I. Sachverhalt
A. Die Januar-Ausgabe 2005 der Zeitschrift «NZZ Folio» war dem Thema «Bomben – Die alltägliche Bedrohung» gewidmet. Im Editorial schrieb der Redaktionsleiter, es gebe Bilder in diesem Heft, die man lieber nicht sehen möchte. «Das grässlichste zeigt den abgerissenen Kopf einer jungen palästinensischen Selbstmordattentäterin. Sollte man es ungesehen lassen? Wir haben die Frage lange diskutiert. Dass wir das Foto nun uns und unseren Leserinnen und Lesern zumuten, war kein leichtfertiger Entscheid.» Im weiteren erläutert er den Entscheid. Das Bild zeige, «was es heisst, wenn eine 20-jährige Frau sich ein paar Kilogramm Sprengstoff umschnallt und sich als Menschenbombe in die Luft sprengt».
Das Farbbild auf Seite 31 zeigt den abgerissenen Kopf der Attentäterin, wie er auf dem Asphalt einer Strasse liegt. Das fast unversehrt gebliebene Gesicht der Frau ist dem Betrachter zugewandt. Ein Tuch, welches den Leichenteil zugedeckt hat, ist – offenbar für diese Aufnahme – soweit zurückgeschoben, dass die blutigen Teile gut erkennbar sind. Auf dem Strassenbelag haben sie eine rote Schleifspur hinterlassen. Der ungenannte Fotograf hat das Bild aus tiefer, bodennaher Perspektive aufgenommen. Die Bildlegende lautet: «Kopf einer 20-jährigen Palästinenserin. Mit ihrem Selbstmordattentat in Jerusalem tötete sie 6 Menschen.»
B. Mit Schreiben vom 5. Januar 2005 reichte X. gegen die Publikation dieses Bildes Beschwerde beim Presserat ein. Nach Meinung des Beschwerdeführers verletzte die Illustration Ziffer 8 (Respektierung der Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Die Redaktion der Zeitschrift habe eine billige Effekthascherei gesucht. Trotz des Themas «Bomben» müsse der Leser nicht mit einem solch schrecklichen Bild rechnen, das nicht zuletzt Kinder über längere Zeit traumatisieren könne.
C. In seiner Beschwerdeantwort vom 28. Januar 2005 bestritt der Redaktionsleiter der Zeitschrift eine Verletzung der Menschenwürde. Das Bild zeige nicht das Leid der von einem terroristischen Akt Betroffenen, sondern die Täterin, die sich mit ihrem Akt zur Märtyrerin gemacht habe. Selbstmordattentäter würden von ihren Angehörigen in der Regel als Märtyrer gefeiert und nicht als Opfer betrauert. Das Bild zeige drastisch, was der alltäglich gewordene Begriff Selbstmordattentat in letzter Konsequenz bedeute. Der Artikel zum Foto spreche von der Beliebigkeit des Aktes, bei dem die Explosion des eigenen Körpers das Ziel sei. Diese Sinnlosigkeit habe für die Redaktion der Zeitschrift ihre stärkste Entsprechung in diesem Foto gefunden: «Eine Ikone von bestürzender Eindringlichkeit.» Effekthascherei habe der Redaktion fern gelegen. Das Bild sei im Kontext eines Hefts gezeigt worden, das keine erbauliche Lektüre erwarten lasse. Es bringe die Absurdität menschlichen Zerstörungswillens zum Ausdruck, es verstöre, erwecke Abscheu, Mitleid, Unverständnis: «Es erzeugt genau die Regungen, die gegenüber Terror, Krieg, Bomben angebracht sind – auch wenn sie allein noch nichts ändern.»
D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener Morscher als Präsidentin an sowie Judith Fasel, Gina Gysin, Peter Liatowitsch, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 28. April 2005 und auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. a) Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten der Journalistinnen und Journalisten» (nachstehend «Erklärung» genannt) auferlegt Medienschaffenden, die Menschenwürde zu respektieren und diskriminierende Anspielungen zu unterlassen. Weiter heisst es: «Die Grenzen der Berichterstattung in Text, Bild und Ton über Kriege, terroristische Akte, Unglücksfälle und Katastrophen liegen dort, wo das Leid der Betroffenen und die Gefühle ihrer Angehörigen nicht respektiert werden.»
b) In den Richtlinien zu Ziffer 8 ist die Pflicht zur Respektierung der Menschenwürde noch präzisiert worden. Richtlinie 8.1 sagt dazu: «Die Informationstätigkeit hat sich an der Achtung der Menschenwürde zu orientieren. Sie ist ständig gegen das Recht der Öffentlichkeit auf Information abzuwägen. Dies gilt sowohl hinsichtlich der direkt betroffenen oder berührten Personen als auch gegenüber der gesamten Öffentlichkeit.»
