Nr. 47/2013
Menschenwürde

(X. c. «20 Minuten») Stellungnahme vom 21. August 2013

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Zusammenfassung

Täterbild war zulässig
Verletzt ein Bild, das einen Täter unmittelbar nach einem von ihm begangenen Anschlag zeigt, dessen Menschenwürde? Für den Presserat ist ein solches Bild zwar grenzwertig. Die konkrete Publikation wirkte aber nicht sensationalistisch und stellt den Täter nicht erniedrigend dar.

Bei einem Anschlag in London im Mai 2013 «köpften» zwei «Islamisten» auf offener Strasse einen Soldaten.  «20 Minuten» veröffentlichte darauf auf der Titelseite ein Agenturbild, das einen der Täter mit blutigen Händen und einem Beil sowie einem Messer in der linken Hand abbildet. Der Presserat weist eine gegen die Veröffentlichung dieses Bilds gerichtete Beschwerde ab.

Das Bild zeige keine Opfer und das Verbrechen weise weder einen lokalen noch regionalen Bezug auf. Deshalb sei kaum davon auszugehen, dass die Interessen der Angehörigen von Opfer und Tätern durch die Veröffentlichung massgeblich beeinträchtigt würden. Unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde des Täters erscheine es zwar fragwürdig, diesen unmittelbar nach seiner Tat mit der Tatwaffe gestikulierend zu zeigen. Das Bild wirke aber nicht sensationalistisch und erniedrige den Täter nicht. Zusammen mit dem Text dokumentiere es die beunruhigende Tatsache, dass eine solche Tat mitten auf der Strasse einer europäischen Hauptstadt geschehen könne. Das Bild trage – so schwer es auch anzuschauen sei – mithin Wesentliches zur Information bei. Allenfalls wäre zu prüfen, ob die Zeitung das Gesicht des Täters hätte unkenntlich machen sollen. Da die Beschwerde die Identifizierung nicht beanstandet, geht der Presserat auf diesen Aspekt nicht näher ein.

Résumé

La publication de la photo de l’auteur d’un crime était admissible
La publication d’une photo montrant l’auteur d’un crime de sang immédiatement après qu’il l’ait commis viole-t-elle sa dignité? Pour le Conseil de la presse, une telle image se situe certes à la limite du publiable. La photo ne revêt cependant pas de caractère sensationnel et ne présente par le criminel de façon avilissante.

Après un attentat à Londres en mai 2013, qui a vu deux «islamistes» décapiter un soldat en pleine rue, «20 Minuten» publie à la «Une» une photo d’agence montrant l’un des auteurs, les mains ensanglantées, tenant une hache et un couteau dans sa main gauche. Le Conseil de la presse rejette une plainte contre la publication de cette image.

La photo ne montre pas de victimes et n’établit aucun lien géographique avec la victime ou l’assassin. On ne peut  donc pas considérer que les intérêts des proches de la victime ou de l’auteur sont gravement touchés par la publication. Sous l’angle de la protection de la dignité humaine de l’auteur, il est certes problématique de montrer ce dernier gesticulant avec l’arme du crime une fois son acte commis. La photo n’a cependant rien de sensationnel et ne présente pas l’agresseur de manière avilissante. Elle met en évidence, complétant le texte, le fait inquiétant qu’un tel acte ait pu être accompli en pleine rue dans une capitale européenne. L’image, aussi dure soit-elle à regarder, contribue de façon essentielle à l’information. Il resterait à analyser si le visage de l’agresseur aurait dû être rendu méconnaissable par le journal. La plainte ne portant pas sur cette identification, le Conseil de la presse ne se penche pas sur cet aspect dans sa prise de position.

Riassunto

L’immagine dell’attentatore
La pubblicazione di una foto in cui è ritratto l’autore di un attentato subito dopo l’atto criminoso può essere una mancanza di rispetto dovuto alla dignità umana? Si è trattato di un caso-limite – afferma il Consiglio della stampa rispondendo a un reclamo – perché la pubblicazione non aveva un contenuto scandalistico e non intendeva esporre l’attentatore al pubblico disprezzo.

L’attentato era avvenuto a Londra nel maggio del 2013. Due islamisti avevano decapitato un militare britannico sulla pubblica strada. «20 Minuten» aveva pubblicato in prima pagina una foto d’agenzia dove si vede l’attentatore che stringe ancora nelle mani insanguinate la roncola con la quale aveva commesso l’atto criminale. Ma il reclamo contro tale pubblicazione è stato respinto.

