I. Sachverhalt
A. Unter dem Titel «Kind angeklebt – Mutter muss in Knast» und der Spitzmarke «Schockbilder» veröffentlichte «20 Minuten» am 5. Oktober 2010 eine Meldung über die Misshandlung eines Kindes. Der Lead lautet: «Die 18-jährige Jayla Hamm und ihr 19-jähriger Freund Corde Honea aus dem US-Bundesstaat Nebraska fanden es lustig, ihren zweijährigen Sohn an die Wand zu kleben. Der Richter war anderer Meinung.» Der Fall sei ans Licht gekommen, nachdem die Mutter die Bilder ihres Sohnes auf ihrer My-Space-Seite veröffentlicht und ein Freund darauf die Polizei eingeschaltet habe. Das Paar habe die Bilder des weinenden Kindes unter Drogeneinfluss gemacht. Der Bericht erschien sowohl online als auch in der Printausgabe. Letztere war mit einem Bild des an die Wand geklebten Kindes illustriert. Online veröffentlichte «20 Minuten» drei weitere Fotos. Auf sämtlichen Bildern ist das Gesicht des Kindes abgedeckt.
B. Am 7. Oktober 2010 beschwerte sich X. beim Presserat, die Berichterstattung von «20 Minuten» verstosse gegen Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Die Veröffentlichung des Bildes eines misshandelten Kindes stehe dem Gebot der Menschenwürde diametral entgegen. Selbst wenn die Berichterstattung über die beschriebene Misshandlung einem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit entspreche, gelte dies bestimmt nicht für die begleitenden Bilder. Diese dienten lediglich dazu, die Aufmerksamkeit der Leserschaft zu erhöhen und würden mit der Bezeichnung «Schockbilder» reisserisch umschrieben. «Sowohl hinsichtlich Grösse, Detaillierung als auch Beschreibung gehen die Bilder weit über das Notwendige hinaus.»
C. Am 15. November 2010 wies die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion von «20 Minuten» die Beschwerde als unbegründet zurück. Im beanstandeten Bericht gehe es in erster Linie um die Verurteilung der Eltern wegen der Misshandlung ihres Kindes. Die Bilder sollten der Leserschaft ermöglichen, sich ein Bild von der Tat zu machen. «20 Minuten» bestreite nicht, dass die Bilder den Leser betroffen machen, ihn erschüttern und hoffentlich auch Mitleid mit dem Kind erwecken. Das allein stelle aber noch keine Verletzung der Menschenwürde dar. Die Menschenwürde sei erst dann verletzt, wenn Menschen durch einen Artikel verunglimpft und in unnötiger, sachlich unbegründeter Weise in ihrem Menschsein herabgesetzt und so zu einem blossen Objekt degradiert würden. Die Bilder zeigten den Jungen aber gerade nicht als Objekt, sondern als ein Opfer, das von seinen eigenen Eltern in gemeiner Weise und einzig zu deren Belustigung missbraucht wurde. Zudem seien die gezeigten Bilder weit von «Schockbildern» entfernt, auf die sich die Richtlinie 8.3 zur «Erklärung» beziehe. Die Bilder zeigten weder Sterbende, Leidende noch Leichen.
D. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Klaus Lange, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider (Mitglieder) angehören.
E. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 17. Februar 2011 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. a) Gemäss Ziffer 8 der «Erklärung» sind Journalistinnen und Journalisten verpflichtet, die Menschenwürde und das Leid der Betroffenen zu respektieren. Zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und der Achtung der Menschenwurde der Opfer ist ständig abzuwägen (Richtlinien 8.1 und 8.3). Insbesondere sind sensationelle Darstellungen untersagt, welche Menschen zu blossen Objekten degradieren.
b) Der Presserat hat sich in der Stellungnahme 2/1998 unter anderem mit der Publikation von Bildern von Unglücksfällen und Verbrechen befasst. Er wies darauf hin, dass es für die Information des Publikums nicht notwendig ist, das gesamte Ausmass des Schreckens zu zeigen. «Wir sind nicht dazu da, dem Menschen jede Vorstellungskraft zu ersetzen.» (Ludwig Hasler im Presseratshearing zur Stellungnahme 2/1998). Medienschaffende müssten sich bei Bildern genauso wie bei Texten fragen: «Was muss ich zeigen?» und sorgfältig zwischen der Information der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsschutz sowie der Menschenwürde der Betroffenen abwägen.
2. Ausgehend von diesen Grundsätzen hält der Presserat die Veröffentlichung der Bilder des misshandelten Kindes bei einer sorgfältigen Abwägung zwischen dem öffentlichen Informationsinteresse und der Menschenwürde des Opfers für unverhältnismässig.
Selbstverständlich ist das abgebildete Kind – wie «20 Minuten» ausführt – in erster Linie ein Opfer. Gerade durch die Art und Weise, wie die Eltern das Kind behandelten, fotografierten und im Internet ausstellten, haben sie es jedoch zu einem wehrlosen Objekt degradiert. Und die unverhältnismässige Reproduktion der Bilder durch «20 Minuten» perpetuiert diese Blossstellung des Opfers und dessen Reduktion auf ein wehrloses Objekt noch zusätzlich.
Im konkreten Fall wirkt die Veröffentlichung der Bilder zudem auch gerade deshalb unnötig sensationell, weil es nach Auffassung des Presserates kein Foto braucht, um sich die Tat vorzustellen. Folgte man hingegen der Argumentation von «20 Minuten», die Veröffentlichung der Bilder habe lediglich dazu gedient, der Leserschaft zu ermöglichen, sich ein Bild von der Misshandlung zu machen, würde der Opferschutz dadurch zu wesentlichen Teilen seiner Substanz beraubt. Mit dem gleichen Argument könnte man es – ausser bei besonders abstossenden Schockbildern – generell rechtfertigen, Gerichtsberichte bei Gewaltverbrechen mit anonymisierten Tatbildern zu illustrieren.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen
2. «20 Minuten» hat am 5. Oktober 2010 mit der Illustration des Artikels «Kind angeklebt – Mutter muss in Knast» mit Bildern, das ein misshandeltes Kind als wehrloses Objekt zeigt, die Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Menschenwürde; Opferschutz) verletzt.