I. Sachverhalt
A. Im Dezember 2008 unterbreitete der freie Journalist Vito Robbiani namens seiner Firma Mediatree produzioni sagl der Sendung «Patti Chiari» der Radiotelevisione Svizzera di lingua italiana (nachfolgend: RSI) eine Offerte für eine Reportagenserie zum Thema «Gebrauchtwagenmarkt». Die Titel der drei vorgeschlagenen 12-minütigen Beiträge lauteten: «‹Lifting› des Kilometerzählers» («Il lifting del contachilometri»); «Wie findet man heraus, ob die Occasion ein Unfallwagen ist?» («Come fare a sapere se l’occasione che stiamo comprando ha subito un incidente») und «Goldene Gelegenheiten» («Quando l’occasione è d’oro»). Gestützt auf die Offerte schlossen die Parteien am 23. Dezember 2008 einen Produktionsvertrag.
B. Am 8. Mai 2009 strahlte «Patti Chiari» dann allerdings bloss zwei der drei von Mediatree produzierten und gelieferten Reportagen aus. Nachdem er den Beitrag «‹Lifting› des Kilometerzählers» visioniert hatte, beschloss der Produzent der Sendung nach Rücksprache mit dem Rechtskonsulenten der RSI, die Reportage wegen strafrechtlicher Risiken nicht zu senden.
In der nicht ausgestrahlten – nachgestellten – Reportage bringt der Journalist ein Auto in eine Garage. Er fragt den (in Bild und Ton unkenntlich gemachten) Garagisten, den Stand des Kilometerzählers zu manipulieren. Gegen Bezahlung von 150 Franken ist der Garagist dazu ohne Weiteres bereit. Er stellt den Zähler von zuvor 190’162 Kilometer auf 110’013 Kilometer zurück.
C. Am 22. Mai 2009 gab Vito Robbiani in einem Brief an den Verantwortlichen der RSI-Informationssendungen, Edy Salmina, seiner Enttäuschung darüber Ausdruck, dass «Patti Chiari» die von Alberto Meroni und ihm produzierte Reportage nicht sendete. Mit dieser «Zensur» habe man dem Publikum eine wichtige Information vorenthalten. Zwar gebe es auch andere Möglichkeiten, um die Manipulation von Kilometerzählern bei Gebrauchtwagen zu thematisieren. Bekanntlich habe aber die Art und Weise der Informationsvermittlung einen wesentlichen Einfluss darauf, wie eine Information vom Publikum wahrgenommen werde. Das Hauptziel der Reportage sei es gewesen, Käufer von Occasionsautos zu warnen. Im Übrigen hätte eine Studiodiskussion die Ausstrahlung begleitet, um allfällige Zweifel am Beitrag auszuräumen.
D. Am 25. Mai 2009 antwortete Edy Salmina per E-Mail, er verstehe die Enttäuschung von Vito Robbiani. Von Zensur könne aber keine Rede sein. Er habe lediglich für die Einhaltung der rechtlichen Vorschriften gesorgt, was gerade für den Service public unabdingbar sei. Die Zuschauer seien trotzdem in der Lage gewesen, die Mechanismen zu begreifen, die «Patti Chiari» habe aufzeigen wollen.
E. Am 3. Juni 2009 gelangte Vito Robbiani mit einer Beschwerde an den Schweizer Presserat. Darin beantragt er, der Presserat solle sich in einer grundlegenden Stellungnahme zur Rolle der Anwälte und Juristen äussern, die – insbesondere bei der RSI – in den Redaktionen «Kontrollen und Zensur ausüben». Der Einfluss der Juristen beeinträchtige die Wirkung der journalistischen Beiträge oder verfälsche sie sogar. Juristische Interventionen schafften Fakten, denen sich die Produzenten – bei der RSI seien dies Journalisten – unterzögen. Es gehe ihm nicht um Einzelfälle, aber er habe es schon mehrfach erlebt, dass Juristen beim Schneiden von Beiträgen eingriffen, um Strafanzeigen zu vermeiden. Aufgrund juristischer Interventionen verlangten die Produzenten von den Journalisten/Autoren, heikle Passagen herauszuschneiden. Dies, obwohl die Beiträge unter Einhaltung der berufsethischen Normen der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» produziert würden. Der Presserat solle deshalb Grenzen für derartige Eingriffe in die redaktionelle Arbeit festlegen.
