Nr. 10/1998
Redaktionelle Mitverantwortung für politische Inserate Stellungnahme des Presserates vom 19. Juni 1998

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I. Sachverhalt

A. Es kommt immer wieder vor, dass Zeitungen und Zeitschriften politische Inserate ablehnen, ob-wohl sie zum politischen Diskurs gehören, oder dass sie Inserate aufnehmen, obwohl ihr Inhalt men-schenverachtend ist oder den politischen Anstand schwer verletzt. Ein paar Beispiele aus der letzten Zeit sollen den Sachverhalt illustrieren:

* Die „Solothurner Zeitung“, die „Solothurner Nachrichten“ und das „Oltner Tagblatt“ lehnten 1993 Inserate für die Initiative gegen das Kampfflugzeug F/A-18 ab. Die Zeitungen in den übrigen Re-gionen der Schweiz publizierten Pro-Inserate. * Der „Tages-Anzeiger“, der „Beobachter“, das „Magazin“ und die „SonntagsZeitung“ lehnten im Mai 1997 ein Inserat der Menschenrechtsgruppe „augenauf“ ab, das die heutige schweizerische Flüchtlingspolitik, vor allem die Ausschaffungspraxis, kritisierte und mit jener zur Zeit des Zwei-ten Weltkrieges verglich. Die „Weltwoche“ veröffentlichte das Inserat. * Der „Tages-Anzeiger“ und andere Medien publizierten im Juni 1995 das Stiefel-Inserat der Zürcher SVP, während die NZZ es ablehnte mit dem Argument, es suggeriere die Gleichsetzung der Euro-päischen Union mit dem nationalsozialistischen Dritten Reich. * Wiederum der „Tages-Anzeiger“ und andere Medien veröffentlichten im November 1996 das Inse-rat der Freiheitspartei, das einen Eidgenossen zeigt, der einen Ausländer mit einem Fusstritt zur Tür hinaus befördert. Die TA-Media AG entschuldigte sich anschliessend und begründete die Pu-blikation als Panne. * In verschiedenen Medien, auch im „Tages-Anzeiger“, erschien im Juli 1997 ein Inserat von Natio-nalrat Christoph Blocher mit seiner Redepartie, in der er den Schriftsteller Adolf Muschg mit dem nazifreundlichen Schriftsteller Jakob Schaffner verglich und ihn als „deutschen Kulturbürger“ und somit quasi als Landesverräter scharf angriff.

B. Während die einen von Zensur reden, beklagen die anderen den Verlust an politischer Kultur. Das Stiefel-Inserat der SVP löste seinerzeit eine angeregte Mediendebatte aus. Adolf Muschg erhielt nach der Publikation von Christoph Blochers Inserat sehr viele unflätige, beleidigende und meist anonyme Telefonanrufe und Briefe, und es gab auch Leute, die ihm Kot schickten. Er war es denn auch, der die Thematik beim Presserat anhängig machte. Der Presserat beschloss, nicht bloss den speziellen Fall zu behandeln, sondern das Thema aus eigenem Antrieb wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung in seiner ganzen Breite aufzugreifen. C. Die Behandlung übernahm die erste Kammer, der Roger Blum als Präsident sowie Sylvie Arse-ver, Sandra Baumeler, Klaus Mannhart und Enrico Morresi als Mitglieder angehören. Die Kammer führte zur Erhellung des Hintergrundes Hearings durch, bei denen sie Prof. Dr. Peter Nobel, Rechts-anwalt und Spezialist des Medienrechts, Dr. Andreas Ritter, Rechtsanwalt, sowie Dr. Walter Rüegg, Direktor der Vogt-Schild/Habegger in Solothurn, anhörte.

II. Erwägungen

1. Redaktioneller Teil und Werbeteil in den Medien sind getrennt. Dieser Grundsatz ist Bran-chenusanz. Werbewirtschaft und Zeitungsverleger haben sich entsprechend vereinbart, das Radio- und Fernsehgesetz macht entsprechende Auflagen. Auch die Journalistinnen und Journalisten halten den Grundsatz hoch, steht doch in der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“in Ziffer 9: „Sie vermeiden (…) jede Form von kommerzieller Werbung und akzeptieren keinerlei Bedingungen von seiten der Inserenten“.

