Nr. 58/2009
Verdeckte Recherche

(Groupe Mutuel c. «K-Tipp») Stellungnahme des Presserates vom 21. Oktober 2009

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Zusammenfassung

Resumé

Riassunto

I. Sachverhalt

A. Im Februar 2009 veröffentlichte die Groupe Mutuel Versicherungen (nachfolgend: Groupe Mutuel) in der Regionalausgabe Zürich der Gratiszeitung «20 Minuten» sowie auf der Website www.gratisinserat.ch ein Stelleninserat. Darin suchte sie selbstständige «Kundenberater/-innen in der Region».

B. Gestützt auf diese Ausschreibung meldete sich Darko Cetojevic am 24. März 2009 bei der Groupe Mutuel.

C. Am 1. April erhielt Darko Cetojevic verschiedene Unterlagen für seine künftige Tätigkeit, so insbesondere ein Exemplar des Vermittlervertrages und des Provisionsreglements.

D. Am 7. April 2009 teilte Darko Cetojeic der Groupe Mutuel per E-Mail mit, er habe die Unterlagen studiert und würde es gerne als Vermittler probieren. Zudem sei er an der Ausbildung interessiert. Am 8. April 2009 unterzeichnete er einen Antrag als Versicherungsvermittler sowie den Zusammenarbeitsvertrag mit der Groupe Mutuel. Als berufliche Tätigkeit gab er an: «KV-Angestellter, KI-Verlag».

E. Am 17. April 2009 sandte die Groupe Mutuel ihrem neuen Versicherungsberater eine Akkreditierungskarte und am 21. April 2009 besuchte er in den Räumlichkeiten der Versicherung in Oerlikon eine vierstündige Ausbildung. Dabei wurde ihm eine Vermittlermappe mit zahlreichen Unterlagen der Groupe Mutuel überreicht.

F. Am 24. April 2009, teilte Ernst Meierhofer, Redaktionsleiter des «K-Tipp», der Groupe Mutuel per E-Mail mit, die Zeitschrift plane einen Bericht mit dem Titel «In vier Stunden zum Krankenkassen-Vermittler». «Unser fest angestellter Redaktor Darko Cetojevic hat sich unter seinem richtigen Namen auf ein Groupe Mutuel-Stellenangebot gemeldet, in dem unter anderem auch Aus- und Weiterbildung versprochen wurde. Er hat auch von der Groupe Mutuel bereits einen Vermittler-Vertrag erhalten. Bitte betrachten Sie diesen Vertrag als gekündigt.» Ernst Meierhofer unterbreitete der Versicherung die persönliche Schilderung von Darko Cetojevic über die «Schnellbleiche» der Groupe Mutuel verbunden mit der Aufforderung, falls gewünscht bis spätestens am 28. April 2009 dazu Stellung zu nehmen.

G. Am 3. Mai 2009 gelangte die Groupe Mutuel an den Presserat und beanstandete, Darko Cetojevic und der «K-Tipp» hätten mit ihrem Vorgehen gegen Ziffer 4 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (unlautere Recherche) verstossen. Darko Cetojevic habe sich gegenüber der Groupe Mutuel nicht als Journalist ausgewiesen, und seine Gesprächspartner nicht über das Ziel der Gespräche und Kontakte aufgeklärt. Der Journalist habe zudem vertrauliche kommerzielle Informationen in unerlaubter Weise benutzt und die vertraglich vereinbarte Schweigepflicht verletzt.

H. Am 6. Mai 2009 veröffentlichte der «K-Tipp» den Artikel «In vier Stunden zum Krankenkassen-Vermittler». Der Untertitel lautet: «Groupe Mutuel lässt Verkäufer ohne Grundwissen auf Kunden los.» Im Artikel schildert Redaktor Darko Cetojevic seine Erfahrungen mit der Groupe Mutuel. Von Krankenkassen wisse er ungefähr gleich viel wie vor seiner Bewerbung. Und nachdem zuerst von einer Ausbildung an drei Nachmittagen die Rede gewesen sei, habe sie sich auf einen einzigen Nachmittag verkürzt. Der grösste Teil des vierstündigen Vortrags habe in einer ausführlichen Erläuterung der zu vermittelnden Versicherungsprodukte bestanden. Am Schluss vermerkt der Artikel, «K-Tipp» habe den Vorwurf der Schnellbleiche der Direktion von Groupe Mutuel zur Stellungnahme unterbreitet. Diese habe darauf verzichtet, sich dazu zu äussern.

