Nr. 50/2005
Verdeckte Recherche im Beichtstuhl

(Werlen c. «Facts») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 25. November 2005

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I. Sachverhalt

A. In der Ausgabe vom 26. Mai 2005 veröffentlichte das Nachrichtenmagazin «Facts» unter dem Titel «Herr vergib mir!» ein «längst fälliges Plädoyer für die Beichte». Die Autorin Nicole Althaus berichtet darin ausführlich über ihre im Mai 2005 in der Stiftskirche des Klosters Einsiedeln – zum ersten Mal seit Jahren – abgelegte Beichte. In ihrem persönlichen Erlebnisbericht legt die im katholischen Glauben aufgewachsene Autorin das Spannungsfeld zwischen einem nicht von religiösen Regeln geprägten modernen städtischen Leben und der konkreten Erfahrung im Beichtstuhl dar. Zu ihrer eigenen Rolle als Journalistin schreibt Althaus: «Sie hat (…) vor allem aber ein schlechtes Gewissen, weil sie kurz davor steht, ein heiliges Sakrament zu entweihen, um später darüber zu schreiben.» Und sie schliesst den Artikel mit dem Vorsatz: «Irgendwann wird die Sünderin noch einmal herkommen, nach Einsiedeln, um diese Beichte zu beichten.»

B. Am 23. Juni 2005 gelangte der anwaltlich vertretene Abt des Klosters Einsiedeln, Martin Werlen, an den Presserat und erhob Beschwerde gegen «Facts» und die Autorin des Artikels. Er beanstandete, die Journalistin habe das Sakrament der Beichte und den in einem Irrglauben gelassenen Seelsorger missbraucht, um «Fakten» für eine «Story» zu sammeln. Dieses Vorgehen sei unfair und unlauter (Ziffer 4 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten»). Die Voraussetzungen für eine Verschleierung des Berufs seien nicht gegeben gewesen, da ein schützenswertes Interesse an der Veröffentlichung gefehlt habe und zudem die Information auch auf andere Weise hätte beschafft werden können (Richtlinie 4.2 zur «Erklärung»). Weiter sei die Menschenwürde des Seelsorgers beeinträchtigt worden, weil er dazu benutzt worden sei, um an «Stoff» für eine Geschichte heranzukommen. Ebenso sei die römisch-katholische Glaubensgemeinschaft durch den Missbrauch des «heiligen Sakraments der Beichte» verletzt worden (Ziffer 8 der «Erklärung»).

C. In ihrer Beschwerdeantwort vom 19. September 2005 beantragte die durch den Tamedia-Rechtsdienst vertretene «Facts»-Redaktion», die Beschwerde sei abzuweisen. Die Journalistin habe weder das Sakrament der Beichte entweiht noch das Beichtgeheimnis verletzt. Das öffentliche Interesse an einer Berichterstattung und die weiteren Voraussetzungen einer verdeckten Recherche seien gegeben gewesen. Ein theoretisches Gespräch über die Beichte mit einem Vertreter der Kirche hätte das persönliche Erleben der Beichte nicht ersetzen können. Mit ihrer zurückhaltenden Wiedergabe persönlicher Aussagen des Seelsorgers habe die Autorin dem Fairnessprinzip Rechnung getragen und zudem keine Informationen veröffentlicht, die Rückschlüsse auf dessen Identität erlaubt hätten. Schliesslich habe der respektvoll geschriebene Text weder den Pater noch die katholische Kirche entwürdigt.

D. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Peter Studer (Kammerpräsident), Luisa Ghiringelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Katharina Lüthi, Edy Salmina und Francesca Snider (Mitglieder) angehören.

E. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 25. November 2005 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung von Ziffer 8 der «Erklärung» (Verletzung der Menschenwürde; Diskriminierungsverbot) rügt, erachtet der Presserat die Beschwerde als unbegründet. Die Freiheit von Kommentar und Kritik gilt auch gegenüber Kirchen und religiösen Gemeinschaften sowie gegenüber Elementen ihrer Glaubensüberzeugungen. Beiträge zu religiösen Themen sind zulässig, sofern sie nicht religiöse Symbole verunglimpfen und lächerlich machen oder die Gefühle von Gläubigen verletzen (Stellungnahme 19/2002). In Bezug auf das Diskriminierungsverbot und das Gebot der Respektierung der Menschenwürde hat der Presserat weiter festgestellt, dass nicht jede kritische Bezugnahme auf Individuen oder schützenswerte Gruppen (insbesondere Minderheiten) eine Verletzung von Ziffer 8 der «Erklärung» begründet. Eine solche Bezugnahme verstösst nur dann gegen die Berufsethik, wenn sie mit einem erheblich verletzenden Unwerturteil verbunden ist (37/2004).

Der die Beichte der Journalistin abnehmende Pater wird von «Facts» in zurückhaltender, jedenfalls nicht in besonders negativer Weise geschildert und zudem anonym gehalten. Ebensowenig entsteht für die unvoreingenommene Leserschaft bei der Gesamtbetrachtung des Artikels der Eindruck, die Autorin beabsichtige, das religiöse Sakrament der Beichte zu verunglimpfen. Im Gegenteil schildert sie ihr persönliches Beichterlebnis durchaus liebevoll und positiv.

2. Im Zentrum der Beschwerde steht vielmehr die Frage, ob eine verdeckte Recherche bei einer Beichte grundsätzlich zulässig ist und falls ja, ob die Voraussetzungen dazu im konkreten Fall gegeben waren. Soweit der Beschwerdeführer darüber hinaus das Fairnessprinzip anruft, hat diese Rüge hier keine eigenständige Bedeutung. Denn die Regeln zur Zulässigkeit von verdeckten Recherchen stellen nichts anderes als eine Konkretisierung des Fairnessprinzips unter dem Gesichtspunkt der Lauterkeit der Recherche dar.

3. a) Die Richtlinie 4.2 zur «Erklärung» (verdeckte Recherchen) lautet: «Verdeckte Recherchen sind ausnahmsweise zulässig, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an den damit recherchierten Informationen besteht und wenn diese Informationen nicht auf andere Weise beschafft werden können.» Der Presserat hat sich in seiner Praxis bisher zu zwei Fällen von verdeckter Recherche geäussert: In der Stellungnahme 14/2000 wies er bei der verschleierten Beschaffung von Beiträgen für eine satirische Sendung darauf hin, das Gebot der Lauterkeit bei der Informationsbeschaffung gelte auch in diesem Zusammenhang. Bei derartigen Beiträgen seien die Betroffenen spätestens vor der Veröffentlichung über den effektiven Verwendungszweck ihrer Aussagen zu orientieren. Auch bei der Veröffentlichung der Ergebnisse gerechtfertigter verdeckter Recherchen sind zudem die Betroffenen vorgängig zu schweren Vorwürfen anzuhören und ist ihre Stellungnahme zumindest kurz im Bericht wiederzugeben (Stellungnahme 19/2001).

b) Wie bereits oben unter Ziffer 1 der Erwägungen ausgeführt, ist kein Thema, also auch das religiöse Sakrament der Beichte – von vornherein von der Medienberichterstattung ausgenommen. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers steht zudem weder das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Beichtendem und Seelsorger, noch die Tatsache, dass es um ein ideelles und nicht um ein wirtschaftliches Thema geht, einer verdeckten Recherche von vornherein entgegen. Denn ebenso wie bei wirtschaftlichen Themen ist es unter Umständen auch bei ideellen Themen ohne verdeckte Recherchen nicht möglich, beispielsweise über tatsächliche oder angebliche Missstände zu berichten. Insoweit stimmt der Schweizer Presserat mit einem vom Deutschen Presserat im Jahr 2003 gefällten Grundsatzentscheid (B1-56/03) überein. Allerdings gilt damit kein genereller Freipass für verdeckte Recherchen in Beichtstühlen. Vielmehr ist im Einzelfall jeweils genau zu prüfen, ob die in der Richtlinie 4.2 statuierten Voraussetzungen der ausnahmsweisen Rechtfertigung einer verdeckten Recherche – ein überwiegendes öffentliches Interesse an den recherchierten Informationen sowie die Unmöglichkeit, diese Informationen auf andere Weise zu beschaffen – gegeben sind.

