I. Sachverhalt
A. Unter dem Titel «Melanie – ein Kindsmissbrauch» berichtete Charly Pichler am 19. Januar 2012 über einen Strafprozess vor dem Bezirksgericht Münchwilen. Darin zitiert der Autor detailliert aus der Anklageschrift, welche Sachverhalte die Staatsanwaltschaft Thurgau dem wegen sexueller Handlungen mit einem Kind sowie sexueller Nötigung erstinstanzlich verurteilten Täter vorwerfe. Und er gibt seiner Entrüstung darüber Ausdruck, dass der Angeschuldigte lediglich die Gerichtskosten von 4000 Franken bezahlen müsse, da sowohl die Verurteilung zu einer Geldstrafe (300 Tagessätze à 100 Franken) wie auch eine Busse von 1000 Franken bedingt gälten.
B. Am 20. Januar 2012 beschwerte sich X. beim Presserat, die detaillierte Schilderung eines sexuellen Übergriffs an einem minderjährigen Mädchen verstosse gegen die Ziffern 7 (Privatsphäre) und 8 (Opferschutz) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Der Artikel von Charly Pichler respektiere das Leid und die Gefühle der Angehörigen in keiner Weise.
C. Am 10. Februar 2012 wies Verlagsredaktor Charly Pichler die Beschwerde namens des Verlagshauses Zehnder, Wil, als unbegründet zurück. Im Bemühen um höchstmögliche Authentizität habe er sich im beanstandeten Text darauf beschränkt, wörtlich aus der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft zu zitieren. Und in Bezug auf die ihm vorgeworfene Verletzung der Privatsphäre wendet er ein, es sei ihm nicht möglich gewesen, Opfer und Angehörige zu kontaktieren, da die Staatsanwalt sein Gesuch, ihm die Namen zu nennen, abschlägig beantwortet habe.
D. Am 20. Februar 2012 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.
E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 29. Juni 2012 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Gemäss Ziffer 7 der «Erklärung» ist die Privatsphäre der einzelnen Personen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Daraus ist insbesondere abzuleiten, dass Medien nur dann identifizierend berichten, wenn die Betroffenen damit einverstanden sind oder sofern dafür ein den Anspruch auf Schutz der Privatsphäre überwiegendes öffentliches Interesse besteht. So beispielsweise, wenn eine Person in der Öffentlichkeit allgemein bekannt ist und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht (vgl. dazu die Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» – Identifizierung).
Selbst bei einer grundsätzlich anonymen Berichterstattung, bei der das Opfer bloss für einen beschränkten Kreis der Leserschaft erkennbar ist, sind Journalisten verpflichtet, darauf zu achten, dass sie gerade bei der Berichterstattung über Gewaltverbrechen dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit Rechnung tragen. Je detaillierter ein Medium beispielsweise pädophile Handlungen beschreibt, desto genauer muss der Autor des Berichts darauf achten, dass der Bericht keine Informationselemente enthält, welche eine Identifikation des Opfers über das allerengste familiäre Umfeld hinaus ermöglichen und damit auch die Zuordnung der veröffentlichten heiklen Einzelheiten zu den pädophilen Übergriffen (Stellungnahme 58/2008).
Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Nennung des Tatorts (Sirnach – 7000 Einwohner) sowie die grobe Umschreibung der Familienverhältnisse (Ehefrau mit drei Kindern) nicht unbedenklich. Trotzdem ginge es nach Auffassung des Presserats zu weit, daraus eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» abzuleiten, weil diese Informationen den Kreis derjenigen, welche das Opfer gestützt auf den Zeitungsbericht identifizieren können, kaum wesentlich erhöhen.
2. Ist in Bezug auf Ziffer 7 der «Erklärung» mithin gerade bei Opfern von Unglücksfällen und Verbrechen – vorbehältlich eines überwiegenden Interesses an einer identifizierenden Berichterstattung – ganz besonders auf eine sorgfältige Anonymisierung zu achten, ist demgegenüber unter dem Gesichtspunkt von Ziffer 8 der «Erklärung» (Menschenwürde; Opferschutz) gestützt auf die Richtlinie 8.3 (Opferschutz) zu prüfen, ob Opfer in unangemessen sensationeller Weise dargestellt und/oder zu blossen Objekten degradiert werden. «Als sensationell gilt insbesondere die Darstellung von Sterbenden, Leidenden und Leichen, wenn die Darstellung in Text und Bild hinsichtlich detailgetreuer Beschreibung sowie Dauer und Grösse der Einstellungen die Grenze des durch das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit Gerechtfertigten übersteigt.» (Stellungnahme 62/2010)
Vorliegend trägt das Copy-Paste-Verfahren der «Wiler Nachrichten» mit der detailgetreuen Wiedergabe der Tatvorwürfe der geforderten Interessenabwägung zwischen der Information der Öffentlichkeit und dem Opferschutz in keiner Weise Rechnung. Zwar hat der Presserat in der angeführten Stellungnahme 58/2008 betont, dass es berufsethisch zulässig ist, pädophile Übergriffe in einer Gerichtsberichterstattung detailliert zu beschreiben, um auf diese Weise das Publikum für das Leiden des Opfers zu sensibilisieren. Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit rechtfertigt dies aber vorliegend keineswegs, den Kindsmissbrauch völlig ungefiltert, eins zu eins im Stil einer «Live-Reportage» zu schildern. Dem Autor des Artikels wäre es auch mit einer zurückhaltenderen Umschreibung des strafbaren Verhaltens möglich gewesen, seiner Empörung über die nach seiner Auffassung viel zu milde Bestrafung Ausdruck zu geben.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.
2. Die «Wiler Nachrichten» haben mit der Veröffentlichung des Artikels «Melanie – ein Kindsmissbrauch» vom 19. Januar 2012 die Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Opferschutz) verletzt.
3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.
4. Die «Wiler Nachrichten» haben die Ziffer 7 der «Erklärung» (Privatsphäre; Identifizierung) nicht verletzt.