Zudem unterbreitet der Beschwerdeführer dem Presserat den konkreten Fall des Verzichts der RSI auf die Ausstrahlung des Beitrags «‹Lifting› des Kilometerzählers» in der Sendung «Patti Chiari» vom 8. Mai 2009 zur Beurteilung. Es sei zu prüfen, ob die RSI nicht die Ziffern 1 (Recht der Öffentlichkeit, die Wahrheit zu erfahren) und 11 (journalistische Weisungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt habe.
Der Produzent von «Patti Chiari» und der Chef der Informationsabteilung der RSI begründeten ihren Entscheid insbesondere mit dem Argument, die Autoren des Beitrags hätten den Garagisten zu einem strafrechtlichen Vergehen angestiftet. Aber selbst wenn mit ihrem Vorgehen eine Straftat vollendet hätten, werde dies durch die Aufdeckung eines gravierenden Missstandes aufgewogen. Neben der Beurteilung des konkreten Falls fordert der Beschwerdeführer den Presserat auch dazu auf, sich zu den Grenzen der journalistischen Recherche in vergleichbaren Fällen zu äussern.
F. Am 21. Juli 2009 beantragte die RSI, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Eventuell sei sie abzuweisen.
Soweit der Beschwerdeführer die Rolle der Anwälte und Juristen in den Redaktionen zur Diskussion stelle, entspreche die Beschwerdebegründung nicht den Anforderungen von Art. 8 Abs. 2 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserats. Der Rückgriff auf juristische Berater schränke die redaktionelle Freiheit nicht ein. Vielmehr helfe er den Journalistinnen und Journalisten, von der Medienfreiheit Gebrauch zu machen – innerhalb der durch das Recht und die Berufsethik gesetzten Grenzen. Wer diese Rahmenbedingungen als Zensur betrachte, übersehe, dass auch die journalistischen Freiheiten auf dem Fundament von Berufsethik und Rechtsordnung beruhten.
Zur Kritik des Beschwerdeführers, sie habe zu Unrecht darauf verzichtet, den Beitrag «‹Lifting› des Kilometerzählers» auszustrahlen, wendet die RSI ein, dieser Teil der Beschwerde von Vito Robbiani verstosse gegen Treu und Glauben. Im Produktionsvertrag behalte sich die RSI ausdrücklich das Recht vor, Beiträge auch nach ihrer Realisierung nach freiem Ermessen zu bearbeiten und abzuändern. Es sei missbräuchlich, wenn der Beschwerdeführer diese Klausel widerspruchslos unterzeichne, den Beitrag unter Abänderung der getroffenen Vereinbarungen produziere, das Honorar einkassiere und dann erst nachträglich protestiere, wenn die RSI von ihren Rechten Gebrauch mache.
Inhaltlich weist die RSI darauf hin, es gehe zwar um eine verdeckte Recherche, nicht aber um eine solche mit versteckter Kamera. Die Aufnahmen der nicht gesendeten Reportage seien nachgestellt. Der Garagist, der den Kilometerzähler manipulierte, habe hingegen nicht gewusst, mit wem er es tatsächlich zu tun hatte. Der Produzent von «Patti Chiari» habe seine Zustimmung zur Produktion des Beitrags an die Bedingung geknüpft, dass keine versteckte Kamera verwendet werde, dass der Garagist – falls er zur Manipulation bereit sei – vor Ausstrahlung der Reportage mit den gegenüber ihm erhobenen schweren Vorwürfen konfrontiert werde und dass das Auto mit dem manipulierten Kilometerzähler nicht verkauft, sondern der Kilometerzähler wieder in den ursprünglichen Zustand versetzt werde. Zudem habe man mit Vito Robbiani vereinbart, dessen eigenes Auto für den Test zu verwenden.
