Nr. 25/2000
Respektierung der Menschenwürde

(Paul-Müller c. “Blick”) Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 24. August 2000

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I. Sachverhalt

A. Anfang Juni 2000 ereignete sich in Italien ein tragischer Verkehrsunfall. Ein Minibus mit Spielern einer Fussball-Juniorenmannschaft des FC Affoltern prallte mit einem Lastwagen zusammen. Zwei junge Menschen fanden noch auf der Unfallstelle den Tod. Am 10. Juni 2000 berichtete die Tageszeitung „Blick” über das Unglück. Über dem Titel „Sein Bruder sah ihn sterben” ist über fünf Zeitungsspalten das Bild des Unfallopfers Dario S. zu sehen. Der tödlich Verletzte liegt halb unter einem Lastwagenrad. Die Legende dazu: „Vom Rad des Lastwagens überrollt: Dario S. stirbt einen qualvollen Tod.” Im Text wird diese Szene, der langsame und qualvolle zweistündige Todeskampf des 25-jährigen, in Worte gefasst. Die Tatsache, dass der jüngere Bruder zusehen musste, wird fett herausgestrichen.

B. Leserinnen und Leser reagierten in der Leserbriefspalte vom 15. Juni 2000 vor allem auf die schockierende Veröffentlichung des Bildes. Viele der Zuschriften fragten nach der Rücksicht gegenüber den Angehörigen.

C. „Blick“-Chefredaktor Jürg Lehmann räumte auf derselben Seite ein, dass die Zeitung mit der Veröffentlichung dieses Bildes die Gefühle der Angehörigen verletzt habe. Er entschuldigte sich dafür und ergänzte: „Wir müssen mit Takt und Respekt vorgehen. Am Samstag haben wir beides vermissen lassen.”

D. Am 16. Juni 2000 gelangte P. mit einer Beschwerde an den Presserat. Die schockierende Fotografie missachte den Respekt vor der Menschenwürde und trete die Standesregeln für Journalisten mit Füssen. Das Bild sei auch nicht zum „Aufklären über den mörderischen Strassenverkehr” zu verwenden. Das Bild diene einzig der Sensationsgeilheit und dem Umsatz.

E. In der Stellungnahme zur Beschwerde schrieb Chefredaktor Jürg Lehmann am 1. Juli 2000 nochmals, dass der „Blick” mit der Veröffentlichung des Bildes die Grenze des emotional Erträglichen überschritten habe. Mit dem Bild habe der „Blick” auf den Wahnsinn im Strassenverkehr aufmerksam machen, „aufrütteln und zum Nachdenken anregen” wollen, dabei aber die Grenze überschritten. Die Nachrichtenagentur sda habe am 15. Juni 2000 die auf der „Blick-Leser-Seite” gedruckte Erklärung des Chefredaktors über ihren Dienst verbreitet.

F. Das Presseratspräsidium wies den Fall der 3. Kammer zu, der Catherine Aeschbacher als Präsidentin sowie Esther Diener-Morscher, Judith Fasel, Sigmund Feigel, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann als Mitglieder angehören. Die Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 24. August 2000 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Ziffer 7 der „Erklärung der Pflichten der Journalistinnen und Journalisten” hält fest, dass die Privatsphäre der einzelnen Personen zu respektieren sei. Der Schutz der Privatsphäre der von einem Medienbericht Betroffenen und ihrer Angehörigen erfordert grösste Zurückhaltung bezüglich einer identifizierenden Berichterstattung. Betroffene Angehörige haben ein Recht auf Wahrung ihrer Privatsphäre. In den Richtlinien zur „Erklärung“ hält der Presserat fest, dass eine besondere Zurückhaltung bei Personen geboten ist, die sich in einer Notsituation befinden oder unter Schock eines Ereignisses stehen. Dazu gehören auch Trauernde. Ein Junge, der seinen Bruder sterben sieht, Eltern, die ihren Sohn verlieren, stehen unter Schock. Ihnen ist der grösstmögliche Schutz in der Anonymität zu gewähren (Sammlung der Stellungnahmen des Presserates 1997, S.140 ff.). Anzufügen wäre noch der besondere Schutz, unter dem Kinder stehen sowie die Tatsache, dass bei Berichten über den Tod eines Menschen immer die Grenze zum Intimbereich überschritten wird. Die Richtlinien des Presserates sind da eindeutig und verlangen eine grösstmögliche Zurückhaltung. Mit dem Abdruck eines Unfallbildes, das einen identifizierbaren sterbenden jungen Mann zeigt, hat „Blick“ dementsprechend Ziff. 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ offensichtlich verletzt.

