I. Sachverhalt
A. Am 29. Juni 2012 berichtete Dario Venutti in der Print- und Online-Ausgabe des «Tages-Anzeiger» (Titel: «Das alltägliche Twitter-Gewitter») über die Tücken des Umgangs mit dem Mikrobloggingdienst Twitter. Der Autor greift darin unter anderem einen Tweet des Zürcher Freidenkers X. auf. Dieser habe nach dem Car-Unglück vom März 2012 im Wallis, bei dem 28 Menschen, darunter 22 belgische Kinder, ums Leben kamen, folgenden Tweet verbreitet: «Der allgütige Herr wollte nur verhindern, dass die armen Schüler belgischen Kinderschändern in die Hände fallen.» Trotz dieses Tabubruchs habe der Kommentar kein öffentliches Echo ausgelöst.
B. Am 27. September 2012 beschwerte sich X. beim Schweizer Presserat, Dario Venutti habe den zitierten Tweet auf verleumderische Art aus dem Zusammenhang gerissen. «Dieser Tweet war keine Reaktion auf das tragische Busunglück, sondern auf die Aussage des Pfarrers von Siders, man müsse sich nach einer solchen Katastrophe der Präsenz Gottes bewusst sein. Das im ‹Tages-Anzeiger› erschienene Interview mit dem Pfarrer war im Tweet verlinkt, für die Twitter-Leserschaft war der Bezug zur instrumentalisierenden Aussage des Pfarrers (…) deshalb eindeutig.» Mit der Ausklammerung dieses Kontexts habe der «Tages-Anzeiger» die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Zwar habe der «Tages-Anzeiger» den Fehler in der Online-Ausgabe und in der iPad-Version unverzüglich korrigiert, hingegen weder eine Berichtigung in der Printausgabe veröffentlicht, noch die Archivausgabe angepasst. Die Aufarbeitung der «verleumderischen Darstellung von Herrn Venutti» sei damit noch nicht abgeschlossen. Deshalb gelange er (X.) an den Presserat und habe zudem eine Strafanzeige wegen Verleumdung gegen den Autor eingereicht.
C. Auf Nachfrage des Presseratssekretariats reichte der Beschwerdeführer am 1. Oktober 2012 eine Kopie seiner Strafanzeige gegen Dario Venutti wegen Verleumdung nach.
D. Gemäss Artikel 12 Absatz 1 des Geschäftsreglements behandelt das Presseratspräsidium Beschwerden, auf die der Presserat nicht eintritt.
E. Das Presseratspräsidium, bestehend aus Präsident Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann, hat die vorliegende Stellungnahme per 9. November 2012 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Sofern sich berufsethische Grundsatzfragen stellen, kann der Schweizer Presserat gemäss Artikel 10 Absatz 2 seines Geschäftsreglements auch dann auf Beschwerden eintreten, wenn zum Beschwerdegegenstand bereits ein Gerichtsverfahren eingeleitet worden ist oder ein solches vom Beschwerdeführer während der Dauer des Presseratsverfahrens anhängig gemacht wird
2. Bei der Prüfung der Frage, ob eine Beschwerde grundlegende berufsethische Fragen aufwirft, berücksichtigt der Presserat nicht allein die als verletzt gerügten abstrakten berufsethischen Bestimmungen, sondern den konkret zur Diskussion stehenden Sachverhalt in Verbindung mit diesen Bestimmungen. Ebenso fällt bei der durch den Presserat vorzunehmenden Interessenabwägung ins Gewicht, inwiefern die Sache bedeutend genug erscheint, um zu einem identischen oder zumindest ähnlichen Sachverhalt zwei parallele Verfahren durchzuführen. Beanstandet der Beschwerdeführer im parallel hängigen Gerichtsverfahren zu weiten Teilen die gleichen Punkte wie in der Presseratsbeschwerde, ist diese Doppelspurigkeit aus Sicht des Presserates in aller Regel nicht gerechtfertigt (Stellungnahmen 46/2007, 9/2010).
3. Gestützt auf einen Vergleich der Presseratsbeschwerde mit der Strafanzeige stellt der Presserat fest, dass es inhaltlich in beiden Verfahren um die im Wesentlichen gleichen Vorwürfe geht: Dario Venutti habe durch Auslassung des Kontexts des umstrittenen Tweets wichtige Informationen unterschlagen und damit den Beschwerdeführer verleumdet. Zudem habe der «Tages-Anzeiger» den Fehler nicht auf allen Verbreitungskanälen berichtigt. Darüber hinaus wirft die Beschwerde vom 27. September 2012 an den Presserat keine grundsätzlichen oder vom Presserat bisher noch nie behandelten neuen berufsethischen Fragen auf. Daher ist es nicht sinnvoll, das Presseratsverfahren zusätzlich zum Strafverfahren durchzuführen.
III. Feststellung
Der Presserat tritt nicht auf die Beschwerde ein.