Im Laufe der Recherche habe der Beschwerdeführer dann aber kurzfristig mitgeteilt – der Termin beim Garagisten war bereits für die darauffolgende Woche abgemacht – stattdessen das Auto einer Drittperson einzusetzen. Dies habe die Rahmenbedingungen grundlegend verändert. Denn die Drittperson habe sich zusichern lassen, dass ihre Mitwirkung anonym bleibe. Es sei deshalb nicht mehr möglich gewesen, den Garagisten wie vorgesehen vor der Ausstrahlung mit den schweren Vorwürfen zu konfrontieren. Und wenn «Patti Chiari» den Garagisten bei der Ausstrahlung vollständig anonymisierte, wäre tendenziell die gesamte Branche unter G
eneralverdacht gestanden.
Neben berufsethischen Fragen habe sich zudem auch ein strafrechtliches Problem gestellt: Der Journalist habe den Garagisten zu einer strafrechtlich relevanten Vorbereitungshandlung für einen Betrug angestiftet. Selbst wenn es am Willen gefehlt habe, die Straftat zu vollenden, bleibe das Vorgehen strafrechtlich heikel. Nach Konsultation des Rechtskonsulenten habe sich der Produzent von «Patti Chiari» auch deshalb dafür entschieden, auf die Ausstrahlung zu verzichten. Bei einer Gesamtabwägung sei die RSI zum Schluss gelangt, trotz des unbestrittenen öffentlichen Interesses an der Ausstrahlung der Reportage sei es nicht gerechtfertigt, dafür die Verletzung berufsethischer Normen in Kauf zu nehmen und ein Strafverfahren zu riskieren. Zumal es auch andere Möglichkeiten gebe, aufzuzeigen, wie einfach es ist, Kilometerzähler von Autos zu manipulieren.
G. In einer ergänzenden Eingabe vom 14. September 2009 präzisierte Vito Robbiani, bei der Prüfung der Rolle der Anwälte und Juristen in den Redaktionen gehe es ihm nicht um konkrete Einzelfälle bei der RSI. Er wolle das Problem vielmehr prinzipiell zur Diskussion stellen.
Beim Beitrag «‹Lifting› des Kilometerzählers» beziehe sich seine Beschwerde zudem nicht auf (vertrags-)rechtliche, sondern nur auf berufsethische Aspekte. Bei der Realisierung von Reportagen passiere immer Unvorhergesehenes. Im konkreten Fall habe das Auto im dümmsten Moment eine Panne gehabt. Er habe das geänderte Vorgehen mit dem Produzenten besprochen. Dabei sei auch die Frage des «Audiatur et altera pars» ein Thema gewesen. Es sei ihm aber nicht darum gegangen, einen einzelnen Garagisten zu beschuldigen. Er habe das Publikum generell vor diesem Missbrauch warnen wollen. Die strafrechtliche Problematik habe sich im Übrigen von Anfang an gestellt.
H. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Klaus Lange, Philip Kübler, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider angehören. Kammerpräsident Edy Salmina, Verantwortlicher der RSI-Informationssendungen, trat von sich aus in den Ausstand.
I. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 26. November 2009 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. a) Gemäss Art. 8 Abs. 2 des Geschäftsreglements des Presserates muss die Beschwerdebegründung den massgeblichen Sachverhalt enthalten und zudem angeben, welche Punkte der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» aus Sicht der Beschwerdeführerin/des Beschwerdeführers durch den beanstandeten Medienbericht verletzt worden sind.