2. Journalistinnen und Journalisten haben zudem nach Ziffer 8 der „Erklärung“ die Menschenwürde zu respektieren und verzichten deshalb in ihrer Berichterstattung in Text, Bild und Ton auf diskriminierende Anspielungen. Der Presserat hat bereits in seiner Stellungnahme Nr. 2/98 vom 20. Februar 1998 (Sammlung der Stellungnahmen des Presserates 1998, S. 29ff.) zur Veröffentlichung von Schock- und People-Bildern festgehalten, dass Journalistinnen und Journalisten die Menschenwürde respektieren sollten. „Die Berichterstattung in Wort und Bild über Krieg, Terror, Unglücksfälle und Katastrophen findet ihre Grenzen im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen.” Und zur Publikation von Unfallbildern führte der Presserat weiter aus: „Gerade bei Unfallbildern ist aber zu fragen, wie weit ein solcher Schrecken tatsächlich gezeigt werden muss, wie nah an diesen Schrecken herangegangen werden soll. Zur Aufklärung und Mahnung genügt es, zerdrückte Autos zu zeigen. Insbesondere ist dabei auch daran zu denken, dass die Menschenwürde einer Person verletzt würde, wenn sie auf dem Bild als Individuum identifizierbar, somit unverwechselbar wäre. Dabei ist, vorab im engeren geografischen Raum, stets auch an die Familienangehörigen und Freunde der betroffenen Person zu denken.”

Der sterbende junge Mann wurde im „Blick“ nicht nur genannt, auch das Bild liess eine Identifizierung zu. In der Richtlinie 8.3 zur „Erklärung“ hält der Presserat fest: „Journalistinnen und Journalisten sind sensationelle Darstellungen untersagt, welche Menschen bloss zu Objekten degradieren. Als sensationell gilt insbesondere die Darstellung von Sterbenden, Leidenden und Leichen, wenn die Darstellung in Text und Bild hinsichtlich detailgetreuer Beschreibung sowie Dauer und Grösse der Einstellung die Grenze des durch das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit Gerechtfertigten übersteigt.“

Die Meldung, dass bei einem tragischen Verkehrsunfall zwei Menschen das Leben verloren haben, das Beschreiben des Unfallherganges befriedigen das Informationsbedürfnis bei weitem. Das Darstellen des Sterbenden verletzt seine Menschenwürde und die seiner Angehörigen. Und um aufklärerisch zu wirken, um dem mörderischen Strassenverkehr den Spiegel vorzuhalten, wäre es genügend gewesen, eine Totalaufnahme des Unfallortes zu zeigen. Dementsprechend hat „Blick“ auch Ziff. 8 der „Erklärung“ offensichtlich verletzt.

3. Positiv zu würdigen ist demgegenüber das Verhalten von „Blick“ nach dem Abdruck des unhaltbaren Bildes. Der Presserat hat in der Stellungnahme i.S. B c. „Blick“ vom 29. September 1987 (Sammlung 1983-1989) festgehalten, dass bei einer gravierenden journalistischen Fehlleistung immer auch eine Entschuldigung angebracht ist. Mit der in der Ausgabe vom 15. Juni 2000 veröffentlichten Entschuldigung ihres Chefredaktors ist die Redaktion des „Blick“ dieser Verpflichtung nachgekommen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. „Blick” hat die Ziffern 7 und 8 der „Erklärung der Pflichten der Journalistinnen und Journalisten” mit der Veröffentlichung eines Unfallbildes krass verletzt, das einen sterbenden jungen Mann in Nahaufnahme zeigte. Menschenwürde und Privatsphäre wurden nicht respektiert.

3. Bei der Berichterstattung über Unfälle ist immer auch an das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen zu denken. Deshalb ist eine generelle Zurückhaltung in Bild- und Wortwahl angebracht.