I. Am 12. Juni 2009 beantragte die «K-Tipp»-Redaktion die Beschwerde der Groupe Mutuel sei abzuweisen. Der Sachverhalt sei unbestritten. Die Richtlinie 4.2 zur «Erklärung» lasse verdeckte Recherchen ausnahmsweise zu, sofern ein überwiegendes öffentliches Interesse an den damit recherchierten Informationen besteht und diese Informationen nicht auf andere Weise beschafft werden können. Diese Voraussetzungen der verdeckten Recherche seien im konkreten Fall gegeben. Der vom «K-Tipp» publizierte Missstand sei von hohem öffentlichen Interesse. Im Zusammenhang mit den steigenden Kosten der Grundversicherung werde vielfach diskutiert, dass einzelne Versicherungen für das Abwerben von obligatorisch Grundversicherten jährlich mehrere hundert Millionen Franken ausgeben. Besonders umstritten seien Versicherungsverkäufer, die mangels genügender Kenntnisse über das Krankenversicherungswesen oder wegen den Provisionen potentiellen Kundinnen und Kunden falsche Auskünfte erteilen. «K-Tipp»-Redaktor Darko Cetojevic hätte diese Informationen zudem nicht auf andere Weise beschaffen können.

K. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 1. Kammer zu, der Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philipp Kübler, Klaus Lange, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider (Mitglieder) angehören.

L. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 21. Oktober 2009 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Ziffer 4 der «Erklärung» befasst sich mit der Lauterkeit der journalistischen Recherche. Sie untersagt den Journalistinnen und Journalisten, sich bei der Beschaffung von Informationen unlauterer Methoden zu bedienen. Zu einer lauteren Recherche gehört es nach der Richtlinie 4.1 (Verschleierung der Berufs) grundsätzlich, sich gegenüber den Gesprächspartnern als Journalist/in zu erkennen zu geben. Allerdings sind gemäss der Richtlinie 4.2 verdeckte Recherchen «ausnahmsweise zulässig, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an den damit recherchierten Informationen besteht und wenn diese Informationen nicht auf andere Weise beschafft werden können». Besondere Beachtung ist dabei der Wahrung des Persönlichkeitsschutzes von zufällig anwesenden Personen zu schenken.

Der Presserat hat sich bisher in vier Fällen mit verdeckten Recherchen befasst (Stellungnahmen Nr. 14/2000, 14/2001, 50/2005 und 51/2007). In der Stellungnahme 14/2001 hat der Presserat festgehalten, Medienschaffende sollten auch bei verdeckten Recherchen darauf achten, dass sie nicht selber zu Akteuren werden. Und selbst wenn zum Zeitpunkt der Recherche ein überwiegendes öffentliches Interesse an einer verdeckten Recherche zu bejahen ist, ist vor der Veröffentlichung des recherchierten Materials noch einmal eine Interessenabwägung vorzunehmen und gegebenenfalls auf die Publikation des Rechercheergebnisses zu verzichten.

2. Jede verdeckte Recherche missbraucht gezwungenermassen das Vertrauen der davon Betroffenen. Verdeckte Recherchen sollten deshalb die Ausnahme bleiben und setzen immer eine fallbezogene sorgfältige Güterabwägung voraus. Diese hat sich durch das Prinzip der Verhältnismässigkeit leiten zu lassen. Je intensiver Medienschaffende in die Persönlichkeit von privaten Personen oder in die Geschäftsgeheimnisse von Firmen eindringen, desto höher muss das Interesse der Öffentlichkeit an der Enthüllung eines Missstandes sein. Je höher der Informationswert einer Recherche ist, je wichtiger sie für den gesellschaftlichen Diskurs ist, umso eher rechtfertigt sich eine versteckte Recherche. Je weniger es möglich erscheint, mit einer offenen Recherche zu gleichen oder vergleichbaren Informationen zu gelangen, um so eher ist es gerechtfertigt, verdeckt zu recherchieren.

