I. Sachverhalt
A. Am 12. September 2010 erscheint im «SonntagsBlick» der Artikel «Verhaftet nach Freitod» mit dem Obertitel «Brite filmt sich im Sterbezimmer – Freunden droht Klage». Darin berichtet Jessica Francis über den Suizid eines schwerkranken Briten in der Schweiz, unterstützt durch Sterbehelferinnen von Dignitas. Die Journalistin schreibt, die britische Polizei habe zwei Freunde des namentlich genannten Briten verhaftet, weil sie von seinen Suizidplänen gewusst hätten. Denn in Grossbritannien sei Sterbehilfe strafbar: «Schon das Wissen von einem bevorstehenden Selbstmord wird mit bis zu 14 Jahren Gefängnis bestraft.» Der Artikel berichtet über die «Reise in den Tod» des Engländers, wie er den «tödlichen Medikamenten-Cocktail» trinkt, sich filmen lässt, um mit dem Video zu beweisen, dass er selber über seinen Tod bestimmt hat. Am Schluss schreibt Francis: «Die Sterbehilfeorganisation Dignitas von Ludwig A. Minelli wollte den Fall nicht kommentieren.» Den Bericht illustriert das Foto eines Mannes mit Beatmungsgerät und einem Headset. Die Legende nennt den vollen Namen: «X. Tod hat ein gerichtliches Nachspiel.»
B. Gleichentags beschwert sich Dignitas-Leiter Ludwig A. Minelli beim Schweizer Presserat über den Bericht des «SonntagsBlick». Der Mann auf dem Foto sei nicht der Brite, von dem der Artikel berichte, sondern Craig Ewert, einer der Hauptdarsteller im kanadischen Dokumentarfilm «The Suicide Tourist». Dem Bild im «SonntagsBlick» komme offensichtlich nur Symbolcharakter zu. Solche Symbolbilder mit Illustrationsfunktion, die ein Thema, Personen oder einen Kontext ins Bild rücken, die keinen direkten Zusammenhang mit dem Textinhalt haben, müssten aber gemäss Richtlinie 3.4 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» als solche erkennbar sein. Der «SonntagsBlick» weise das Bild aber nicht als Symbolbild aus. Damit sei Ziffer 3 der «Erklärung» verletzt (keine wichtigen Informationen unterschlagen, keine Bilder entstellen).
C. Am 14. September 2010 doppelt Dignitas-Mitarbeiter Silvan Luley mit einer Beschwerde nach. Sie rügt gleichlautend die Verletzung der Ziffer 3 der «Erklärung» wegen des nichtdeklarierten Symbolbilds. Ziffer 3 und zusätzlich Ziffer 1 (Wahrheit) seien aber auch wegen einiger falscher, irreführender oder frei erfundener Informationen verletzt. Jessica Francis habe ihn als Dignitas-Mitarbeiter am Freitagnachmittag vor der Publikation um eine Stellungnahme gebeten. Da eine solche abzugeben aber nur der länger ferienabwesende Ludwig A. Minelli befugt sei, habe er angeboten, Hintergrundinformationen zu geben. Die «SonntagsBlick»-Journalistin habe ihm daraufhin allgemeine Fragen zu Dignitas gestellt sowie solche zu Briten, die Dignitas in Anspruch nehmen wollen. Leider habe Francis diese Informationen dann wider besseres Wissen falsch oder missverständlich wiedergegeben.
Luley bemängelt im Einzelnen:
– Der «SonntagsBlick» schreibe, zwei Freunde des Briten seien verhaftet worden. Das sei falsch. Die Polizei habe sie lediglich befragt; die englische Strafverfolgungsbehörde entscheide aufgrund der Befragung später, ob überhaupt eine Straftat vorliege, sie eine Strafverfolgung einleite und es zum Prozess komme. Daher führe auch die Bildunterschrift in die Irre, da sie laute, des Briten Tod «hat ein gerichtliches Nachspiel». Dieses Prozedere sei übrigens auch in der Schweiz nach einer Freitodbegleitung üblich.
– Frei erfunden sei der Satz «Schon das Wissen von einem bevorstehenden Selbstmord wird mit bis zu 14 Jahren Gefängnis bestraft». Das englische Recht bestrafe nicht allein schon das Wissen um einen geplanten Suizid.
– Frei erfunden sei ebenso, dass der Sarg des Briten zur Bestattung nach England transportiert werde; der Mann sei vielmehr in Zürich kremiert worden.
– Das von Dignitas eingesetzte Mittel sei kein «Medikamenten-Cocktail» im Sinn eines Mixgetränks. Dignitas verwende allein ein Betäubungs- und Narkosemittel, welches kein Cocktail und keine Mischung verschiedener Medikamente sei.