c) Der Beschwerdeführer macht dazu geltend, sämtliche im Artikel enthaltenen Informationen hätten auch auf «offiziellem» Weg, beispielsweise in einem Gespräch mit ihm, beschafft werden können. Diese Argumentation übersieht, dass Erlebnisberichte gerade bei sehr persönlichen Situationen – dazu gehört die Beichte – ein wichtiges journalistisches Mittel darstellen. Ein Gespräch mit ei
ner offiziellen Informationsstelle macht derartige Recherchen deshalb nicht von vornherein entbehrlich.

Allerdings vermag im konkreten Fall das journalistische Interesse, die subjektive Erfahrung einer modernen städtischen Frau im Beichtstuhl zu vermitteln, das entgegenstehende Interesse des Beichtvaters nicht zu überwiegen, in seinem Vertrauen auf die «Echtheit» und «Vertraulichkeit» des Gesprächs nicht getäuscht zu werden. Denn «Facts» bringt zur Rechtfertigung der verdeckten Recherche keine Gründe vor, die über ein allgemeines gesellschaftliches Interesse hinausgehen würden. In dieser Reportage ging es nicht darum, beispielsweise Missstände aufzudecken oder das Publikum zu warnen. Ein überwiegendes öffentliches Interesse, das eine Veröffentlichung der recherchierten Informationen von vornherein rechtfertigt, besteht in einem solchen Fall nicht. Deshalb wäre die Journalistin berufsethisch verpflichtet gewesen, sich vor der Publikation ihres Berichts gegenüber dem Seelsorger als solche zu erkennen zu geben und gegebenenfalls den Mangel ihrer Recherche durch seine nachträgliche Einwilligung zu «heilen», wie dies auch beispielsweise bei verdeckten Konsumententests mit Namensnennung oder Abbildung durchaus üblich ist. Im Ergebnis erachtet der Presserat deshalb die Richtlinie 4.2 zur «Erklärung» als verletzt, auch wenn die Folgen dieser Verletzung nicht gravierend erscheinen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Mit der Veröffentlichung des Artikels «Herr, vergibt mir!» hat «Facts» die Richtlinie 4.2 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt, da kein überwiegendes öffentliches Interesse an einer Veröffentlichung der verdeckt recherchierten Informationen bestand. Das journalistische Interesse von «Facts», die subjektive Erfahrung einer modernen städtischen Frau im Beichtstuhl zu vermitteln, vermag das entgegenstehende Interesse des Beichtvaters nicht zu überwiegen, in seinem Vertrauen auf die «Echtheit» und «Vertraulichkeit» des Beichtgesprächs nicht getäuscht zu werden. Die Journalistin wäre berufsethisch verpflichtet gewesen, sich vor der Publikation ihres Berichts gegenüber dem Seelsorger als solche zu erkennen zu geben und gegebenenfalls den Mangel ihrer Recherche durch seine nachträgliche Einwilligung zu «heilen».

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

4. Kein gesellschaftlich relevantes Thema, auch nicht das religiöse Sakrament der Beichte, ist von vornherein von der Medienberichterstattung ausgenommen. Ebenso wie bei wirtschaftlichen ist es unter Umständen auch bei ideellen Themen ohne verdeckte Recherche nicht möglich, über tatsächliche oder angebliche Missstände zu berichten. Allerdings ist im Einzelfall immer genau zu prüfen, ob die Voraussetzungen der ausnahmsweisen Rechtfertigung einer verdeckten Recherche – ein überwiegendes öffentliches Interesse an den recherchierten Informationen sowie die Unmöglichkeit, diese Informationen auf andere Weise zu beschaffen – gegeben sind.