I. Sachverhalt
A. Der Kulturverein In Situ Chur, der vor allem Theateraufführungen realisiert, legte am 10. Juni 2005 Beschwerde beim Schweizer Presserat gegen die Südostschweiz Presse AG ein. Dieser Verlag gibt unter anderem die Tageszeitungen «Südostschweiz» und «Bündner Tagblatt» heraus. Grund der Beschwerde: Verlagsdirektor Andrea Masüger, in Personalunion auch Chefredaktor der «Südostschweiz», hatte In Situ mit Schreiben vom 2. März 2005 mitgeteilt, man werde «über In Situ solange publizistisch keine Zeile mehr verlieren, bis sich Herr Frank schriftlich bei uns entschuldigt hat und bis er seine Anwürfe eingestellt hat». Das Schreiben bezieht sich auf Wolfram Frank, einen der beiden künstlerischen Leiter der Theatergruppe. Frank war Ende Februar 2005 vor einem Restaurant in Chur auf Andrea Masüger getroffen und hatte diesen und dessen zwei Begleiterinnen verbal angegangen.
Die Beschwerde wendet sich scharf gegen den Informations-Boykott, verlangt, er sei sofort aufzuheben und In Situ künftig bei der Berichterstattung den anderen Theatern gleichzustellen. Die Südostschweiz Presse AG habe ihre Informationspflicht in gravierender und skandalöser Weise verletzt. Verletzt bzw. missachtet seien die Präambel der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten», die Artikel 1 dieser Erklärung (Wahrheitspflicht) und 2 (Pflicht, die Freiheit der Information zu verteidigen) sowie der Art. 11 (Pflicht der Journalisten, Weisungen ihrer Vorgesetzten nur dann zu akzeptieren, wenn sie nicht im Gegensatz zur «Erklärung der Pflichten» stehen). Im Zusammenhang damit sieht die Beschwerde auch die Buchstaben a und f der «Erklärung der Rechte» verletzt. Buchstabe a spricht vom Recht der Journalisten, Weisungen zurückzuweisen, die gegen die allgemeine Linie ihres Publikationsorgans verstossen. Buchstabe f hält den Anspruch auf einen Kollektivvertrag fest; hier vermerkt die Beschwerde, dass die Südostschweiz-Presse AG den (allerdings letztes Jahr von den Verlegern aufgekündigten) Gesamtarbeitsvertrag nicht unterzeichnet hatte.
In ihrer Beschwerde verweist In Situ darauf, dass die Südostschweiz-Mediengruppe in Chur und Graubünden ein nahezu totales Medienmonopol besitze und daher Leitung und Redaktion der Südostschweiz Presse AG zu besonderer Verantwortung aufgerufen seien.
In Situ nimmt auch «mit Betroffenheit und Unverständnis zur Kenntnis, dass A. Masüger selbst im Stiftungsrat des Presserats Einsitz hat», vertraut aber dennoch auf eine unvoreingenommene Prüfung seiner Beschwerde.
B. Am 27. Juni 2005 nahm Andrea Masüger namens der Südostschweiz Presse AG zur Beschwerde Stellung und beantragte, sie abzulehnen. Der Beschwerdegegner situiert zuerst Frank und die Gruppe In Situ dergestalt, dass Wolfram Frank die Theatergruppe seit ihrer Gründung 1986 absolut präge und dominiere, deren Vorstand, der die Beschwerde einreichte, habe nur Alibi-Funktion. Frank nehme gegenüber der «Südostschweiz» seit einigen Jahren eine äusserst kritische Haltung ein, er halte die Zeitung für durch und durch inkompetent mit einer ihrer Aufgabe nicht gewachsenen Redaktion. In den letzten Monaten habe sich Franks Kritik aber in Richtung Beleidigungen und ehrverletzenden Äusserungen verschärft; Masüger führt mehrere Vorfälle mit Redaktoren und Mitarbeitern der «Südostschweiz» in der Öffentlichkeit an, die durch entsprechende Aussagen der Beteiligten in den Beilagen belegt werden. Dabei sei von Franks Seite auch immer wieder der Ausdruck «Faschistenblatt» gefallen.
All das habe die «Südostschweiz» veranlasst, ihr Verhältnis zu Frank zu überdenken gemäss folgenden Überlegungen:
«1. Ist es unseren Mitarbeitern weiterhin zuzumuten, über einen Mann und dessen Verein zu schreiben, der die Arbeit dieser Mitarbeiter chronisch und bösartig herabwürdigt?
