem Obertitel «Lieber stempeln als chrampfen» kommentieren, angesichts der für die Betroffenen im Vergleich zu Deutschland günstigeren Regelung in der Schweiz sei es aus wirtschaftlichen Gründen nachvollziehbar, dass stellenlose Deutsche zumindest vorerst in der Schweiz bleiben und von den Leistungen der Schweizer Arbeitslosenversicherung gut leben. Der kritische Unterton und die entsprechende Wortwahl richteten sich damit gegen eine wirtschaftlich motivierte und nicht etwa eine kulturell bedingte Verhaltensweise.

c) Nach Auffassung des Presserates gehen auch die im Artikel vom 18. April 2012 wiedergegebenen Klischees, wonach auch der Zuzug von Deutschen zu den hohen Mieten und zur Wohnungsnot in der Stadt Zurich beitrage und es habe sowieso schon zu viele Deutsche in der Schweiz, die zudem übermässig «motzten», offensichtlich keine diskriminierenden Werturteile, die über das im grosszügig auszulegenden Rahmen der Kommentarfreiheit zu Tolerierende hinausgehen. Und hinsichtlich einer Verletzung der Menschenwürde kann offensichtlich nicht davon die Rede sein, dass die vom Presserat geforderte Mindestintensität einer abwertenden Äusserung erreicht wäre.

3. a)
Ebenso wenig tritt der Presserat auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers ein. Die «Tagesspiegel»-Journalistin Verena Mayer, gibt in ihrem Artikel «Das Leben ist schon teuer» an, sie sei vor drei Jahren von Berlin nach Zürich umgezogen. Und sie erzählt, wie sie diesen Wechsel in Bezug auf das hohe Schweizer Preisniveau erlebt hat. Ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit schreibt sie für eine deutsche Tageszeitung und aus einer deutschen Optik. Unter diesen Umstünden unterscheidet die Unterschlagung der Tatsache, dass sie Österreicherin ist, für das Verständnis der Lese
rschaft nicht als relevant genug, um daraus eine Verletzung von Ziffer l der «Erklärung» abzuleiten.

b)
Für den Presserat nicht nachvollziehbar ist zudem die Rüge des Beschwerdeführers, die Verwendung des Bildes eines deutschen Fussballfans aus dem Jahr 2010 verstosse gegen Ziffer 4 der «Erklärung». Aus der Beschwerdebegründung ist nicht ersichtlich, inwiefern «Blick am Abend» bei der Beschaffung des «Bildes» unlauter vorgegangen sein soll. Die Bildlegende «Deutsche in Zürich während der WM 2010 im 9er-Tram» gibt zudem den Bildinhalt korrekt wieder. Das Bild wirkt weder aggressiv und es braucht schon sehr viel Fantasie um im ausgestreckten Arm (ansstatt eines Victory—Zeichens?) einen Hitlergruss zu sehen.

c) Soweit der Beschwerdeführer schliesslich spekuliert, bei der im Bericht zitierten Passantin «Sabine Oostra (42), Ethnologin, Volketswil ZH», habe «Blick am Abend» den Namen verwechselt, eine falsche Berufsbezeichnung angegeben oder die Person gar erfunden, ist es nicht Sache des Presserates, diese Mutmassungen zu überprüfen. Allein die Tatsache, dass eine Person im Internet nicht auffindbar ist, bedeutet nicht zwingend, dass sie nicht existiert.

III. Feststellung

Der Presserat tritt nicht auf die Beschwerde ein.