Soweit Vito Robbiani in seiner Eingabe eigene Erfahrungen bei der RSI zum Einfluss von Anwälten und Juristen auf journalistische Inhalte erwähnt, sind diese Angaben für den Presserat zu wenig präzis, um darauf einzugehen. Dies hindert den Presserat aber nicht, sich in allgemeiner Weise losgelöst von der RSI zu der vom Beschwerdeführer aufgeworfenen Frage zu äussern.
b) Es gehört zu den berufsethischen Pflichten, sich vor der Veröffentlichung eines Medienberichts soweit möglich darüber zu vergewissern, ob die Publikation rechtlich und berufsethisch vertretbar ist. Genauso wie die Recherche von Informationen oder die Einholung von Expertenmeinungen aus anderen Fachbereichen ermöglicht in Zweifelsfällen auch ein juristisches Gutachten den Journalistinnen und Journalisten, redaktionelle Entscheide in Kenntnis der wesentlichen Fakten zu treffen. Dies verändert weder die redaktionellen Zuständigkeiten, noch führt es a priori zu Zensur. Es bleibt im Einzelfall den Verantwortlichen in den Redaktionen überlassen, ob sie allfälligen juristischen Bedenken bei ihrem Entscheid Rechnung tragen und in welchem Ausmass sie allenfalls bereit sind, rechtliche Risiken einzugehen, weil sie dies aufgrund des öffentlichen Interesses ausnahmsweise für angezeigt halten.
2. Die RSI beantragt auch in Bezug auf den nicht ausgestrahlten Beitrag «‹Lifting› des Kilometerzählers», nicht auf die Beschwerde einzutreten, da der Beschwerdeführer wider Treu und Glauben handle. Bei der Prüfung der Frage, ob der Presserat auf eine Beschwerde eintritt, sind allerdings weder die Motive noch das rechtliche Verhalten des Beschwerdeführers von Bedeutung. Vorbehalten sind die – hier allerdings nicht zur Diskussion stehenden – Fälle, die in Art. 10 des Geschäftsreglements aufgeführt sind (parallel hängige Verfahren; Erlangung bzw. Vorenthaltung von Beweismitteln). Da Vito Robbiani im zweiten Teil seiner Eingabe die Verletzung von berufsethischen Normen durch die RSI beanstandet, ist auf diesen Teil der Beschwerde einzutreten.
3. a) Laut Ziffer 1 der «Erklärung» halten sich Journalistinnen und Journalisten «an die Wahrheit ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen und lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren». Aus dem Grundsatz der Information der Öffentlichkeit «ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen» ist allerdings kein absoluter Vorrang der Wahrheitspflicht gegenüber den andern berufsethischen Pflichten abzuleiten. Vielmehr ist auch diese Bestimmung im Gesamtzusammenhang der «Erklärung» zu interpretieren.
Die bei der Erweiterung der Trägerschaft der Stiftung Schweizer Presserat auf Verleger und SRG SSR idée suisse vereinbarten Protokollerklärungen formulieren dies wie folgt: «Abschnitt 3 der Präambel bekräftigt den ideellen Vorrang der ‹Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit›. Dies ist ja auch der Geltungsgrund der Kommunikationsgrundrechte der Bundesverfassung. Der Abschnitt ändert nichts an der arbeitsrechtlichen Kompetenzordnung und der Pflicht, verfassungsmässige Gesetze und in diesem Rahmen ergangene Gerichtsurteile einzuhalten. Vorbehalten sind begründete Fälle der Inkaufnahme einer Strafe wegen gewissensbedingter Widersetzlichkeit. (…) Die Berufsethik der Journalistinnen und Journalisten postuliert nicht, diese stünden grundsätzlich über den Gesetzen und würden sich den Verfahren vor demokratisch, rechtsstaatlich legitimierten Gerichten und Behörden entziehen.»
Der Presserat hat zudem bereits in der Stellungnahme 1/1992 festgehalten, dass die Auswahl der zu veröffentlichenden Informationen im Ermessen der (Chef-)Redaktion der einzelnen Medien liegt. Ebenso gilt dies für den Abdruck von Medienmitteilungen (11/1998) oder Leserbriefen (vgl. unter vielen die Stellungnahme 5/2008). Ebenso wenig hat der Beschwerdeführer als freier Journalist Anspruch darauf, dass seine Berichte von der RSI veröffentlicht werden (17/2006). Für den Presserat sind Redaktionen nur in Ausnahmefällen verpflichtet, eine bestimmte Information zu veröffentlichen. Sie sollten jedoch nach journalistischen Kriterien entscheiden, worüber und wie sie berichten (37/2005). Und sie dürfen redaktionelle Entscheide nicht willkürlich fällen, sondern sind an die Grundsätze der Verhältnismässigkeit gebunden (28/2002).