Nella foto la vittima non si vede, il delitto d’altra parte non aveva una connotazione locale. Si può dunque ritenere che i congiunti, tanto della vittima quanto dell’attentatore, non siano stati apertamente offesi dalla pubblicazione. Dal profilo della dignità umana è certamente problematico mostrare un assassino che gesticola con l’arma in pugno a così breve distanza dal delitto. Ma la foto era un puro documento, non aveva un contenuto sensazionalistico e non era intesa a mettere alla gogna il colpevole. D’altra parte, testo e foto dimostrano una verità inquietante: una simile azione può essere commessa in una strada qualunque di una qualunque capitale occidentale. Il contenuto informativo dell’informazione era perciò evidente. Si sarebbe potuto, eventualmente, velare con un trattino il volto del colpevole: ma il reclamo non accenna al problema dell’identificazione e il Consiglio della stampa non è entrato in materia su questo punto.


I. Sachverhalt


A.
Am 23. Mai 2013 berichtete «20 Minuten» auf der Frontseite (mit Fortsetzung des Textes auf Seite 3) unter dem Titel «Islamisten köpfen Mann mitten in London» über den dramatischen Überfall zweier «Islamisten», die «auf offener Strasse mit Hackmessern und Macheten einen Soldaten geköpft» hätten. Die Polizei habe die beiden Täter in der Folge mit Schüssen niedergestreckt. Die Titelseite zeigt ungefähr halbseitengross ein offenbar ursprünglich vom Fernsehsender ITV stammendes farbiges Agenturbild, das einen der Täter mit blutigen Händen und einem Beil sowie einem Messer in seiner linken Hand abbildet. Die Bildlegende lautet: «Einer der mutmasslichen Täter erklärt einem Passanten das Motiv der Untat: ‹Wir werden nie aufhören, euch zu bekämpfen.›»

B. Am 24. Mai 2013 beschwerte sich X. beim Schweizer Presserat und beanstandete, das Farbbild auf der Titelseite sei «unverhältnismässig». Die Bildsprache sei «unmissverständlich menschenverachtend, respektlos» und gehe zumindest auf einer Frontseite eindeutig zu weit. «20 Minuten» liege überall und ohne Altersbeschränkung gratis auf und liege, einmal gelesen, im öffentlichen Raum herum. Gerade für Kinder und Jugendliche seien solche Bilder aus medienpädagogischer Sicht sehr schädlich.

Mit der Veröffentlichung des Bildes habe «20 Minuten» die Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Menschenwürde) respektive die zugehörigen Richtlinien 8.1 (Achtung der Menschenwürde), 8.3 (Opferschutz) und 8.5 (Bilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen) verletzt.

C. Am 27. Juni 2013 beantragte die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion von «20 Minuten», die Beschwerde sei abzuweisen. Die Öffentlichkeit habe einen Anspruch gehabt, über die Tat informiert zu werden und das inkriminierte Bild sei «schon vorgängig weltweit gezeigt» worden. Es habe innert kürzester Zeit im Internet kursiert, auf das gerade Jugendliche besonders häufig zugriffen. Durch das Bild – welches lediglich den Täter nach seiner Tat zeige – seien keine Menschen zu blossen Objekten degradiert worden. Ebenso wenig seien auf dem Bild Sterbende, Leidende oder Leichen zu sehen.

D. Der Presserat wies die Beschwerde der 3. Kammer zu, der Max Trossmann (Kammerpräsident), Marianne Biber, Jan Grüebler, Matthias Halbeis, Peter Liatowitsch, Markus Locher und Franca Siegfried angehören.

E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 21. August 2013 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Ziffer 8 der «Erklärung» auferlegt Medienschaffenden, die Menschenwürde zu respektieren und diskriminierende Anspielungen zu unterlassen. Weiter heisst es: «Die Grenzen der Berichterstattung in Text, Bild und Ton über Kriege, terroristische Akte, Unglücksfälle und Katastrophen liegen dort, wo das Leid der Betroffenen und die Gefühle ihrer Angehörigen nicht respektiert werden.» Die zugehörige Richtlinie 8.1 sagt dazu: «Die Informationstätigkeit hat sich an der Achtung der Menschenwürde zu orientieren. Sie ist ständig gegen das Recht der Öffentlichkeit auf Information abzuwägen. Dies gilt sowohl hinsichtlich der direkt betroffenen oder berührten Personen als auch gegenüber der gesamten Öffentlichkeit.»

