Nr. 46/2007
Presserats- und Gerichtsverfahren

(Bollag c. «Tachles») Stellungnahme des Presserates vom 28. September 2007

Drucken

I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Calmy-Rey empört Holocaust-Opfer» berichtete «20 Minuten» am 7. Juni 2006 auf der Frontseite, «Calmy-Reys Vorschlag, ein Holocaust-Seminar zu organisieren, stösst bei jüdischen Organisationen auf Ablehnung». Einzig «der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) sieht dies anders: ‹Es handelt sich doch um Nachhilfestunden für Iraner, um ihnen beizubringen, was im Zweiten Weltkrieg wirklich passiert ist›, so SIG-Vizepräsident Josef Bollag. Dies sei zwar gut gemeint – bringe aber wohl nicht viel.»

B. Am 15. Juni 2007 reagierte «Tachles» mit dem von Chefredaktor Yves Kugelmann gezeichneten Artikel «SIG für Holocaust-Nachhilfestunden an Iran?». Der Lead lautete. «Bisher waren Diskussionen über die Existenz des Holocaust tabu. Nun tanzt ein SIG-Geschäftsleitungsmitglied aus der Reihe und widerspricht öffentlich seinem Präsidenten.» Die Kollegen der SIG-Geschäftsleitung hätten in der Vorwoche nicht schlecht gestaunt, als sie den Frontartikel von «20 Minuten» zur Kenntnis genommen hätten. Darin habe sich SIG-Vizepräsident Josef Bollag zur Kontroverse um ein von Micheline Calmy-Rey laut der «Weltwoche» vorgeschlagenes Seminar zu den «unterschiedlichen Perzeptionen des Holocausts» so verlauten lassen: «Es handelt sich doch um Nachhilfestunden für Iraner, um ihnen beizubringen, was im Zweiten Weltkrieg wirklich passiert ist.» Schon die Tatsache, «dass eine solche Konferenz angedacht und nun sogar noch ernsthaft vom SIG-Vizepräsidenten in Erwägung gezogen wird, bedeutet, dass der iranische Präsident bei der schleichenden Relativierung der Shoah wiederum gepunktet hat. Bollag argumentiere damit nicht nur gegen das Wiesenthal-Center und die Anti-Defamation League, sondern auch gegen den eigenen Präsidenten. Beim Fauxpas von Bollag handle es sich wohl um mehr als um eine Kommunikationspanne. «Ideologische Differenzen und persönliche Streitereien lähmen die Geschäftsleitung seit Monaten hinter den Kulissen. Dass nun die Schweizer Öffentlichkeit ausgerechnet bei jenem Thema mit einem öffentlichen Dolchstoss vom Verantwortlichen für das Dossier Antisemitismus konfrontiert wird, birgt mehr als Ironie in sich.»

C. Eine Woche später, am 22. Juni 2007, kam «Tachles» unter dem Titel «Neue Posse» noch einmal auf das Thema zurück. «Einmal mehr stellt sich die Geschäftsleitung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) vor eine unrichtige Aussage von Vizepräsident Josef Bollag.» Eine relativierende Aussage zum von «20 Minuten» veröffentlichten Zitat münde nun «in die zu erwartende Konklusion: ‹Die Äusserungen von Dr. Bollag wurden in der Pendlerzeitung ,20 Minuten’ gekürzt wiedergegeben.› Falsch: ‹Die Aussage ist von mir mit Herrn Bollag gegengecheckt und von ihm abgesegnet worden›, so der ‹20 Minuten›-Redaktor Nico Menzato gegenüber ‹Tachles›. SIG-Präsident Alfred Donath sagt zur Posse: ‹Bollag hat uns anders über den Vorgang informiert.›»

D. Am 30. Juli 2007 gelangte der anwaltlich vertretene Josef Bollag mit einer Beschwerde gegen die beiden von «Tachles» veröffentlichten, obengenannten Berichte an den Presserat. Im ersten Artikel «SIG für Holocaust-Nachhilfestunden an Iran?» habe Chefredaktor Yves Kugelmann eine Meldung in «20 Minuten» zum Anlass genommen, gegenüber dem Beschwerdeführer eine Dolchstosslegende zu verbreiten und ihm damit einen heimtückischen Verrat an der jüdischen Sache in ihrem Kampf gegen den Antisemitismus unterstellt. Dabei habe Kugelmann es pflichtwidrig unterlassen, Bollag vor der Publikation mit diesem schweren Vorwurf zu konfrontieren. Mit dem zweiten Artikel «Neue Posse» habe Yves Kugelmann an Stelle der eigentlich angebrachten Berichtigung und Entschuldigung eine eindeutige Falschmeldung verbreitet und den Beschwerdeführer zu Unrecht der Lüge bezichtigt. Dies «indem er ausdrücklich behauptete, es sei falsch, dass dessen Äusserungen in der Pendlerzeitung verkürzt wiedergegeben worden seien».

E. Auf Aufforderung des Presserates hin reichte Josef Bollag am 13. August 2007 die Kopie einer gleichentags beim Bezirksgericht Zürich eingereichten Strafklage gegen Yves Kugelmann betreffend Ehrverletzung durch die Presse nach. Gegenstand der Strafanzeige sind die beiden in «Tachles» veröffentlichten Berichte «SIG für Holocaust-Nachhilfestunden an Iran?» und «Neue Posse».

