Nr. 8/1994
Namensnennung bei der Berichter-stattung über schwere Verbrechen

('Blick' / Mordfall 'Dario'), vom 7. November 1994

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Stellungnahme

Namensnennung bei der Berichter-stattung über schwere Verbrechen

Ungeachtet der Verwerflichkeit und Abscheulichkeit einer Tat haben auch ein Täter sowie seine indirekt betroffenen Angehörigen ein Recht auf Wahrung ihrer Privatsphäre. Es ist deshalb unter berufsethischen Gesichtspunkten unzulässig, einen Täter unter den gegebenen Umständen an den Pranger zu stellen. Auch für eine Boulevard-Zeitung gelten die berufsethischen Regeln.

Selbst wenn Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall einen Namen zur Publikation freigeben, entbindet dies Medienschaffende nicht von der Pflicht, ihrerseits nach berufsethischen Kriterien zu prüfen, ob eine Namensnennung gerechtfertigt ist.

Prise de position

Publication des noms dans un reportage sur un crime grave

Si abject et répugnant que soit un acte, son auteur, de même que ses proches indirectement touchés, ont droit à la protection de leur sphère privée. Dès lors, il n’est pas admissible, du point de vue de l’éthique professionnelle, qu’un criminel soit, en tel cas, cloué au pilori. Les règles de l’éthique professionnelle s’appliquent également à la presse de boulevard.

Même si l’autorité chargée de la poursuite pénale autorise la publication d’un nom, les journalistes sont tenus d’examiner si une telle publication est jurstifiée selon les critères de l’éthique professionnelle.

Presa di posizione

Pubblicazione dei nomi nel riferire di crimini gravi

Per quanto ripugnante e nefando possa essere un gesto, anche il suo autore, cosi come i suoi familiari indirettamente toccati, hanno diritto alla protezione della loro sfera privata. Nelle date circostanze è quindi inammissibile, dal punto di vista dell’etica professionale, mettere in tal modo alla gogna un colpevole. Le regole dell’etica professionale valgono anche per un giornale scandalistico.

Se nel caso particolare le autorità di procedura penale autorizzano la pubblicazione di un nome, questo non esime i giornalisti dal dovere di valutare autonomamente, secondo criteri di etica professionale, se si giustifichi la menzione del nome.

I. Sachverhalt

A. Mitte Dezember 1993 gaben die Ermittlungsbehörden des Kantons Thurgau die Aufklärung eines Mordfalles bekannt, der weit über die Grenzen des Tatgebietes Aufsehen erregt hatte: Am 4. August jenes Jahres war der 13-jährige Dario C. verstümmelt in einem Feld bei Dörflingen (Kanton Schaffhausen) aufgefunden worden; der Täter hatte den Buben, der an einem Bach in der Nähe seines Wohnortes im Thurgauer Neuparadies fischte, ertränkt und erst dann die Leiche nach Dörflingen transportiert. Die Information über die Verhaftung des geständigen Täters erfolgte an einer Medienkonferenz des Verhörrichteramtes und der Kriminalpolizei am 14. Dezember 1993 in Frauenfeld, und die Medien berichteten gleichentags (Radio und Fernsehen) oder am nächsten Tag (Tageszeitungen) über die Verhaftung von „Darios Mörder » (ohne den Namen des Täters zu nennen). In seiner Ausgabe vom 17. Dezember 1993 publizierte der „Blick » dann auf seiner Titelseite im Grossformat das Foto des Mörders von Dario C. Die über die ganze Seite laufende Titelzeile über dem Bild lautete „Das ist Darios Mörder ». Dem Foto war ein Balken „exklusiv » beigefügt. Der volle Name des Mannes wurde sowohl im Beitrag wie in der Bildlegende genannt.

B. Am 24. März 1994 informierte das Untersuchungsrichteramt des Kantons Schaffhausen die Medien über das Geständnis des Täters bezüglich eines zweiten, rund zehn Jahre zurückliegenden Tötungsdelikts, dessen Opfer der Schüler Stefan B. aus Büttenhardt gewesen war. Dabei wurde der Name des Täters vom Schaffhauser Untersuchungsrichter vollumfänglich genannt und in den „Schaffhauser Nachrichten » vom 25. März wie zum Teil auch in überregionalen Medien wiedergegeben. Der Schaffhauser Untersuchungsrichter P. Neukomm stellte auf Anfrage des Presseratssekretärs mit Schreiben vom 4. August 1994 fest, dass „es der Informationspraxis unseres Amtes entspricht, dass bei Tötungsdelikten grundsätzlich immer den Namen des Täters und des Opfers freizugeben ». Als Begründung führt P. Neukomm an, dass „dem grossen Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit bei solchen Taten unserer Meinung nach keine überwiegend schutzwürdigen Interessen der betroffenen Täter entgegenstehen ». Zudem würden die bisherigen Erfahrungen die Unmöglichkeit belegen, die Namen solcher Täter „geheimzuhalten ».