Die Richtlinie 8.3 stellt den Opferschutz ins Zentrum: Die Berichterstattung hat sorgfältig zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information «und den Interessen der Opfer und der Betroffenen» abzuwägen. Untersagt sind sensationelle Darstellungen, «welche Menschen zu blossen Objekten degradieren»: «Als sensationell gilt insbesondere die Darstellung von Sterbenden, Leidenden und Leichen, wenn die Darstellung in Text und Bild hinsichtlich detailgetreuer Beschreibung sowie Dauer und Grösse der Einstellungen die Grenze des durch das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit Gerechtfertigten übersteigt.»

Weiter betont die Richtlinie 8.5, Bilder von «Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen müssen die Menschenwürde respektieren und darüber hinaus die Situation der Angehörigen der Betroffenen berücksichtigen, dies gilt besonders im Bereich der lokalen und regionalen Information».

2.
Bei Betrachtung des Bildes stellt der Presserat zunächst fest, dass dieses keine Opfer zeigt. Zudem hat das Verbrechen weder einen lokalen noch einen regionalen Bezug. Selbst wenn «20 Minuten» mit seiner Onlineausgabe weltweit abgerufen werden kann, ist deshalb kaum davon auszugehen, dass die Interessen der Opfer und deren Angehöriger sowie der Angehörigen der Täter von London durch die Veröffentlichung des Bildes massgeblich beeinträchtigt werden. Eine Verletzung des Opferschutzes ist für den Presserat deshalb zu verneinen.

3. a) Näher zu prüfen ist demgegenüber, ob die Veröffentlichung des Bildes die Menschenwürde des darauf abgebildeten Täters verletzt. Dabei ist der Einwand der Beschwerdegegnerin, das Bild sei «schon vorgängig weltweit gezeigt» worden, nicht massgeblich. Die Redaktion «20 Minuten» war ungeachtet allfälliger fehlerhafter Entscheide anderer Medien verpflichtet, in eigener Verantwortung zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und dem Schutz der Menschenwürde des abgebildeten Täters abzuwägen.

b) Bejaht hat der Presserat eine Verletzung der Menschenwürde in der Stellungnahme 15/2005 bei einem schockierenden Bild, das den abgetrennten Kopf einer jungen palästinensischen Selbstmordattentäterin zeigt.

Für den Presserat ist das von «20 Minuten» veröffentlichte Bild in Bezug auf die Respektierung der Menschenwürde allerdings nicht mit demjenigen der palästinensischen Selbstmordattentäterin vergleichbar. Zwar erscheint es ebenfalls fragwürdig, einen Täter unmittelbar nach der Tat zu zeigen, wie er mit seiner blutigen rechten Hand gestikuliert und zwei Tatwaffen – ein Messer und ein Beil – in seiner ebenfalls blutbefleckten linken Hand hält. Im Gegensatz zum reinen Schockbild der Selbstmordattentäterin, das in keinerlei Zusammenhang zum umgebenden Text stand, wird das aktuelle Bild durch die Bildlegende und den zugehörigen Text erläutert und ergänzt. Und auch wenn die Publikation des Bildes grenzwertig erscheint und die Grenzen des guten Geschmacks strapaziert, wirkt es nicht sensationalistisch und stellt den Täter nicht in erniedrigender Weise dar. Im Gegenteil dokumentiert das Bild die beunruhigende Tatsache, dass eine solche Tat mitten auf der Strasse einer europäischen Hauptstadt (und beliebten Touristenattraktion) geschehen kann. Das Bild trägt damit – so schwer es auch anzuschauen ist – Wesentliches zur Berichterstattung bei.

Im Ergebnis verneint der Presserat deshalb eine Verletzung der Ziffer 8 der «Erklärung». Hingegen wäre unter dem Gesichtspunkt der Ziffer 7 der «Erklärung» (Identifizierung) allenfalls zu prüfen, ob «20 Minuten» das Gesicht des Täters hätte verpixeln oder mit einem Balken abdecken, ihn also hätte anonymisieren sollen. Da der Beschwerdeführer die Identifizierung des Täters jedoch nicht beanstandet, geht der Presserat nicht auf diesen Aspekt ein.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. «20 Minuten» hat mit der Veröffentlichung des Bildes eines der Täter nach einem Anschlag in London («Islamisten köpfen Mann Mitten in London», Ausgabe vom 23. Mai 2013) die Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Menschenwürde) nicht verletzt.