Nr. 35/2008
Privatsphäre / Sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen

(X. c. Tele M1) Stellungnahme des Presserates vom 13. August 2008

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Zusammenfassung

Resumé

Riassunto

I. Sachverhalt

A. Am 1. April 2008 berichtete der Fernsehsender Tele M1 in seinen Abendnachrichten über einen Unfall mit Todesfolge im Kanton Solothurn, welcher sich am selben Tag ereignet hatte. Gemäss einer Meldung der Solothurner Kantonspolizei war ein Motorradfahrer gegen 5 Uhr früh mit «offensichtlich übersetzter Geschwindigkeit» unterwegs. Als er ein Taxi überholte, geriet er auf die Gegenfahrbahn und kollidierte dort frontal mit einem Personenwagen. Dessen Fahrer verletzte sich schwer, während der Motorradfahrer selbst tödlich verunglückte. Im Beitrag von Tele M1 ist von einem rasenden Motorradfahrer die Rede, der mit «massiv überhöhter Geschwindigkeit» gefahren sei.

Neben Bildern von der Unfallstelle mit den beiden zerstörten Fahrzeugen zeigt der Fernsehbericht ein (gepixeltes) Bild des Verstorbenen sowie dessen (unversehrtes) Motorrad. Zu den beiden Fotos gibt der Beitrag an, Tele M1 habe sie von der privaten Website des Verstorbenen heruntergeladen. Auf dem Foto des Motorrades, eine Suzuki 500, ist folgender Text zu lesen: «Super, wie das Ding läuft!»

B. Am 5. April 2008 kam Tele M1 auf den Unfall vom 1. April zurück und berichtete in einem einfühlsamen Beitrag über die Familie des Unfallopfers. Zudem erwähnt der Fernsehsender, Verwandte und Freunde des Verstorbenen hätten an der Unfallstelle erneut Blumen hinterlegt, nachdem zuvor Vandalen am Werk gewesen seien. Für die Betroffenen sei der Unfall nach wie vor unbegreiflich. Obwohl er am Unfalltag zu schnell unterwegs gewesen sei, habe der Verstorbene bei seinen Freunden und Bekannten als umsichtiger Fahrer gegolten. Der Bericht zeigt die Unfallstelle mit den Blumen und zoomt zuletzt auf ein Kreuz mit der Inschrift «In Liebe Deine Geschwister». Ebenfalls eingezeichnet sind auf dem Kreuz der Vorname sowie das Geburts- und das Todesjahr des Verstorbenen. Zu sehen sind schliesslich auch je ein kleines Porträtbild eines Mannes und einer Frau.

C. Am 11. April 2008 beantwortete Stephan Gassner, Chefredaktor von Tele M1, ein Schreiben der Ehefrau des Verstorbenen, X., vom 4. April 2008. Darin spricht er ihr sein «tiefes Beileid» aus. «Es war nie unsere Absicht, Sie und andere Angehörige des Verstorbenen in Ihren Gefühlen zu verletzen. Wenn das passiert ist, möchten wir uns dafür entschuldigen.» Vielmehr sei es darum gegangen, möglichst informativ über den schweren Unfall zu berichten. Leider sei es offenbar tatsächlich so, dass der Verstorbene mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs gewesen sei, dies bestätige auch eine Augenzeugin. Eine juristische Abklärung habe zudem ergeben, dass die Ausstrahlung des von der Website heruntergeladenen, retuschierten Bildes zulässig gewesen sei.

D. Am 16. April 2008 gelangte X. mit einer Beschwerde gegen die oben umschriebenen Berichte von Tele M1 an den Presserat. Sie sei schockiert gewesen, den gleichen Mann, von dem sie sich in der Morgenfrühe verabschiedet hatte, an seinem Todestag in einem Fernsehbericht auf einem privaten Ferienfoto und erst noch als Raser bezeichnet zu sehen. Dabei habe ihr Mann immer als besonnener Fahrer gegolten. Beim Nachzug vom 5. April habe der Fernsehsender zudem unretuschierte Fotos von ihrem Mann und ihr gezeigt. Damit und insbesondere mit dem Herunterladen von privaten Bildern von ihrer Website habe Tele M1 in grober Weise gegen ihre Privatsphäre verstossen.