2. Gibt es eine Berichterstattungspflicht gegenüber Personen und Institutionen, welche ein Medium pauschal als Ðfaschistisch? diskreditieren?
3. Müssen es sich Mitarbeiter gefallen lassen, öffentlich beleidigt und Ðangerempelt? zu werden von einem Mann und einer Institution, die am Tage danach eine angemessene Berichterstattung über irgendwelche Anlässe erwarten?»
Und der Beschwerdegegner fährt fort: «Der Ehrenkodex der Schweizer Presse gibt auf solche Fragen keine Auskunft. Wohl deshalb, weil er davon ausgeht, dass solche gar nicht gestellt werden müssen.»
Zum Entscheid, über In Situ bis zur Entschuldigung Franks nichts mehr zu publizieren, präzisiert die Beschwerdeantwort, dieser Entscheid habe sich allein und ausschliesslich auf die Redaktion der «Südostschweiz» bezogen, zu keiner Zeit auf andere Zeitungen der Südostschweiz Presse AG, z. B. das «Bündner Tagblatt», ebenso wenig auf andere Medien (Radios, TV) der SO-Mediengruppe: «Es ist klar, dass ein genereller Informations-«Boykott» von In Situ durch alle Medien der Südostschweiz-Mediengruppe sehr problematisch wäre. Er wurde deshalb nie in Erwägung gezogen.»
C. Nachdem der Schriftenwechsel vom Presserat am 5. Juli 2005 für abgeschlossen erklärt worden war, ergab sich materiell in der Sache eine Entspannung. Das Ensemble von In Situ, das mit «Hamlet» die Hauptproduktion 2005 der Gruppe vorbereitete, bat den Kulturredaktor der «Südostschweiz» am 25. Juli dringend, über seine Arbeit und die bevorstehenden Aufführungen zu berichten. Als Sprecher benannte das Ensemble eines seiner Mitglieder. Darauf teilte Chefredaktor Masüger In Situ am 29. Juli mit, die «Südostschweiz» habe sich entschlossen, über In Situ wieder in angemessenem Umfang zu berichten und namentlich die «Hamlet»-Produktion publizistisch aufzugreifen. Dies auch, nachdem man mit Vertretern des Patronatskomitees von In Situ und dem Ensemble-Sprecher vernünftig habe sprechen können. Wolfram Frank allerdings gelte, bis von ihm eine Entschuldigung vorliege, auf der Redaktion der «Südostschweiz» als persona non grata.
D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener Morscher als Präsidentin an sowie Judith Fasel, Claudia Landolt Starck, Peter Liatowitsch, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 22. September 2005 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Vornehmliche Aufgabe der Journalistinnen und Journalisten ist es, ihr Publikum zu informieren. Über Menschlich-Allzumenschliches, über Politik, über Firmen, über gesellschaftliche Trends, über Künstler und ihre Werke. Wenn sie plötzlich davon abrücken und beschliessen, über ein Ereignis, eine Person oder eine Gruppe nicht mehr zu berichten, mutet das a priori willkürlich an. Der Entscheid, über eine Kulturgruppe wegen gewisser Vorkommnisse vorläufig nicht mehr zu berichten, sie zu boykottieren, ist daher nach Ansicht des Schweizer Presserats problematisch – wie verständlich auch immer die Gründe sein mögen, die diesen Entscheid provozierten.
2. Verschärft wird die Problematik bei einer Regionalzeitung wie der «Südostschweiz». Sie ersetzt bis zu einem gewissen Grad das Gespräch auf dem Dorfplatz. Wo, wenn nicht in ihr, erfährt die Öffentlichkeit, was in ihrer Region passiert, auch kulturell? Wie es zu werten ist? Ob man hingehen soll? Eine solche Zeitung ist Service public.
3. Der allgemeine Informationsauftrag der Journalisten verpflichtet sie freilich nicht, über ein bestimmtes Thema, eine Gruppe oder eine Person zu berichten. Journalisten und Redaktionen sind grundsätzlich frei in der Wahl ihrer Themen. Sie entscheiden nach journalistischen Kriterien, in welcher Form, Kadenz und Grösse sie berichten. Allerdings geht es nicht an, eine Publikation von anderen als journalistischen Kriterien abhängig zu machen.