C. Der Presserat beschloss an seiner Plenarsitzung vom 24. Januar 1994, unter berufsethischen Gesichtspunkten auf die Berichterstattung im „Blick » im Mordfall Dario C. vom 17. Dezember 1993 einzugehen. Er verwies die Angelegenheit an die 3. Kammer. Diese setzte sich zusammen aus Vizepräsident Martin Edlin, Denis Barrelet, Klaus Kocher, Marie-Therese Larcher, Christian Schwarz und Philippe Zahno.

D. Am 24. Februar 1994 richtete Presseratssekretär Martin Künzi diesbezüglich zwei Fragen an den Chefredaktor des „Blick », Fridolin Luchsinger:

– « Wie ist die „Blick »-Redaktion zu den Fotos des Täters und Dario gekommen? » – « Was hat die „Blick »-Redaktion dazu bewogen, den vollen Namen des Täters zu nennen und ihn im Grossformat auf der Titelseite des „Blick » abzubilden? »

E. Fridolin Luchsinger antwortete am 4. März 1994, er „sehe keine Veranlassung, die Fragen der 3. Kammer des Presserates zu beantworten ». Gleichzeitig fragte er, was unter „rubrizierter Berichterstattung unter berufsethischen Gesichtspunkten » zu verstehen sei.

F. Martin Künzi wies mit Schreiben vom 8. März 1994 Fridolin Luchsinger auf Ziff. 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte des Journalisten » (« Er respektiert die Privatsphäre des einzelnen, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt ») hin. Er machte den Chefredaktor des „Blick » ferner auf einen Artikel in der „Schaffhauser AZ » vom 18. Dezember 1993 aufmerksam, in welchem dem „Blick » vorgeworfen wird, er habe sich bei der Beschaffung persönlicher Daten des Mörders „unlauterer Methoden » bedient, was gegen Ziff. 4 der „Erklärung der Pflichten und Rechte des Journalisten » (« Er bedient sich bei der Beschaffung von Informationen, Fotografien und Dokumenten keiner unlauterer Methoden ») verstossen würde.

G. Am 21. März 1994 antwortete Fridolin Luchsinger: „Mein Mitarbeiter Hannes Heldstab, „Blick »-Redaktor im Büro Bern, bestreitet, dass er sich nicht korrekt am Telefon gemeldet hat. Er sagt auch, dass er seine Telefonnummer (« Blick »-Büro Bern) hinterlassen habe, damit er zurückgerufen werden kann. Ich habe keine Veranlassung, ihm nicht zu glauben. Unsere Reporter – dies noch zum Grundsätzlichen – müssen sich immer mit Namen und dem Hinweis auf „Blick » melden. »

H. Im Bericht der „Schaffhauser AZ » vom 18. Dezember 1993 heisst es: „Der Erwartungsdruck, unter den sich das Medium dabei setzt, ist so gross, dass man sich auch mal unlauterer Methoden bedient: Bei der Gemeinde Siblingen meldete sich ein „Blick »-Mitarbeiter mit „Hannes Heldstab, Büro Bern » und versuchte, an persönliche Daten heranzukommen. Ursula Müller, Zivilstandsbeamtin der Gemeinde, war vorsichtig genug, sich eine Rückrufnummer geben zu lassen. Es war eine „Blick »-Nummer, wie sie feststellen musste. »

I. Auf Anfrage führte der Verhörrichter des Kantons Thurgau, Daniel Jung, mit Schreiben vom 28. Juli 1994 aus, sowohl an der Medienkonferenz vom 14. Dezember 1993 wie auch in allen Presseauskünften sowie Radio- und TV-Interviews hätten er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bewusst nie den geständigen Beschuldigten mit Namen genannt. An der erwähnten Medienkonferenz habe er den Beschuldigten mit den Worten „35-jähriger ehemaliger Psychiatriepfleger aus Schaffhausen » umschrieben. Er habe alle an der Konferenz anwesenden Medienvertreter dar
um gebeten, den Täter in den Berichterstattungen nicht namentlich zu nennen. Ausser dem „Blick » hätten seines Wissens sämtliche Medien seine Bitte respektiert.