b) Hat die RSI bei ihrem Entscheid, die Reportage «‹Lifting› des Kilometerzählers» nicht zu senden, der Öffentlichkeit wichtige Informationen vorenthalten? Hat sie sich dabei von anderen als journalistischen Kriterien leiten lassen und ist sie verhältnismässig vorgegangen? Die RSI begründet ihren Entscheid damit, die Ausstrahlung des Beitrags «‹Lifting› des Kilometerzählers» hätte fast unvermeidlich eine Verletzung berufsethischer Pflichten zur Folge gehabt und wäre zudem auch strafrechtlich zumindest riskant gewesen.
Soweit sich die RSI dabei auf das Prinzip des «audiatur et altera pars» bezieht, kann sie sich auf die Stellungnahme 14/2001 abstützen. Darin hat der Presserat postuliert, die Anhörung vor der Veröffentlichung schwerer Vorwürfe sei auch bei verdeckten Recherchen anzuwenden. Angesichts des klaren Wortlauts von Ziffer 6 der «Erklärung» (Quellenschutz) stand auch eine Offenlegung der an der verdeckten Recherche mitwirkenden Drittperson ausser Diskussion. Die vom Beschwerdeführer gewählte Lösung,
den Bericht zu anonymisieren, macht zwar eine Anhörung entbehrlich (vgl. hierzu die Stellungnahme 10/1997) und es scheint fraglich, ob diese Fassung der Reportage – wie dies die RSI geltend macht – eine ganze Branche diskreditiert.
Die auch von Vito Robbiani zumindest prinzipiell anerkannte strafrechtliche Problematik bleibt hingegen auch nach der Anonymisierung des Beitrags bestehen. Der Presserat hat in der bereits angeführten Stellungnahme 14/2001 darauf hingewiesen, dass Redaktionen bei verdeckten Recherchen vor der Veröffentlichung des recherchierten Materials verpflichtet sind, die für und gegen die Veröffentlichung sprechenden Interessen noch einmal sorgfältig gegeneinander abzuwägen und gegebenenfalls auf die Publikation zu verzichten. Wenn die RSI erst bei dieser letzten Abwägung vor der Veröffentlichung zum Schluss kam, das Vorgehen bei der verdeckten Recherche sei strafrechtlich riskant gewesen, ist ihr allein deshalb kein Vorwurf zu machen.
c) Der Beschwerdeführer fordert den Presserat auf, sich sowohl im konkreten Fall als auch generell zu den Grenzen verdeckter Recherchen zu äussern. Gemäss der Richtlinie 4.2 zur «Erklärung» sind verdeckte Recherchen «ausnahmsweise zulässig, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an den damit recherchierten Informationen besteht und wenn diese Informationen nicht auf andere Weise beschafft werden können».
Ausgehend von der bisherigen Praxis des Presserates (vgl. die Stellungnahmen 14/2000, 14/2001, 50/2005, 51/2007 und 58/2009) ist bei der Beurteilung der Zulässigkeit von verdeckten Recherchen zunächst einmal dreierlei abzuwägen: Besteht ein öffentliches Interesse an den zu recherchierenden Informationen? Ist die verdeckte Recherche unabdingbar, um an die fraglichen Informationen zu gelangen? Und erscheint der Rückgriff auf dieses Mittel bei Abwägung zwischen öffentlichem Interesse und dem mit der verdeckten Recherche verbundenen Vertrauensbruch als verhältnismässig?
Bereits die Frage, ob ein öffentliches Interesse an den verdeckt zu recherchierenden Informationen besteht, lässt sich nicht lösgelöst vom Einzelfall beantworten. Der Presserat hat in der Stellungnahme 5/2004 darauf hingewiesen, dass eine generell-abstrakte Umschreibung des Begriffs «öffentliches Interesse» für ihn ein Ding der Unmöglichkeit ist. «Es handelt sich um einen relationalen Begriff, eine generelle Klärung kann der Presserat nicht leisten.» Ebenso ist auch die Prüfung der Erforderlichkeit und der Verhältnismässigkeit einer verdeckten Recherche nur kontextbezogen möglich.