E. In ihrer Stellungnahme vom 16. Mai 2008 wiesen Geschäftsführer Daniel Gauchat und Chefredaktor Stephan Gassner die Beschwerde von X. namens der Redaktion von Tele M1 als ungegründet zurück. Zwar sei es für sie nachvollziehbar, dass die Beschwerdeführerin über die Berichterstattung enttäuscht sei. Die veröffentlichten Informationen zur Fahrweise des Verstorbenen beim Unfall seien jedoch durch mehrere Quellen (Kantonspolizei und Augenzeugin) belegt. Zudem sei Raserei kein Kavaliersdelikt. Immerhin sei beim Unfall ein unschuldiger Autofahrer schwer verletzt worden. Das von der Website heruntergeladene Bild von Herrn X. sei vor der Veröffentlichung unkenntlich gemacht worden.

F. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin an sowie Thomas Bein, Andrea Fiedler, Claudia Landolt Starck, Peter Liatowitsch, Daniel Suter und Max Trossmann.

G. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 13. August 2008 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» auferlegt den Journalistinnen und Journalisten die Pflicht, vorbehältlich eines überwiegenden öffentlichen Interesses die Privatsphäre derjenigen Personen zu respektieren, die Gegenstand eines Medienberichts sind. Zudem sind nach der gleichen Bestimmung sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen zu unterlassen.

2. a) Der Presserat spürt die grosse Betroffenheit der Beschwerdeführerin. Wenn Medien über Geschehnisse berichten, bei denen Personen unerwartet gestorben sind, finden sich Angehörige an der Grenze des Erträglichen und in einem Ausnahmezustand: Der intime, persönliche Prozess des Trauerns wird irritiert durch öffentliches Schreiben, Berichten und Kommentieren. Die Berichte von Tele M1 nennen aber weder Namen noch Beruf oder Wohnort des Unfallverursachers. Ebenfalls wird kein Bild der verunfallten Personen gezeigt, sondern nur die Wracks der Unfallfahrzeuge. Insoweit erscheint die Berichterstattung deshalb berufsethisch unbedenklich und auch die Beschwerdeführerin räumt in ihrer Eingabe ein, dass sie sich damit wohl abfinden müsse.

Als inakzeptabel erachtet sie in den beanstandeten Berichten hingegen zweierlei: Zum einen habe Tele M1 beim Bericht vom 1. April 2008 ohne ihre Erlaubnis private Bilder von ihrer Website heruntergeladen und für den Fernsehbeitrag verwendet. Zudem habe der Fernsehsender im zweiten Bericht vom 5. April 2008 je an ein unretuschiertes kleines Porträbild von ihr und ihrem verstorbenen Ehemann herangezoomt, das auf einem Gedenkkreuz an der Unfallstelle angebracht war.

b) Sind Bilder von Privatpersonen, die auf einer nicht mit einem Passwort geschützten, also für jedermann zugänglichen Website veröffentlicht werden, nach wie vor «privat»? Oder hat der Verstorbene mit der Veröffentlichung von privaten Fotos auf seiner Website in Bezug auf diese Bilder unwiderruflich auf den Schutz seiner Privatsphäre verzichtet? Und ist es den Medien somit erlaubt, diese Bilder unbesehen weiter zu veröffentlichen, ungeachtet des konkreten Kontexts?

Diese Frage ist nach Auffassung des Presserates differenziert zu beantworten. Nicht alles Private, das öffentlich gemacht oder für die Öffentlichkeit einsehbar ist, darf durch die Medien vorbehaltlos reproduziert und weiterverbreitet werden. So ist der Presserat z.B. in der Stellungnahme 22/2002 zum Schluss gelangt, vorbehältlich eines überwiegenden öffentlichen Interesses sei es berufsethisch nicht zulässig, einen Medienbeitrag mit einem Bild zu illustrieren, das eine auf dem Bild erkennbare Person in einem für sie heiklen Kontext zeigt. «Selbst wenn die abgebildete Person ursprünglich ihre Einwilligung zur Veröffentlichung eines Fotos erteilt hat, kann daraus nicht abgeleitet werden, dass diese Einwilligung auch für eine prominentere Publikation in einem viel auflagestärkeren anderen Medium gilt.» Umgekehrt hat der Presserat in der Stellungnahme 56/2004 darauf hingewiesen, dass wer als Betreiber einer eigenen Website an die Öffentlichkeit tritt, im Kontext mit dieser Publikation zu einer Person des öffentlichen Lebens wird.