Richtlinie 8.3 stellt den Opferschutz ins Zentrum: Die Berichterstattung hat sorgfältig zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information «und den Interessen der Opfer und der Betroffenen» abzuwägen. Untersagt sind sensationelle Darstellungen, «welche Menschen zu blossen Objekten degradieren»: «Als sensationell gilt insbesondere die Darstellung von Sterbenden, Leidenden und Leichen, wenn die Darstellung in Text und Bild hinsichtlich detailgetreuer Beschreibung sowie Dauer und Grösse der Einstellungen die Grenze des durch das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit Gerechtfertigten übersteigt.»
Richtlinie 8.4 zur Publikation von Bildern über Kriege und Konflikte nennt drei Kriterien: «Handelt es sich wirklich um ein einmaliges Dokument der Zeitgeschichte? Sind die abgebildeten Personen als Individuen identifizierbar? Würde ihre Menschenwürde durch eine Publikation verletzt?»
2. a) Aus den Richtlinien zu Ziffer 8 der «Erklärung» wird deutlich, dass unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist, dass Medien Bilder publizieren, die schockieren und Abscheu erregen, weil sie Situationen zeigen, in denen die Menschenwürde verletzt wird. Gerade in diesen Tagen, in denen sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 60. Mal und der Beginn des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich zum 90. Mal jährt, sind solche Bilder von ermordeten Juden und Armeniern als historische Dokumente in vielen Zeitungen und Zeitschriften zu sehen. Sie zeigen namenlose Opfer, stellvertretend für die Leiden von Millionen. Als fotografisches Denkmal prangern sie das Verbrechen des Völkermordes an. Das Entsetzen und Mitleid, das diese Bilder auch nach Jahrzehnten noch auslösen, hält die Überzeugung wach, dass sich dergleichen nicht wiederholen darf.
b) Und wie verhält es sich mit dem Foto im «NZZ Folio»? Das Bild schockiert und erregt Anstoss. Die Redaktion hatte es bewusst ausgewählt und es in ihrem Editorial als «das grässlichste» angekündigt. Für seine starke Wirkung auf die Leser zeugen die überwiegend ablehnenden Leserbriefe, die das «NZZ Folio» in seiner Februarnummer abdruckte – zusammen mit einer Stellungnahme, in der die Redaktion den Abdruck rechtfertigte, sich aber gleichzeitig bei jenen Leserinnen und Lesern entschuldigte, bei denen die Grenze des Erträglichen durch das Bild überschritten worden sei.
Was sagt das Bild aus? Zunächst einmal zeigt der abgerissene Kopf die zerstörerische Wucht der Explosion der Bombe, mit dem diese Frau sich selbst und sechs andere Menschen getötet hat. Wer das Gesicht betrachtet, sieht die offenen Augen, den geöffneten Mund einer sehr jungen Frau. Das beinahe kindliche Gesicht lässt erahnen, dass unter bestimmten Umständen beliebige junge Menschen für solche terroristische Attentate angeworben werden können. Die sichtbare Zerstörungskraft der Selbstmordbombe lenkt die Gedanken der Betrachter auch auf die Leiden der Opfer, denen der Anschlag gegolten hatte. Das Bild löst Ekel und Abscheu vor dieser Form der Gewalt aus – aber auch Mitleid mit den Opfern, vielleicht sogar mit der jungen Täterin.
3. a) Das Foto ist unbestrittenermassen anstössig. Aber verletzt es die Menschenwürde im Sinne von Ziffer 8 der «Erklärung»? Um wessen Menschenwürde geht es hier? Als Träger kommen in diesem Zusammenhang drei Gruppen in Frage: die abgebildete Tote und ihre Angehörigen, die Opfer des Selbstmordanschlags und deren Angehörige sowie die Leserinnen und Leser des «NZZ Folio».
b) Beginnen wir mit der toten Se
lbstmordattentäterin: Der Fotograf rückt ihrem abgerissenen Kopf so nahe, dass ihre Gesichtszüge identifizierbar sind. Das Tuch über dem Kopf ist zurückgeschoben worden. Jede und jeder, der diese Frau kannte, wird sie auf diesem Bild wiedererkennen.