Immerhin hat der Presserat diese allgemeinen Prinzipien jüngst in der Stellungnahme 58/2009 weiter konkretisiert: «Medienschaffende sollten auch bei verdeckten Recherchen darauf achten, dass sie nicht selber zu Akteuren werden. (…) Verdeckte Recherchen setzen im Einzelfall eine sorgfältige Güterabwägung voraus. Denn jede verdeckte Recherche missbraucht gezwungenermassen das Vertrauen der davon Betroffenen. Dabei ist aus dem Prinzip der Verhältnismässigkeit abzuleiten, dass je intensiver Medienschaffende in die Persönlichkeit von privaten Personen oder in die Geschäftsgeheimnisse von Firmen eindringen, desto höher muss das Interesse der Öffentlichkeit an der Enthüllung eines Missstandes sein. Je höher der Informationswert einer Recherche ist, je wichtiger die Information für den gesellschaftlichen Diskurs, je weniger es möglich erscheint, mit einer offenen Recherche zu der gleichen Erkenntnis zu gelangen, um so eher ist es gerechtfertigt, ausnahmsweise verdeckt zu recherchieren.»
Gestützt auf diese Überlegungen rügte der Presserat einen «K-Tipp»-Journalisten, der sich inkognito bei einer Krankenkasse als unabhängiger Versicherungsberater anstellen liess. Nach Auffassung des Presserates war die verdeckte Recherche im konkreten Fall unverhältnismässig, weil die gegenüber der Krankenkasse erhobenen Vorwürfe grösstenteils nicht neu waren und zudem auch mit anderen Mitteln in Erfahrung zu bringen gewesen wären. Anders entschied er bei der Beurteilung einer verdeckten Recherche über die Beratungsqualität von Schönheitschirurgen (51/2007). Diese waren auffallend oft bereit, einer Schönheitskönigin den Wunsch nach einer Operation auch dort zu erfüllen, wo er ihnen als offenkundig unvernünftig erscheinen müsste. Er kam zum Schluss, in diesem Fall sei die verdeckte Recherche kaum durch eine andere, offene Recherche nicht zu ersetzen. Für den Presserat fiel allerdings auch ins Gewicht, dass die betroffenen Ärzte anschliessend über die Recherche informiert wurden und Gelegenheit bekamen, zur Kritik an ihrem Beratungsgespräch Stellung zu nehmen. Darüber hinaus hatten sie das Recht und die Möglichkeit, die Ausstrahlung der sie betreffenden Bild- und Tondokumente zu untersagen.
d) Bei der Beurteilung des konkreten Falls erscheint es dem Presserat gerade unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit der verdeckten Recherche mehr als fraglich, ob der Rückgriff auf diese Methode bei der vollständig anonymisierten Fassung noch verhältnismässig war. Am Beispiel der Manipulation von Kilometerzählern im Gebrauchtwagenhandel lässt sich aufzeigen, dass es auf die Umstände des Einzelfalls ankommt, ob eine verdeckte Recherche und deren Veröffentlichung berufsethisch zulässig ist oder nicht. Um bloss vor dem Phänomen als solchem zu warnen, scheint eine verdeckte Recherche kaum zwingend erforderlich. Zum einen wird vor derartigen Praktiken bereits seit längerem gewarnt. Zum anderen gibt es für den Konsumenten ein relativ einfaches Mittel, um Manipulationen auf die Spur zu kommen. Sofern Betrüger nicht geradezu ein ganzes Lügengebäude errichten, genügt es im Prinzip, sich mit einem Blick ins Serviceheft des Fahrzeugs zu vergewissern, ob der Kilometerstand auf dem Tacho den tatsächlichen Verhältnissen entspricht.