II. Erwägungen

1. Für die Beurteilung der „Blick »-Titelseite fällt in erster Linie Ziff. 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte des Journalisten » in Betracht, wonach die Privatsphäre des einzelnen zu wahren ist, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. In bezug auf ein allfälliges öffentliches Interesse kann zudem die Präambel herangezogen werden, in der „vom Recht der Öffentlichkeit auf Kenntnis der Tatsachen und Meinungen » die Rede ist. Schliesslich ist auch Ziff. 3 der „Erklärung » in Betracht zu ziehen (« Er unterschlägt keine wichtigen Elemente von Informationen »). Es stehen sich also der Anspruch auf Achtung der Privatsphäre und das Recht der Öffentlichkeit auf Kenntnis von Fakten gegenüber.

2. Die Ermordung eines 13jährigen Knaben stellt ohne Zweifel eine verwerfliche strafbare Handlung dar. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf zu wissen, wo und wie der Mord geschah, ob der Mörder verhaftet wurde, unter welchen Umständen er seine Tat gestand. Es liegt im öffentlichen Interesse mitzuteilen, dass der Mord aufgeklärt und der Täter verhaftet wurde. Auch Hinweise auf die Gründe für die Tat liegen im öffentlichen Interesse, sofern die Untersuchungsbehörden hierzu Angaben machen, die über sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen bzw. durch keine Fakten abgestützte Spekulationen hinausgehen.

3. Auch ein Mörder hat jedoch ein Recht auf Wahrung der Privatsphäre, so verwerflich und grausam seine Tat auch sein mag. Zu bedenken ist dabei auch, dass der Täter Angehörige haben kann, die mit seiner Tat nichts zu tun haben. Nach den allgemeinen Regeln zur Namensnennung bei der Gerichtsberichterstattung (vgl. dazu wie auch zu den nachfolgenden Ausführungen die entsprechende Stellungnahme des Presserates Nr. 7/94) untersagt die Respektierung der Privatsphäre des Täters deshalb die Nennung des Namens eines Täters. Im Gegenteil darf dieser aus den im Artikel gemachten Angaben keinesfalls identifizierbar sein. Im Einzelfall kann aus diesem Grund auch die blosse Nennung von Initialen riskant sein. Zu beachten ist diesbezüglich auch eine mögliche Verwechslungsgefahr.

4. Vom Grundsatz der Wahrung der Anonymität des Angeschuldigten bzw. Verurteilten darf nur in bestimmten Ausnahmefällen abgewichen werden. Der Presserat hat in der bereits erwähnten Stellungnahme Nr. 7/94 folgenden Katalog von Ausnahmen zusammengestellt:

a. wenn dies durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist;

b. ein solches ist insbesondere dann gegeben, wenn der Betroffene mit einem politischen Amt oder einer staatlichen Funktion betraut ist und wenn er beschuldigt wird, damit unvereinbare Handlungen begangen zu haben;

c. wenn eine Person in der Öffentlichkeit allgemein bekannt ist. Diese Ausnahme ist mit Zurückhaltung anzuwenden;

d. wenn der Betroffene seinen Namen im Zusammenhang mit dem Verfahren selber öffentlich macht oder ausdrücklich in die Veröffentlichung einwilligt.

e. wenn die Namensnennung notwendig ist, um eine für einen Dritten nachteilige Verwechslung zu vermeiden.

Vorliegend ist ein überwiegendes öffentliches Interesse an einer Namensnennung eindeutig zu verneinen, erweist sich doch die Bekanntgabe der Identität für eine umfassende Information der Öffentlichkeit keineswegs als notwendig. Ebensowenig handelt es sich beim Täter um eine Person des öffentlichen Lebens. Schliesslich wird von seiten des „Blick » auch nicht geltend gemacht, der Täter habe in die Veröffentlichung seines Namens eingewilligt.