– Schliesslich sei die Behauptung, Dignitas wolle den Fall nicht kommentieren, irreführend. Korrekt wäre gewesen: «Minelli konnte für eine Stellungnahme nicht erreicht werden.»
D. Mit Schreiben vom 21. Dezember 2010 verzichtete die anwaltlich vertretene Redaktion «SonntagsBlick» darauf, sich zu den Beschwerden zu äussern. Generell bestritt sie deren Behauptungen.
E. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin an sowie Jan Grüebler, Claudia Landolt Starck, Peter Liatowitsch, Markus Locher, Daniel Suter und Max Trossmann.
F. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerden an ihrer Sitzung vom 16. März 2011 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Die Frage, um die es in beiden Beschwerden geht, ob nämlich der «SonntagsBlick» das zum Bericht gestellte Foto als illustrativ eingesetztes Symbolbild ausgewiesen hat, ist schnell und eindeutig beantwortet: Hat er nicht. Die Bildlegende «D… S… Tod hat ein gerichtliches Nachspiel» lässt die Leserinnen und Leser im Gegenteil annehmen, sie sähen hier den freiwillig aus dem Leben geschiedenen Briten. Weil es sich tatsächlich aber um den Protagonisten Craig Ewert aus der kanadischen Doku «The Suicide Tourist» handelt, hat die Sonntagszeitung ihre Leserschaft getäuscht. Ob das bewusst geschah oder unabsichtlich, ob die Redaktion den Mann fälschlicherweise für Douglas Sinclair hielt und deshalb so legendierte oder ob sie Ewerts Foto als Symbolbild nahm und «vergass», die Illustration entsprechend zu bezeichnen, das alles muss den Presserat nicht kümmern. Fakt ist: Das Bild zeigt nicht den Briten und ist nicht als Symbolbild gekennzeichnet. Auch nicht in der Foto-Byline, dort steht nur ZVG (zur Verfügung gestellt) als Bildnachweis. Der «SonntagsBlick» hat damit Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten» verletzt. Die zugehörige Richtlinie 3.4 verlangt, dass Journalisten Symbolbilder, die nicht direkt mit dem Textinhalt zu tun haben, für die Leser unterscheidbar zu machen haben von Bildern mit Dokumentations- und Informationsgehalt und direktem Bezug zum Gegenstand des Berichts.
2. Die von der Beschwerde Luley als inkorrekt gerügten Textpassagen beurteilt der Presserat wie folgt:
– Zwei Freunde verhaftet – in Wahrheit aber nur von der Polizei befragt, ob es zu einer Strafklage kommt oder einem «gerichtlichen Nachspiel», ist offen.
Der Presserat konstatiert, dass der Beschwerdeführer nicht explizit, sondern nur sinngemäss sagt, im konkreten Fall sei keine Verhaftung erfolgt; er führt bloss an, dies entspreche nicht der üblichen Praxis der britischen Behörden. Eine Recherche des Presserats in englischen Zeitungen ergibt allerdings, dass ausnahmslos alle Blätter berichteten, zwei enge Freunde des Sterbewilligen, eine Frau und ein Mann, seien Anfang September 2010 wegen Verdachts auf Beihilfe zum Suizid verhaftet worden und nach Einvernahme durch die Polizei gegen Kaution wieder freigekommen. Als Beispiele genannt seien «The Guardian» («Two arrested over assisted suicide», am 2. September 2010 auf www.guardian.co.uk, am 3. September in der Printausgabe) und «The Telegraph» («Two friends of Mr S… have been bailed after being arrested on suspicion of assisting his suicide» am 3. September 2010 auf www.telegraph.co.uk). Entsprechend berichteten auch Nachrichtenagenturen.
«SonntagsBlick» durfte daher zu Recht titeln «Verhaftet nach Freitod». Zumal das Blatt den weiteren Verlauf durchaus offen liess: Schon im Obertitel heisst es: «Freunden droht Klage». Der Lauftext präzisiert: «Sein Freund kehrt allein in die Heimat zurück. Dort wartet die Polizei mit Fragen auf ihn. Ihm und der Frau droht nun ein Gerichtsverfahren.» Einzig die Bildunterschrift «D… S… Tod hat ein gerichtliches Nachspiel» ist voreilig formuliert. Das ist jedoch eine inhaltliche Unschärfe, die allein keine Verletzung von Ziffer 1 (Wahrheit) oder 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) der «Erklärung» statuiert. Gemäss der Praxis des Presserats zur Wahrheitspflicht (dazu zuletzt die Entscheide 64/2009, 20 und 37/2010) verletzt nicht jede formale oder inhaltliche Ungenauigkeit bereits eine berufsethische Norm. Vielmehr verlangt das Prinzip der Verhältnismässigkeit, dass einer Unkorrektheit eine gewisse Relevanz zukommt.