F. Gemäss Art. 9 Abs. 3 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates sind offensichtlich unbegründete Beschwerden durch das Presseratspräsidium zurückzuweisen. Dasselbe gilt für Beschwerden, bei denen die Zuständigkeit des Schweizer Presserates zu verneinen ist oder auf die der Presserat aus anderen Gründen nicht eintritt.

G. Das Presseratspräsidium bestehend aus dem Presseratspräsidenten Peter Studer und den beiden Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever und Esther Diener-Morscher hat die vorliegende Stellungnahme per 28. September 2007 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Gemäss Art. 15 Abs. 2 seines Geschäftsreglements kann der Presserat auch dann auf Beschwerden eintreten, wenn im Zusammenhang mit dem Beschwerdegegenstand bereits ein Gerichtsverfahren eingeleitet worden ist oder ein solches vom Beschwerdeführer noch anhängig gemacht werden soll. Nach Abs. 3 der gleichen Bestimmung tritt der Presserat jedoch dann nicht auf eine Beschwerde ein, wenn er zum Schluss gelangt, dass «a) die manifeste Gefahr der Beeinflussung eines hängigen Gerichtsverfahrens durch das Presseratsverfahren das Interesse der Beschwerdeführerin/des Beschwerdeführers an einer Stellungnahme des Presserates eindeutig überwiegt und b) sich im Zusammenhang mit der Beschwerde keine grundlegenden berufsethischen Fragen stellen». Schliesslich tritt der Presserat gestützt auf Art. 15 Abs. 4 auch dann nicht auf Beschwerden ein, wenn er den Eindruck erhält, dass der Beschwerdeführer den Presserat missbrauchen will, um an Beweismittel zu gelangen, an die er auf anderem Wege nicht gelangen könnte.

b) In seiner jüngeren Praxis hat der Presserat darauf hingewiesen, dass es bei gleichzeitig hängigen Gerichts- und Presseratsverfahren schwierig abzuschätzen ist, ob das Gerichtsverfahren durch eine Stellungnahme des Presserats beeinflusst werden könnte. Für ihn ist deshalb in erster Linie massgebend, ob die Presseratsbeschwerde grundlegende berufsethische Fragen aufwirft (44/2006). Beanstandet der Beschwerdeführer im parallel hängigen Gerichtsverfahren weitgehend die gleichen Punkte wie in der Beschwerde an den Presserat, besteht jedoch in aller Regel kein genügendes Interesse – parallel zum Gerichtsverfahren zusätzlich ein weiteres Verfahren durchzuführen. Zumal der Presserat im Gegensatz zu staatlichen Instanzen nicht über die prozessualen (Zwangs-)Mittel verfügt, um kontroverse Sachverhalte zu klären (27/2007).

2. Beim Vergleich von Presseratsbeschwerde und Strafklage betreffend Ehrverletzung durch die Presse kommt der Presserat zum Schluss, dass beide Eingaben weitgehend in die gleiche Richtung zielen. Währenddem die Presseratsbeschwerde eine Verletzung der Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 5 (Berichtigung) des Journalistenkodex («Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten») rügt, wirft die Strafklage Kugelmann «unwahre Tatsachenbehauptungen» vor. Zudem stellt Bollag Genugtuungs- und Schadenersatzforderungen in Aussicht sowie ein Begehren um Richtigstellung und Entschuldigung in «Tachles». Ebenso stellt der Strafkläger zumindest indirekt die Anhörungspflicht zur Diskussion: Kugelmann hätte erahnen oder gar wissen müssen, «dass die von ihm vorgenommenen Interpretationen die Einstellung Josef Bollags nicht widerspiegeln konnte. Hier wären zumindest weitere Nachfragen am Platz gewesen. Kugelmann wird erklären müssen, weshalb er ausgerechnet hier eine Nachfrage unterliess.»

Angesichts der inhaltlich weitgehenden Identität der beiden Eingaben ist ein genügendes Interesse des Beschwerdeführers daran zu verneinen, dass sich sowohl die Strafjustiz wie auch der Presserat mit seinen Beanstandungen auseinandersetzen.

3. Schliesslich verlangt der Beschwerdeführer in seiner ergänzenden Eingabe an den Presserat vom 13. August 2007, vor einem allfälligen Nichteintretensentscheid zu den einem solchen zugrunde liegenden Fakten vorgängig angehört zu werden. Dies ist jedoch weder im Geschäftsreglement vorgesehen noch entspricht es der Praxis des Presserates, seine Schlussfolgerungen vor der definitiven Verabschiedung einer Stellungnahme den Parteien vorgängig zur Anhörung zu unterbreiten. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer in seiner Eingabe vom 13. August 2007 seine Auffassung zu den sich bei der Anwendung des Art. 15 Abs. 3 und 4 des Geschäftsreglements im konkreten Fall stellenden Fragen bereits ausführlich dargelegt hat.

III. Feststellung

Der Presserat tritt nicht auf die Beschwerde ein.