2. Die Trennung des redaktionellen Teils und des Werbeteils will zunächst Klarheit für das Publikum herstellen: Die Rezipientinnen und Rezipienten sollen jeweils sofort erkennen können, welches be-zahlte und somit bewusst einseitige Informationen sind und welches solche, die nach journalistischen Kriterien selektioniert worden sind. Sie sollen wissen, ob sie „paid media“ oder „free media“ vor sich haben. Aus diesem Grunde lehnt der Presserat alle Mischformen zwischen Journalismus und Wer-bung (Publireportagen, Product Placing-Beiträge, reine PR-Texte ohne journalistische Bearbeitung, Oden an Sponsoren etc.), die nicht genügend deutlich als bezahlt gekennzeichnet sind -strikt ab. Die Grenze soll aufrechterhalten und sichtbar bleiben. Die Trennung der beiden Teile hat aber auch den Zweck, dass einerseits Werbetreibende, die dem Medium mit ihren Inseraten, Sponsorleistungen oder Werbespots zu Einnahmen verhelfen, der Redaktion keine Bedingungen stellen können, und dass anderseits die Redaktion Inserate, Sponsoren und Werbespots nicht verhindern kann, deren Stoss-richtungen ihrem redaktionellen Kurs zuwiderlaufen. Wegen dieser Trennung ist es richtig, dass über publizistische Fragen die Redaktion, über kommerzielle der Verlag entscheidet.

3. Politische Werbung hat sich in der Schweiz ursprünglich auf die Wochen unmittelbar vor Volks-abstimmungen und Wahlen beschränkt. Und sie konzentrierte sich (neben Direct mailing, Plakaten, Flugblättern) auf die Zeitungen und Zeitschriften, da politische Werbung an Radio und Fernsehen verboten ist. Am Verbot der politischen Radio- und Fernsehwerbung hat sich nichts geändert. Doch in den neunziger Jahren hat sich die politische Werbung in den Printmedien verstärkt. Denn da sich in-zwischen bald alle Zeitungen von den politischen Parteien abgekoppelt haben und der Einfluss der politischen Akteure auf die redaktionellen Teile der Medien abgenommen hat, schenken finanziell po-tente Akteure dem Inserateteil der Zeitungen und Zeitschriften vermehrt Aufmerksamkeit. Das bedeu-tet, dass sie sich nicht damit begnügen, mit (Pseudo-)Ereignissen öffentliche Aufmerksamkeit zu er-zielen und journalistische Berichterstattungen auszulösen, sondern dass sie auch in den Zeiten ohne Wahlen und Abstimmungen politische Inserate schalten. Sie ergänzen also „free media“ durch „paid media“. Dies ist insofern verständlich, als politische Akteure wegen der journalistischen Tendenz, scharf zu selektionieren und alles zu kürzen und zu verknappen, ein Interesse daran haben, ihre Bot-schaften auch einmal integral zu verbreiten. Sie können dank Inseraten die Selektions- und Interpreta-tionsprozesse des Journalismus umgehen, das Gatekeeping unterlaufen. Besonders aktiv ist in dieser Hinsicht die Zürcher SVP. Aber auch Unternehmen wie die Denner AG oder Otto’s Warenposten schalten sich auf diese Weise in den politischen Diskurs ein. Im Zusammenhang mit der Debatte über die nachrichtenlosen Vermögen oder über das Verhältnis der Schweiz zu Europa haben verschiedene weitere Gruppierungen zum Mittel des ganzseitigen Inserats gegriffen. Ein Teil des politischen Dis-kurses hat sich vom redaktionellen Teil in den Werbeteil verlagert. Das verändert ihn, weil im Insera-teteil die Finanzkräftigen im Vorteil sind und weil niemand sofort für die Erkundung der Gegenpositi-on sorgt.