Handelte es sich um den Kopf eines Opfers des Anschlags, wäre auf den ersten Blick klar: Dies ist eine krasse Verletzung der Menschenwürde und der Privatsphäre (vgl. die Stellungnahme des Presserates 25/00 zum Foto eines sterbenden Unfallopfers). Das Foto zeigt aber den Kopf der Täterin eines Verbrechens. Hat sie durch ihre Tat den Anspruch auf Respektierung der Menschenwürde verloren? In seiner Beschwerdeantwort erklärt der Redaktionsleiter des «NZZ Folio», dass sich die Täterin zur Märtyrerin gemacht habe: «In der Regel werden Selbstmordattentäter auch von den Angehörigen als Märtyrer gefeiert und nicht als Opfer betrauert.»
Damit verkennt die Beschwerdegegnerin, dass nicht die Ideologie der Selbstmordattentäter zum Massstab der Menschenwürde gemacht werden darf. Denn genau wie es der universale völkerrechtliche Massstab ist, der Selbstmordattentate gegen Zivilisten zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit stempelt, muss auch der universale Massstab herangezogen werden, wenn es um die Beurteilung der Menschenwürde geht. Und dieser verbietet die entwürdigende Behandlung und Bestrafung von Verbrechern. Selbst Mörder und Kriegsverbrecher besitzen eine Menschenwürde, die respektiert werden muss. Somit auch diese Selbstmordattentäterin. Der pauschale Verweis auf den Märtyrermythos in den Kreisen der Täter ist auch aus anderen Gründen unbeachtlich. Die Redaktion konnte in diesem konkreten Fall nicht mit Sicherheit wissen, ob das Bild Angehörigen der Toten nicht zusätzliches Leid bereiten könnte. Die Darstellung im «NZZ Folio» verletzt die Menschenwürde der toten Täterin und ist geeignet, auch die Gefühle ihrer Angehörigen zu verletzen.
c) Der abgerissene Kopf auf dem Foto ist aber auch für allfällige Überlebende des Anschlags und für Angehörige der Opfer eine seelische Belastung. Der möglicherweise vorhandenen Genugtuung, die Täterin tot zu wissen, steht das Bewusstsein gegenüber, dass die Opfer vermutlich ähnlich zugerichtet worden sind. Das Bild der Täterin verweist sehr direkt auf die Leiden der Opfer – auch auf Opfer anderer Selbstmordattentate. Und auch wenn die Wahrscheinlichkeit einer Konfrontation mit dem Bild im «NZZ Folio» angesichts von dessen Hauptverbreitungsgebiet nicht allzu wahrscheinlich erscheint, ist zumindest nicht auszuschliessen, dass sich auch in dieser Gruppe Betrachter in ihrer Menschenwürde verletzt fühlen können.
d) Schliesslich bleiben noch die Leserinnen und Leser des «NZZ Folio». Trotz der «Vorwarnung» im Editorial (das längst nicht alle lesen) überfällt sie das grässliche Bild auf Seite 31 mit der ihm eigenen Gewalt. Es nimmt keine Rücksicht auf die individuellen Grenzen der Intimsphäre, kümmert sich nicht darum, ob jemand derartige Darstellungen von sich fernhalten will. Und es ist ein Überraschungsangriff, denn wer bisher zu den Lesern des «NZZ Folio» gehörte, musste nicht mit solchen Schockbildern rechnen. Die bereits erwähnten Leserbriefe bezeugen dies. Sie machen deutlich, dass viele Leser sich durch das Aufdrängen dieses Fotos in ihrer Privatsphäre verletzt fühlten. Die Privat- und Intimsphäre ist ein Teil des individuellen Autonomiebereichs, der die Menschenwürde ausmacht. Der krasse Einbruch in diese Sphäre tangiert hier auch das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenwürde einer Person. Insofern kam die Publikation des Fotos der Selbstmordattentäterin für einige Leserinnen und Leser einer Verletzung auch ihrer eigenen Menschenwürde gleich.
