Nr. 54/2008
Namensnennung

(X. c. «Beobachter») Stellungnahme des Presserates vom 25. November 2008

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Zusammenfassung

Resumé

Riassunto

I. Sachverhalt

A. In der Nummer 11/2008 vom 28. Mai 2008 berichtete Thomas Angeli im «Beobachter» unter dem Titel «KBV – Über erfundene Kunden gestolpert» über angebliche Machenschaften der Chefs der Krankenkasse KBV, welche im Jahr 2004 zum Zusammenbruch der Kasse mit einem Schaden von 94 Millionen geführt hätten (so der Untertitel). Ende Juni 2003 habe eine Delegation der Kasse bei der Bezirksanwaltschaft Winterthur vorgesprochen und dort einen Diebstahl angezeigt, da rund 2000 Versichertendossiers verschwunden seien. In Wirklichkeit habe es sich um ein Ablenkungsmanöver gehandelt und zweieinhalb Monate später hätten vier Verdächtige in Untersuchungshaft gesessen, nämlich der Chef der Kasse, der Finanzchef, der Marketingchef sowie der Schadenchef. Sie seien in der Anklageschrift der mehrfachen Veruntreuung, des Betrugs, der mehrfachen Urkundenfälschung und Geldwäscherei, zwei der Beschuldigten ausserdem der Irreführung der Rechtspflege beschuldigt.

Alle vier inhaftierten und gemäss Berichterstattung angeklagten Personen sowie der offenbar nicht angeklagte Verwaltungsrat, der die zwei Mitglieder der Geschäftsleitung zur Bezirksanwaltschaft begleitete, wurden vom «Beobachter» zum Teil mehrfach mit Vor- und Nachnamen genannt. Konkret wird den vieren vorgeworfen, sie hätten in den Jahren 2000 bis 2002 mit kriminellen Machenschaften aus dem Risikoausgleichsfonds der Schweizer Krankenversicherer insgesamt über 27 Millionen Franken erschlichen, wovon 18 Millionen in die Kasse der KBV flossen, rund 9,5 Millionen aber in die Taschen der genannten Geschäftsleitungsmitglieder, «exakt brüderlich durch vier geteilt». Unmittelbar anschliessend fährt der Artikel fort: «Die vier Angeklagten, für die bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung gilt, wussten laut Anklageschrift mit dem Geld etwas anzufangen.» Die Zeitschrift berichtet sodann ausführlich über die den Angeschuldigten vorgeworfenen Bereicherungen.

B. Am 3. Juni 2008 wandte sich der Rechtsvertreter von X., dem ehemaligen Finanzchef der mittlerweile konkursiten KBV Winterthur, brieflich an den «Beobachter». Er forderte eine Erklärung dafür, weshalb sein Mandant im obengenannten Medienbericht «in persönlichkeitsverletzender Weise mit vollem Namen» und der früheren beruflichen Funktion erwähnt worden sei.

C. In seiner Antwort vom 4. Juni 2008 rechtfertigte der Chefredaktor des «Beobachter», Balz Hosang, die Namensnennung mit einem überwiegenden öffentlichen Interesse. Das KVG schaffe ein Versicherungsobligatorium. Entsprechend sei das öffentliche Interesse an der Geschäftsführung der einzelnen Kassen und ihrer Organe evident. Dies umso mehr, als durch das geschilderte Fehlverhalten der Funktionäre jedem Schweizer Krankenkassen-Versicherten Schaden zugefügt worden sei. Diesen Schaden habe der Beschwerdeführer nicht als Privatmann, sondern als Krankenkassenfunktionär verursacht. Im Übrigen habe jeder Interessierte aufgrund der verschiedenen Pressemitteilungen längst die Identität der Beschuldigten feststellen können.

D. Am 20. Juni 2008 beschwerte sich der weiterhin anwaltlich vertretene X. beim Presse-rat gegen die im erwähnten Artikel erfolgte mehrfache Nennung seines Namens (Richtlinie 7.6 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten»). Bis zur fraglichen Publikation des «Beobachter» sei er nie öffentlich erwähnt worden. Seit vier Jahren arbeite er mit besten Qualifikationen im Angestelltenverhältnis in ungekündigter Stellung und führe mit seiner Familie (Ehefrau und fünf Kindern) ein zurückgezogenes Privatleben. Die volle Namensnennung habe sowohl für ihn als auch für Teile seiner Familie schwerwiegende Folgen gehabt. So habe er aufgrund der Berichterstattung zwei Mandate verloren und zwei seiner Kinder seien in diesem Zusammenhang am Ar-beitsort belästigt worden.

E. Am 5. August 2008 wies der «Beobachter» die Beschwerde als unbegründet zurück. Alle vier Angeklagten würden mit gutem Grund namentlich und mit ihrer damaligen Funktion genannt, weil die Krankenversicherer aufgrund des gesetzlichen Obligatoriums eine ähnliche öffentliche Funktion erfüllten, wie die Suva oder die IV. Als Folge der geschilderten Machenschaften werde die Öffentlichkeit zur Kasse gebeten. Vom Konkurs der KBV seien ausserdem 115’000 Versicherte direkt betroffen gewesen. Diesen Schaden habe der Beschwerdeführer nicht als Privatmann, sondern nur in seiner öffentlichen Funktion als Krankenkassenfunktionär verursachen können. Bereits in seinen früheren Artikeln habe der «Beobachter» deshalb die Namen der Verantwortlichen genannt, auch denjenigen des Beschwerdeführers.

Zudem arbeite der Beschwerdeführer nicht im «Angestelltenverhältnis», sondern als Partner einer Unternehmensberatungsfirma. Er biete sich dort unter anderem für «Kontakte mit den Sozialversicherungspartnern (AHV, Krankenversicherern, Unfallversicherern usw.)» an. Die Nähe zum ursprünglichen Tätigkeitsfeld im Bereich der Sozialversicherungen sei weiterhin gegeben und damit auch das öffentliche Interesse.

F. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin an sowie Thomas Bein, Andrea Fiedler, Claudia Landolt Starck, Peter Liatowitsch, Daniel Suter und Max Trossmann.

G. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 25. November 2008 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Der Beschwerdeführer beanstandet zur Hauptsache die mehrfache Namensnennung. Gemäss der Richtlinie 7.6 zur «Erklärung» sollten grundsätzlich weder Namen noch andere Angaben veröffentlicht werden, die eine Identifikation durch Dritte ermöglichen. Ausnahmsweise ist die Namensnennung zulässig:

– bei einem überwiegenden öffentlichen Interesse (inhaltlich unbestimmte «Generalklausel»);

– bei Nennung eines politischen oder amtlichen Funktionsträgers, soweit das Delikt einen Bezug zu dieser Funktion hat;

– wenn Verwechslungsgefahr besteht, falls der Name nicht genannt wird;

– wenn die Person bereits allgemein bekannt ist – wobei meist die Medien im konkreten Fall für die Bekanntheit gesorgt haben, weshalb diese Ausnahme mit besonderer Zurückhaltung anzuwenden ist;

– bei ausdrücklicher Einwilligung des Betroffenen.

2. Die zuvor erfolgte namentliche Nennung in einem anderen Publikationsorgan stellt keinen Rechtfertigungsgrund dar (Stellungnahme 7/2005). Erst recht gilt dies für eine frühere Nennung durch dasselbe Medium. In der erwähnten Stellungnahme hielt der Presserat die Namensnennung bei einem Apotheker für gerechtfertigt. Dieser nehme zwar keine amtliche Funktion wahr, sei aber immerhin in einem zulassungspflichtigen Beruf in einem staatlichen Monopolbereich tätig. Analog zur namentlichen Berichterstattung über amtliche Funktionsträger erscheine deshalb eine Namensnennung bei derartigen Berufen «dann grundsätzlich gerechtfertigt, wenn der Betroffene eine leitende Stellung innehat». Ähnlich argumentierte der Presserat bereits in den früheren Stellungnahmen 66/2002 und 9/2003: «Danach ist eine Namensnennung ausnahmsweise dann zulässig, wenn es um eine Person in einer wichtigen gesellschaftlichen Stellung geht und der Gegenstand der Berichterstattung in engem Zusammenhang mit dieser Funktion steht.»

3. Die Güterabwägung zwischen der Wahrung der Privatsphäre des Beschwerdeführers und dem vom «Beobachter» geltend gemachten öffentlichen Interesse an der Nennung seines Namens fällt nicht leicht. Folgende Elemente sind zu berücksichtigen:

a) Die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Delikte stehen in direktem Zusammenhang mit seiner früheren Tätigkeit und wiegen gerade auch angesichts des grossen entstandenen Sch
adens schwer. Zumindest im Bereich der obligatorischen Grundversicherung nehmen die Krankenkassen eine delegierte öffentliche Aufgabe wahr. Sie sind in Bezug auf die Namensnennung deshalb ähnlich wie Staatsangestellte und in Monopolberufen Tätige zu behandeln. Ebenso ist die frühere berufliche Stellung des Beschwerdeführers als Finanzchef einer Krankenkasse mit über hunderttausend Versicherten mit einer leitenden Funktion in einer gesellschaftlich bedeutenden privatwirtschaftlichen Unternehmung vergleichbar.

b) Der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Beschwerdeführers durch die mehrfache Namensnennung wirkt sich vorliegend allerdings spürbar und schmerzhaft aus. Zwischen den in der Anklage vorgeworfenen Handlungen (2003/2004) und dem Zeitpunkt des Erscheinens des fraglichen Artikels liegt ein verhältnismässig langer Zeitraum, was die Rechtfertigung der Namensnennung in zweierlei Hinsicht beeinflussen kann. Zum einen nimmt die Unmittelbarkeit des öffentlichen Interesses unweigerlich mit zunehmender zeitlicher Distanz ab, kann sich also der «Beobachter» nicht mehr gleichermassen auf die Dringlichkeit der Information der Öffentlichkeit berufen, wie wenn nach verhältnismässig kurzer Zeit berichtet worden wäre. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass einem Anschuldigten auch im Falle einer Verurteilung eine reelle Chance zur sozialen Reintegration gegeben werden muss. Es kann nicht angehen, dass das Fortkommen des Verurteilten zusätzlich zur gerichtlichen Strafe durch eine verunglimpfende Berichterstattung erheblich erschwert wird.

c) Trotz des Zeitablaufs seit der Anklageerhebung war aber aufgrund der im Herbst 2008 bevorstehenden gerichtlichen Beurteilung nach wie vor ein aktueller Anknüpfungspunkt für die Berichterstattung gegeben. Hinzu kommt der vom «Beobachter» geltend gemachte Bezug zur aktuellen beruflichen Tätigkeit des Beschwerdeführers. Auch war längst öffentlich bekannt, welche Funktionen die angeschuldigten Kadermitarbeiter der Kasse inne hatten. Entsprechend war es für jeden Interessierten einfach, sich aus öffentlich zugänglichen Quellen darüber zu informieren, um wen es sich namentlich bei den Betroffenen handelte.

d) Unter Berücksichtigung all dieser Elemente kommt der Presserat bei einer Gesamtabwägung zum Schluss, die Namensnennung sei durch ein überwiegendes öffentliches Interesse – wenn auch knapp – abgedeckt gewesen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Der «Beobachter» hat die Ziffer 7 (Respektierung der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.

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