An diesem Befund kann auch die mit Schreiben vom 4. August 1994 geäusserte Auffassung des Schaffhauser Untersuchungsrichteramtes nichts ändern, wonach einer Nennung der Namen von Täter und Opfer keine überwiegenden schutzwürdigen Interessen des Täters entgegenstünden. Eine Freigabe des Namens zur Publikation durch die zuständigen Untersuchungsbehörden kann zwar im Einzelfall durchaus ein Indiz für die Zulässigkeit einer Namensnennung darstellen. Dies entbindet die Medienschaffenden jedoch keineswegs davon, unter berufsethischen Gesichtspunkten zu prüfen, ob eine Namensnennung gerechtfertigt ist. Im Zeitpunkt der vorliegend in erster Linie interessierenden „Blick »-Berichterstattung war der Name des Täters von den Untersuchungsbehörden ohnehin nicht zur Publikation freigegeben worden.

5. Wenn schon eine Namensnennung nicht zulässig war, trifft dies für die Veröffentlichung des Bildes des Täters noch viel mehr zu. Wird in Betracht gezogen, welche Auswirkungen eine solche Publikation für die Angehörigen des Täters hat, wurden hier die Grenzen des noch Tolerablen von „Blick » bei weitem überschritten.

6. Der Presserat hat auf weitere Abklärungen bezüglich des im Raum stehenden Vorwurfs verzichtet, wonach „Blick » bei der Beschaffung des „Exklusiv-Fotos » Ziff. 4 der „Erklärung der Pflichten und Rechte » des Journalisten (« Er bedient sich bei der Beschaffung von Informationen, Fotografien und Dokumenten keiner unlauteren Methoden ») verletzt habe. Entsprechende genaue Abklärungen hätten die Möglichkeiten des Presserates überstiegen und zudem auch nicht seiner Aufgabe entsprochen. Der Presserat sieht seine Rolle nicht als diejenige einer „Medienpolizei », sondern vielmehr darin, Stellungnahmen zu grundsätzlichen Fragen journalistischer Berufsethik auszuarbeiten, um damit zu einer Debatte über berufsethische Fragen in den Redaktionen, aber auch in der Öffentlichkeit anzuregen. Weitere Abklärungen würden vorliegend nicht zur Erhellung einer grundsätzlichen berufsethischen Frage beitragen, liegt diese doch klar. Wer unter Verschleierung seiner Funktion als Journalist oder mit anderen unlauteren Methoden versucht, an persönliche Daten Dritter heranzukommen, verletzt Ziff. 4 der „Erklärung der Pflichten und Rechte des Journalisten » offensichtlich.

Nachdem „Blick »-Chefredaktor Fridolin Luchsinger bzw. sein Mitarbeiter Hannes Hellstab jedoch kategorisch bestreiten, unlautere Methoden verwendet zu haben, hat der Presserat angesichts seines Wissensstandes auf diese Aussagen abzustellen.

III. Feststellungen

1. Der „Blick » hat mit seiner Titelseite vom 17. Dezember 1993 Ziff. 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte des Journalisten » verletzt, da die Publikation von Namen und Foto des Mörders nicht durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt war, sondern sichtlich nur einzig der spektakulären Enthüllung diente.

2. Ungeachtet der Verwerflichkeit und Abscheulichkeit einer Tat haben auch ein Täter sowie seine indirekt betroffenen Angehörigen ein Recht auf Wahrung ihrer Privatsphäre. Es ist deshalb unter berufsethischen Gesichtspunkten unzulässig, einen Täter unter den gegebenen Umständen in dieser Weise an den Pranger zu stellen. Auch für eine Boulevard-Zeitung gelten die berufsethischen Regeln.

3. Selbst wenn Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall einen Namen zur Publikation freigeben, entbindet dies Medienschaffende nicht von der Pflicht, ihrerseits nach berufsethischen Kriterien zu prüfen, ob eine Namensnennung gerechtfertigt ist.

Vollständigkeit der Information (CCHR Schweiz c. „Cash »)

Stellungnahme des Presserates Nr. 9/94 vom 7. November 1994

Aus Ziff. 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte des Journalisten » kann nicht abgeleitet werden, dass bei einer Berichterstattung über ein Medikament unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten immer sämtliche medizinischen Meinungen wiederzugegeben sind, um der berufsethischen Forderung einer vollständigen Berichterstattung zu genügen. Vielmehr ist es aus berufsethischer Sicht durchaus möglich, sich auf eine Berichterstattung über einzelne Aspekte eines Themas zu beschränken.

Wer sich bei der Berichterstattung über einen medizinischen Gegenstand auf dessen wirtschaftliche Aspekte beschränkt,
hat jedoch darauf achtzugeben, dass der medizinische Aspekt nicht verkürzt und ungenau wiedergegeben wird.