4. Es ist daher denkbar, dass die Spielregeln, die im redaktionellen Teil für den politischen Diskurs gelten, durch den Inserateteil unterlaufen werden. Gerade darum ist bei den meisten schweizerischen Zeitungen der Einbezug der Redaktion zur Beurteilung politischer Inserate längst stehende Praxis. Doch schriftlich fixierte Regeln kennen nur zwei der grösseren Zeitungen, nämlich der „Tages-Anzeiger“ und die „Neue Luzerner Zeitung“. Bei vielen Medien ist die Chefredaktion begutachtend und beratend in die Entscheidung über die Aufnahme eines politischen Inserates involviert – so bei der „Basler Zeitung“, bei der „Berner Zeitung“, bei der „Neuen Luzerner Zeitung“, bei der „Solothurner Zeitung“, bei der „Liberté“, beim „Quotidien jurassien“ und bei der „Weltwoche“, wobei der Ent-scheid formell beim Verlag liegt. Beim „Bund“ ist nicht ganz klar, wer letztlich entscheidet. Bei „24 heures“ entscheidet der Chefredaktor, und beim „Tages-Anzeiger“ entscheidet neuerdings der Ver-lagsleiter ohne Konsul
tation der Redaktion, aber mit auf das Recht und den Journalismus bezogenen Kriterien. Dem Presserat scheint es logisch, dass die Hauptverantwortung beim Verlag liegt, aber dass die Chefredaktion bei der Entscheidfindung mitwirkt.

5. Denn politische Inserate gehen die Redaktion aus publizistischen Gründen in hohem Masse etwas an. Der publizistische Grund liegt darin, dass der mediale politische Diskurs Moderatorinnen und Moderatoren braucht, und diese Moderatoren können nur die Medienschaffenden sein, weil es ihre Aufgabe ist, allen relevaten Stimmen Gehör zu verschaffen. Wenn sich nun ein Teil des politischen Diskurses dieser Moderation entzieht, so wird diese Aufgabe des Journalismus beeinträchtigt. Die Durchsetzung von Fairnessgeboten im redaktionellen Teil verkommt zur Farce, wenn gleichzeitig im Inserateteil menschenverachtende und persönlichkeitsverletzende Argumentationen, Parolen und Zeichnungen erscheinen. Es spricht darum viel dafür, dass dieser Bereich des Inserateteils auch aus der Optik der journalistischen Ethik betrachtet wird.

6. Wenn allerdings die Optik der journalistischen Ethik auch auf die politischen Inserate gelenkt wer-den soll, muss die Praxis möglichst liberal sein. Im politischen Diskurs, gerade auch vor Wahlen und Abstimmungen, müssen Hiebe und Stiche und polemische Argumente möglich sein. Was jedoch nicht geht, sind menschenverachtende, persönlichkeitsverletzende, geschmacklose Angriffe. Im Lichte der Ziffern 1 und 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ muss ein Katalog von Kriterien erarbeitet werden, die den Ausschlag dafür geben können, dass ein Inserat abgelehnt wird. Die Ziffer 1 verlangt von den Medienschaffenden, dass sie sich an die Wahrheit hal-ten. Die Ziffer 7 fordert, dass die anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen unter-lassen. Auch wenn es nicht die Medienschaffenden sind, die diese Normen verletzen, sondern politi-sche Inserenten, so werden die Verletzungen dennoch durch das Medium öffentlich, und die Medien-schaffenden sind mitverantwortlich dafür, dass ihre Medien im politischen Diskurs nicht gegen die Fairness verstossen.

III. Feststellungen

1. Redaktioneller Teil und Werbeteil der Medien sind mit gutem Grund getrennt. Journalistische Mischformen dürfen nicht im redaktionellen Teil abgedruckt werden und sind deutlich als Werbung zu kennzeichnen.

2. Die Redaktionen können sich der Verantwortung für politische Inserate nicht entziehen. Neben rechtlichen gibt es auch ethische Gründe, Inserate aufzunehmen oder abzulehnen. Die wichtigsten Kriterien, die sich aus dem Geist und aus den Ziffern 1 und 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ ergeben und die Anlass sein können, ein Inserat abzulehnen, sind: Menschenverachtung und Diskriminierung, ungerechtfertigte Angriffe auf konkrete Personen, fehlende Fairness, fehlender politischer Anstand.

3. Die Medienunternehmen sind aufgefordert, Kriterien und Verfahren für die Behandlung politischer Inserate schriftlich festzulegen und dabei die Mitwirkung der Chefredaktion vorzusehen.

4. Die Redaktionen sollten es sich zur Aufgabe machen, Inserate, die den politischen Diskurs beson-ders krass und einseitig beeinflussen, im redaktionellen Teil aufzugreifen. Insbesondere ist es ihre Pflicht, das Publikum weiter aufzuklären, wenn Inserate schockierende Behauptungen aufstellen oder Unwahrheiten verbreiten.