4. Die Redaktion einer Zeitung ist auch ein sozialer Körper. Sie reagiert daher gereizt, trifft si
e auf Fundamentalkritik, die nicht, auch nach Jahren der Auseinandersetzung nicht, auf Konsens aus ist, sondern vielleicht in Bausch und Bogen verdammt. Zwar mag es zutreffen, dass Künstler gelegentlich, wiewohl selbst empfindlich, in ihrer Kritik unmässig, im Ton hochfahrend und im Umgang schwierig sind. Dennoch ist wichtig, als Redaktion die Contenance zu behalten, auch wenn dies viel verlangt ist, besonders in kleinstädtischen Verhältnissen, wo man sich immer mal wieder über den Weg läuft.
5. Hintergrund der Beschwerde ist ein seit Jahren schwelender Konflikt zwischen einem der beiden Leiter der Theatergruppe In Situ Chur, Wolfram Frank, und der Redaktion der Südostschweiz. Der Konflikt eskalierte Februar 2005, als Frank in Chur auf Andrea Masüger traf und diesen verbal attackierte. Wie sich der Vorfall genau abspielte und was für Worte fielen, geht aus den Unterlagen, die dem Presserat vorliegen, nicht zweifelsfrei hervor und ist zwischen den Parteien umstritten. Das ist aber auch nicht entscheidend. Wichtig ist, dass Masüger sie als so ehrverletzend empfand und den Zwischenfall als letzten in einer Reihe von Attacken Franks auf seine Zeitung sah, dass er zur Massnahme eines Publikationsstopps griff.
6. Die Beschwerde der Theatergruppe In Situ wirft der «Südostschweiz» vor, ab März 2005 nicht mehr über sie berichtet zu haben, sie willentlich boykottiert zu haben. Und In Situ macht geltend, das sei ungerechtfertigt, weil es keinen sachlichen Zusammenhang zwischen ihrer Theaterarbeit und dem persönlichen Konflikt zwischen «Südostschweiz»-Chef Masüger und Theatermann Frank gebe. Die «Südostschweiz» streitet gar nicht ab, nicht mehr berichtet zu haben. Nur macht sie quasi Notwehr geltend, indem sie in ihrer Beschwerdeantwort schreibt: «Diese Massnahme wurde nicht zuletzt zum Schutze der eigenen Mitarbeiter erlassen, die ein Anrecht auf persönlichen Respekt und Achtung ihrer Würde haben.»
7. Natürlich gibt es kein absolutes Recht auf Berichterstattung, für nichts und für niemanden. Dennoch ist zu prüfen, ob sich der von der «Südostschweiz» gegen In Situ verhängte Informationsstopp mit Sinn und Geist der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» vereinbaren lässt. Und ob die von der Beschwerde angeführten Punkte der «Erklärung» verletzt worden sind.
Der Presserat ist in der Stellungnahme 28/2002 zum Schluss gelangt, es müsse zwar grundsätzlich möglich sein, «dass auch Presseorgane ihren Verkehr mit Dritten einschränken, gewissen Voraussetzungen unterwerfen oder ganz abbrechen. Dabei dürfen sie allerdings nicht willkürlich vorgehen, sondern haben einerseits ihre Eigeninteressen sorgfältig gegen ihre journalistischen Pflichten abzuwägen und andererseits Grundsätze der Verhältnismässigkeit einzuhalten. Als journalistische Grundsätze, die gegen die Eigeninteressen abzuwägen sind, kommen namentlich die Pflicht zur Sicherung des gesellschaftlichen Diskurses, die Forderung nach einer pluralistischen Berichterstattung, die Freiheit der Information und das Gebot der Fairness in Frage. Verhältnismässig haben Massnahmen insofern zu sein, als sie in Inhalt, Form und Dauer massvoll und sinnvoll zu sein haben und jeweils der mildeste Eingriff in die Rechte Dritter zu wählen ist, der zur Befriedigung der erwähnten Eigeninteressen dienlich ist.»
Ausgehend von diesen Grundsätzen erscheint dem Presserat der Abbruch der Berichterstattung über In Situ unverhältnismässig. Denn für die Auseinandersetzung der «Südostschweiz» mit Wolfram Frank wären andere, zum Beispiel rechtliche Mittel zur Verfügung gestanden. Unverhältnismässig war der Abbruch auch deshalb, weil es berufsethisch nicht angeht, sich beim Entscheid über die Publikation einer Information von anderen als journalistischen Kriterien leiten zu lassen.