4. a) Dennoch gibt es Rechtfertigungsgründe, welche die Veröffentlichung eines gegen die Menschenwürde verstossenden Bildes erlauben können. Die «Erklärung» nennt ausdrücklich zwei Gründe: das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit (Richtlinie 8.3) und das einmalige Dokument der Zeitgeschichte (8.4).
b) Das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit verlangt zweifellos die Berichterstattung über Selbstmordattentate und ihre Hintergründe. Die Redaktion des «NZZ Folio» erhebt Anspruch, mit diesem Foto ihre Berichterstatterpflicht zu erfüllen. Das Bild ist dem Artikel «Tödliche Allmacht» beigeordnet, in dem Christoph Reuter eine summarische, distanzierte Übersicht über die Geschichte der Selbstmordattentate seit 1982 gibt. Er kommt zum etwas widersprüchlichen Schluss, einerseits hätten die Anschläge heute die Rationalität der Attentate früherer Jahre verloren und seien beliebig geworden. Anderseits seien die Kampfzonen im Irak, in Tschetschenien und Israel zu Schauplätzen eines Glaubenskrieges gefestigt, in dem sich weiterhin reichlich Freiwillige für Selbstmordattentate finden liessen.
Die Tat der auf dem Foto abgebildeten Palästinenserin wird im Artikel mit keinem Wort erwähnt. Leserinnen und Leser erfahren über sie nur das, was in der Bildlegende steht: ihr Alter, den Tatort Jerusalem und die Zahl von sechs Toten. Das Bild ist eine reine Illustration ohne engeren Zusammenhang mit dem Text. Der Artikel verlangt in keiner Weise ausgerechnet nach dieser Illustration, bei dem wie ausgeführt nicht die Abbildung von Gewalt an sich als problematisch erscheint, sondern in erster Linie die Auswahl des konkreten, individuell identifizierenden Bildes und dessen ungenügende Einbettung in den Kontext des Begleitartikels.
c) Der Redaktionsleiter des «NZZ Folio» macht schliesslich implizit geltend, das Foto sei ein einmaliges Dokument der Zeitgeschichte, wenn er in der Beschwerdeantwort schreibt, die Sinnlosigkeit des Tötens «fand für uns ihre stärkste Entsprechung in diesem Foto: Eine Ikone von bestürzender Eindringlichkeit».
Nun macht das Wegsprengen eines Kopfes aus diesem noch lange keine Ikone. Und die Sinnlosigkeit des Tötens wird mehr behauptet als gezeigt. Erst dadurch, dass die Redaktion ihren Leserinnen und Lesern nur den Kopf präsentiert, ihnen aber alle Hintergrundinformationen zu dieser jungen Frau, ihrer Geschichte und ihrer Tat vorenthält, wird dieses Bild «sinnlos». Die Motive, die junge Frauen und Männer zu solchen Selbstmordanschlägen veranlassen, mögen abstrus und erschreckend sein. Doch so abstrakt wie dieser Kopf auf dem Strassenpflaster sind sie nicht. Das Foto mag zwar ein Dokument der Zeitgeschichte sein. Einmalig ist es kaum. Bei jedem Selbstmordanschlag liessen sich – von Tätern oder von Opfern – ähnlich grausige Bilder machen. Darum ist es auch nicht gerechtfertigt, dieses Bild einfach als knallige Illustration zu benützen, selbst wenn der Redaktion des «NZZ Folio» zuzugestehen ist, dass sie sich um eine sorgfältige Abwägung bemüht hat. Insgesamt war das Bild aber jedenfalls nicht notwendig, um der Schweizer Leserschaft die von ihr ohnehin unbestrittene Schrecklichkeit des Terrors zu dokumentieren.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.
2. «NZZ Folio» hat mit dem Foto des abgerissenen Kopfes einer Selbstmordattentäterin gegen Ziffer 8 (Respektierung der Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen. Auch Mörder und Kriegsverbrecher haben Anspruch auf Wahrung ihrer Menschenwürde. Das Bild verletzt ebenso die Menschenwürde von Opfern solcher Anschläge und ihrer Angehörigen. Und indem es die Intimsphäre vieler Leserinnen und Leser der Zeitschrift verletzt, tangiert es auch deren Menschenwürde.
3. Das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit verlangte nicht zwingend nach diesem in problematischer Weise individualisierenden und identifizierenden Bild, über dessen Hintergründe weder der Artikel, dem es zugeordnet ist, noch sonst ein Beitrag in jenem «NZZ Folio» informiert. In diesem Zusammenhang ist das Foto auch kein einmaliges Dokument der Zeitgeschichte, sondern blosse Illustration, ein Schockbild ohne Auflösung.