Von öffentlichem Interesse wäre es hingegen allenfalls, herauszufinden, wie viele Garagisten zum Beispiel im Tessin bereit sind, den Kilometerzähler zurückzustellen, um ein Occasionsauto auf diese Weise zu «verjüngen» und wie hoch damit die Wahrscheinlichkeit erscheint, Opfer eines Betrugs(versuchs) zu werden. Dies ohne verdeckte Recherche herauszufinden, scheint kaum möglich. Allerdings wäre in Analogie zum Fall der Schönheitschirurgen auch hier zu verlangen, die Betroffenen vor der Publikation mit dem Rechercheergebnis zu konfrontieren. Und um strafrechtliche Risiken zu vermeiden, wäre – wiederum in Analogie zu den Schönheitschirurgen – zu überlegen, ob es nicht genügte, die blosse Bereitschaft zur Manipulation zu dokumentieren, anstatt die betroffenen Garagisten zu einer strafbaren Vorbereitungshandlung zu einem Betrug zu bewegen.
e) Zusammenfassend stellt der Presserat fest, dass die Reportage von Vito Robbiani in der anonymisierten Form nicht mehr einen konkreten Fall von Missbrauch aufdeckt, sondern bloss in allgemeiner Form vor einem möglichen Betrug warnt. Die Warnung vor solchen Praktiken ist nicht neu und Medien können ihr Publikum – was auch der Beschwerdeführer in seiner ergänzenden Eingabe vom 14. September 2009 einräumt – darauf hinweisen, ohne verdeckt zu recherchieren und strafrechtliche Risiken in Kauf zu nehmen. Die RSI hat sich bei ihrem Entscheid somit auf journalistische Kriterien gestützt und nicht willkürlich, sondern verhältnismässig gehandelt. Eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» ist deshalb zu verneinen.
4. a) Ziffer 11 der «Erklärung der Pflichten» lautet: «Sie nehmen journalistische Weisungen nur von den hierfür als verantwortlich bezeichneten Mitgliedern ihrer Redaktion entgegen, und akzeptieren sie nur dann, wenn diese zur ‹Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten› nicht im Gegensatz stehen.»
b) Wie oben in Ziffer 1 der Erwägungen dargelegt, verstösst weder die Einholung juristischer Gutachten noch deren Berücksichtigung in der redaktionellen Entscheidfindung a priori gegen die Berufsethik. Dies gilt jedenfalls dann, solange die Redaktionsleitung über die Publikation
entscheidet. Dies wird im konkreten Fall auch vom Beschwerdeführer nicht bestritten. Entsprechend ist für den Presserat eine Verletzung der Ziffer 11 der «Erklärung» durch die RSI offensichtlich zu verneinen. Zumal der Entscheid der Redaktionsleitung von «Patti Chiari» und des Verantwortlichen der Abteilung Information der RSI, wie in Ziffer 3 der Erwägungen ausgeführt, berufsethisch nicht zu beanstanden ist.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit der Presserat darauf eintritt.
2. Die Einholung juristischer Gutachten in Zweifelsfällen verändert weder die redaktionellen Zuständigkeiten noch führt es a priori zu Zensur. Vielmehr bleibt es den Verantwortlichen in den Redaktionen überlassen, ob sie allfälligen juristischen Bedenken Rechnung tragen und in welchem Ausmass sie allenfalls bereit sind, rechtliche Risiken einzugehen, weil sie dies aufgrund des öffentlichen Interesses ausnahmsweise für angezeigt halten.
3. Verdeckte Recherchen sind zulässig, sofern ein öffentliches Interesse an den zu recherchierenden Informationen besteht und diese nicht anders zugänglich sind. Zudem muss der Rückgriff auf dieses Mittel bei Abwägung zwischen öffentlichem Interesse und dem mit der verdeckten Recherche verbundenen Vertrauensbruch als verhältnismässig erscheinen. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, lässt sich nicht in generell-abstrakter Weise, losgelöst vom Einzelfall definieren.
4. Die RSI hat mit dem Entscheid, auf die Ausstrahlung der Reportage «‹Lifting› des Kilometerzählers» zu verzichten, die Ziffern 1 (Wahrheit) und 11 (journalistische Weisungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.