3. Konsumentenzeitschriften, so beispielsweise der «Beobachter» (vgl. z.B. die Beiträge «Offerten auf wackeligen Füssen» vom 18. Oktober 2002; «Dem schnellen Geld verschrieben», «Versprechen mit Tücken» vom 30. Mai 2003; «Ein wirklich guter Freund vom 17. Oktober 2003), aber auch der «K-Tipp» selber («Makler: Keine makellose Beratung», Ausgabe 15/2001; «So tappen Sie nicht in die Makler-Falle», Ausgabe 15/2005 und zuletzt «K
rankenkasse: Karibik auf Kosten der Kunden», «K-Geld» vom 28. März 2009) warnen seit langem vor den aggressiven Verkaufsmethoden von selbstständigen Versicherungsberatern, insbesondere auch vor denjenigen von Maklern der Groupe Mutuel. Dies wegen der häufig fachlich oft ungenügenden, vor allem durch finanzielle Eigeninteressen (hohe Provisionen) bestimmten und damit zu wenig unabhängigen Beratung.

Zwar liegt es im Interesse der Öffentlichkeit, potentielle Kunden vor schlecht ausgebildeten Krankenkassenvermittlern zu warnen. Im Vergleich zu diesen bereits publizierten Vorwürfen bringt aber die beanstandete verdeckte Recherche nur wenig Neues. Der Artikel «In vier Stunden zum Krankenkassen-Vermittler» lässt sich dahingehend zusammenfassen, die Beschwerdeführerin setze bei der Rekrutierung ihrer selbstständigen Versicherungsmakler nicht nur keine Grundkenntnisse voraus, sondern vermittle ihnen in einer vierstündigen «Schnellbleiche» bloss oberflächliches Wissen. Entsprechend lasse die Groupe Mutuel Verkäufer ohne Grundwissen über Krankenversicherungen auf Kunden los.

Um zu diesen Erkenntnissen zu gelangen, hat der Journalist des «K-Tipp» gegenüber der Beschwerdeführerin nicht nur seine journalistische Tätigkeit verschwiegen, sondern ihr während rund drei Wochen vorgegaukelt, Versicherungsberater werden zu wollen. Er hat einen Antrag ausgefüllt, einen Vertrag unterschrieben, ist also formal relativ weit gegangen. Nach Auffassung des Presserates wäre es mit grosser Wahrscheinlichkeit auch mit anderen Mitteln möglich gewesen, zu diesen Informationen zu gelangen. Der «K-Tipp» dokumentiert gegenüber dem Presserat keinerlei Bemühungen, wonach die Redaktion vergeblich versucht hätte, Angaben über Umfang und Inhalt der internen Schulung der selbstständigen Versicherungsberater durch die Groupe Mutuel offen zu recherchieren. Dabei sind erste Hinweise auf das interne Schulungsangebot der Beschwerdeführerin – dreitägiger Grundkurs zum Thema Krankenversicherung sowie ein halbtägiger Kurs zum Thema «Verkaufsgespräch» – bereits bei Eingabe der Stichwörter «Groupe Mutuel» und «Ausbildung» im Rahmen einer Google-Recherche zu finden.

Bloss um über die bereits bekannten Vorwürfe hinaus zusätzlich zu dokumentieren, dass sich die interne fachliche Aus- und Weiterbildung der selbstständigen Versicherungsberater durch die Groupe Mutuel auf eine «Schnellbleiche» beschränke, erscheint die verdeckte Recherche und insbesondere auch das vom «K-Tipp» gewählte Vorgehen deshalb als unverhältnismässig.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Der «K-Tipp» hat mit der verdeckten Recherche bei der Groupe Mutuel und dem Artikel «In vier Stunden zum Krankenkassen-Vermittler» Ziffer 4 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (verdeckte Recherche) verletzt.

Zusammenfassung

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