8. Die Beschwerde sieht auch die Ziffern 1 und 2 der «Erklärung der Pflichten» verletzt. Der Presserat folgt dem nicht. Zwar steht in Ziffer 1, die Journalisten liessen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren. Aber der Entscheid der «Südostschweiz» -Leitung auf einen Informationsstopp entsprang ja nicht dem Antrieb, die Wahrheit zu verschweigen oder gar Unwahrheit zu verbreiten. Sondern ihrem Wunsch, auf einer neuen, nach ihren Worten «vernünftigen» Basis wieder wahrheitsgemäss über In Situ berichten zu können.
9. Bei der Verletzung von Ziffer 11 der «Erklärung», wie sie die Beschwerde moniert, stösst sich der Beschwerdeführer vor allem daran, dass sich der Kulturredaktor der «Südostschweiz» der Weisung von Chefredaktor Masüger, nicht mehr über In Situ zu berichten, nicht widersetzte. Nun, nachdem auch der fragliche Redaktor mit den Ruppigkeiten Franks reichlich und in vorderster Front konfrontiert war, wäre es weltfremd, gerade ihm die Rolle eines Winkelrieds abzuverlangen. Der Presserat sieht Ziffer 11 der «Erklärung» nicht verletzt.
10. Die Beschwerde rügt zuletzt, die Buchstaben a und f der «Erklärung der Rechte» seien ebenfalls verletzt. Der Presserat sieht hier keinen Sachzusammenhang mit dem Beschwerdegegenstand. Denn das Recht von Journalisten gemäss Buchstabe a, Weisungen abzulehnen, die gegen die allgemeine Linie ihres Publikationsorgans verstossen, bezieht sich darauf, sich auf ein Redaktionsstatut oder ein Unternehmensleitbild berufen zu können, wenn sie den Eindruck haben, eine Einzelweisung widerspreche diesen Grundsätzen. Darum geht es in diesem Konflikt augenscheinlich nicht. Dasselbe gilt für Buchstabe f, der den Anspruch der Journalistinnen und Journalisten auf einen Kollektivvertrag nennt.
11. Der Presserat begrüsst es, dass der Konflikt inzwischen entschärft worden ist, indem beide Seiten Schritte aufeinander zu machten. In Situ hat der Redaktion eine Brücke gebaut, indem sie Ende Juli 2005 einen andern Sprecher als Frank bezeichnete. Und die «Südostschweiz» hat die Brücke beschritten, indem sie die Berichterstattung über In Situ umgehend wieder aufnahm. Der Presserat begrüsst die Entspannung deshalb, weil er es, wie oben dargelegt, aus grundsätzlichen Überlegungen problematisch, ja gefährlich findet, wenn eine Redaktion zu einem solchen Informationsstopp greift.
12. Der Beschwerdegegner wirft die ernsthafte Frage auf, wie viel sich eine Redaktion und ihre Mitarbeiter quasi an Ausfälligkeiten gefallen lassen müssen. Darauf kann der Presserat keine generelle Antwort geben. Er kann nur dazu raten, alles zu tun, um nicht in eine Situation zu geraten, bei der die Redaktion zu einem solch drastischen, problematischen Schritt getrieben wird, wie ihn die «Südostschweiz» ergriffen hat. Zumal die «Südostschweiz» und die sie tragende Mediengruppe tatsächlich in ihrer Region nahezu eine Monopolstellung besitzt. Immerhin zeigte der Entscheid, den Informationsstopp auf die «Südostschweiz» zu beschränken, dass sich der Verlag der Brisanz bewusst war.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird im Grundsatz gutgeheissen.
2. Die «Südostschweiz» hat mit ihrem Entscheid, zeitweilig nicht mehr über die Theatergruppe In Situ Chur zu berichten, das Prinzip der Verhältnismässigkeit verletzt. Redaktionen sollten sich beim Entscheid über die Publikation einer Information einzig von journalistischen Kriterien leiten lassen.
3. Eine Redaktion muss alles tun, damit sie nicht in die Lage oder die Versuchung kommt, auf einen Konflikt mit einem Informationsstopp zu reagieren. Dies gilt selbst dann, wenn die Gegenseite rüde und ausfällige Kritik übt.