Gestützt auf diese Abgrenzungen schliesst der Presserat für den konkreten Fall, dass die Fotos auf der privaten Website des Verstorbenen zwar von den Medien nicht einfach beliebig weiterv
erbreitet werden durften. Angesichts des unmittelbaren Bezugs zwischen dem auf der Website thematisierten Hobby und dem tödlichen Unfall war es im konkreten Fall jedoch zulässig, die Bilder zu verwenden. Zumal das Bild des Verstorbenen verfremdet und er entsprechend für Dritte ausserhalb des engeren familiären und sozialen Umfelds kaum erkennbar war.

c) Zum gleichen Schluss gelangt der Presserat in Bezug auf die Veröffentlichung der Bilder von der Unfallstelle mit den Blumen und dem Gedenkkreuz. Zumal die Beschwerde nicht geltend macht, die Geschwister des Verstorbenen hätten mit dieser Öffentlichmachung ihrer Trauer gegen den ausdrücklichen Willen der Beschwerdeführerin gehandelt. Wer seine Trauer – auch mit persönlichen Bildern – selber derart öffentlich macht, kann sich nicht auf den Schutz der Privatsphäre berufen, wenn Medien darüber berichten. Diskutabel erscheint allerdings, ob es im konkreten Fall notwendig war, derart nah an das Trauerkreuz und die Porträtbilder des Verstorbenen und der Beschwerdeführerin heranzuzoomen. Auch hierzu ist aber festzustellen, dass die Veröffentlichung der Bilder durch Tele M1 nicht zweckentfremdet, in einem anderen Kontext, sondern im gleichen Zusammenhang erfolgte, in dem die von der Publikation Betroffenen selber an die Öffentlichkeit gegangen sind. Entsprechend ist eine Verletzung der Ziffer 7 der «Erklärung» (Privatsphäre) auch unter diesem Gesichtspunkt zu verneinen.

3. Schliesslich beanstandet die Beschwerdeführerin sinngemäss, die Verwendung des Begriffs «Raser» für ihren Ehemann und die Behauptung, er sei beim Unfall «mit massiv überhöhter Geschwindigkeit gefahren», sei als sachlich ungerechtfertigte Anschuldigung im Sinne von Ziffer 7 der «Erklärung» zu werten. Insbesondere sei es unzulässig gewesen, aus der Beschreibung des Motorrads auf der Website – «Super, wie das Ding läuft!» – die Aussage abzuleiten «und auch die Homepage lässt darauf schliessen, dass der zweifache Familienvater aus dem Aargau offenbar gerne gerast ist».

Zwar ist der Beschwerdeführerin hier insofern Recht zu geben, als nicht jeder, der Freude an schnellen Fahrzeugen hat, automatisch auch ein unverantwortlicher Raser ist. Für den Betrachter des Beitrags von Tele M1 wird allerdings klar, dass es sich hier wie generell bei der Verwendung des Begriffs «Raser» um eine Wertung des TV-Senders handelt. Und ebenso wie die Wertung als solche ist zudem auch deren faktische Grundlage für die Zuschauerinnen und Zuschauer von Tele M1 erkennbar. Nämlich die Bestätigung der Kantonspolizei, wonach der den Unfall verursachende Motorradfahrer mit stark überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei. Unter diesen Umständen erscheint auch der Vorwurf der sachlich nicht gerechtfertigten Anschuldigung unbegründet.

Ergänzend ist zudem darauf hinzuweisen, dass im zweiten Bericht vom 5. April 2008 erwähnt wird, der vormalig als «Raser» bezeichnete Motorradfahrer habe im Familienkreis nicht als solcher, sondern im Gegenteil als «besonnener Fahrer» gegolten.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Tele M1 hat mit der Ausstrahlung über einen Unfall mit Todesfolge im Kanton Solothurn am 1. April 2008 und dem Nachzug vom 5. April 2008 über das Unfallopfer und dessen Familie die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Respektierung der Privatsphäre, Unterlassung sachlich nicht gerechtfertigter Anschuldigungen) nicht verletzt.

Zusammenfassung

Resumé

Riassunto