– Schon das Wissen von einem bevorstehenden Selbstmord wird bestraft – in Wahrheit kennt das englische Recht keinen solchen Straftatbestand.
Hier beschränkt sich die Beschwerde auf die blosse Behauptung, die Darstellung des «SonntagsBlick» sei falsch, ohne dies argumentativ näher zu begründen. Es ist nicht am Presserat, die Rechtslage in Grossbritannien zur Suizidbeihilfe abzuklären und zu überprüfen, ob die Darstellung des «SonntagsBlick» richtig ist oder jene des Beschwerdeführers. Entsprechend sieht der Presserat hier keine Verletzung von Ziffer 1 oder 3 der «Erklärung».
– Der Sarg wird zur Bestattung nach England transportiert – in Wahrheit wurde der Mann in Zürich kremiert.
Der Presserat stellt darauf ab, dass Beschwerdeführer Luley als Mitarbeiter von Dignitas eigentlich wissen müsste, ob der Brite kremiert wurde oder nicht. Der Rat hat keinen Anlass, an Luleys Darstellung zu zweifeln. Zumal die Redaktion auch diese Beanstandung nur pauschal und nicht konkret bestreitet. Möglicherweise war die Kremation in Zürich, wie sie Dignitas oft veranlasst, der Redaktion zum Zeitpunkt der Publikation nicht bekannt. Jedenfalls war die Information der Sonntagszeitung falsch. Die Redaktion hat damit die Ziffer 1 der «Erklärung» (Wahrheit) verletzt.
– Dignitas verwendet einzig ein Betäubungs- und Narkosemittel – dieses tödliche Mittel ist kein «Medikamenten-Cocktail» aus verschiedenen Medikamenten.
Der Presserat hält dafür, dass der Beschwerdeführer hier eine Wortklauberei veranstaltet. Unbestritten ist doch, dass Dignitas die 15 Gramm des Mittels in Flüssigkeit auflöst, also eine Mischung herstellt, mit andern Worten ein Mixgetränk, wenn auch nur mit einer Arznei. Eine solche Lösung als Medikamenten-Cocktail zu bezeichnen, ist nicht nur zulässig, sondern auch üblich. Zumal das Wort «Medikament-Cocktail» mit dem Singular Medikament nahezu ungebräuchlich ist. Der «SonntagsBlick» hat mit der Verwendung des Worts «Medikamenten-Cocktail» weder Ziffer 1 noch 3 der «Erklärung» verletzt.
– Die Behauptung, Dignitas wolle den Fall nicht kommentieren, ist irreführend – korrekt wäre gewesen: «Minelli konnte für eine Stellungnahme nicht erreicht werden.»
Zweifellos wäre die vom Beschwerdeführer vorgeschlagene Formulierung richtig und inhaltlich präzis gewesen. Auch ein Satz wie «Dignitas konnte nicht Stellung nehmen, weil ihr Chef Ludwig A. Minelli in den Ferien weilt und nicht erreichbar war» hätte die Fakten genauer wiedergegeben. Doch wertet der Presserat den vom Sonntagsblatt gewählten Satz «Die Sterbehilfeorganisation Dignitas von Ludwig A. Minelli wollte den Fall nicht kommentieren» nicht als so gravierend falsch, dass daraus eine Verletzung von Ziffer 1 (Wahrheit) resultierte. Zwar erweckt die Formel «wollte nicht kommentieren» beim Leser eher den Eindruck, Dignitas habe nichts sagen wollen; dabei konnte Dignitas nichts sagen, weil Minelli halt nicht da war. Doch diese leichte Verfälschung der Beweggründe von Dignitas, nichts zu sagen, begründet keine Verletzung einer berufsethischen Norm. Zumal der Bericht von «SonntagsBlick» keine schweren Vorwürfe gegen Dignitas erhebt; bei schweren Vorwürfen ist es jeweils besonders wichtig, die Haltung von Angegriffenen präzis wiederzugeben oder eben auch den Grund, warum sie nicht Stellung beziehen.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde Minelli wird gutgeheissen, die Beschwerde Luley teilweise gutgeheissen.
2. Der «SonntagsBlick» hat mit dem Artikel «Verhaftet nach Freitod» vom 12. September 2010 die Ziffer 3 (keine wichtigen Informationen unterschlagen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt, indem er ein Symbolbild, das nicht den in der Bildunterschrift Benannten zeigte, nicht als solches deklarierte.
3. Die Redaktion hat ferner die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung» verletzt, indem sie fälschlicherweise schrieb, der Sarg des Verstorbenen sei nach England transportiert worden.
4. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde Luley abgewiesen.