I. Sachverhalt
A. Am 6. Mai 2012 berichtete «Der Sonntag» in der Politklatschspalte «Newsroom» über ein Gespräch zwischen Filippo Leutenegger und Christoph Blocher, das in einem Intercity-Zug zwischen Zürich und Bern stattgefunden habe. Der vollbesetzte Zug habe die beiden Politiker nicht davon abgehalten, sich «vernehmlich» über die «Basler Zeitung» zu unterhalten. «Ein Thurgauer Journalist, der in der Nähe sass, wurde zum Zwangshörer und merkte schnell, dass die beiden Parlamentarier nicht nur über ‹Bauliches› redeten (…). Sondern auch über Personalia. Namen waren allerdings nicht auszumachen. Klar wurde einfach, dass Leutenegger den einen oder anderen Redaktor erwähnte, worauf Blocher bei dem einen riet, ihn zu fördern und beim andern empfahl: ‹Zurückbinden!›»
B. Am 19. Mai 2012 veröffentlichte die «Solothurner Zeitung» – in der vergleichbaren Rubrik «Aufgeschnappt» – eine Kurzmeldung über die Zeitschrift «Schweizer Soldat». Diese habe jüngst die Secondos in der Armee gelobt und sie als «tüchtige Kader» bezeichnet. «So weit ein schöner Artikel, meinte ein Sprecher von Ueli Maurers Verteidigungsdepartement (VBS) gestern im Zug zu seinem Sitznachbarn. Nur behaupte der Autor, der Anteil abgewiesener Secondos beim Sicherheitscheck für Rekruten sei laut ‹ersten Erhebungen› auffällig hoch; vielen werde keine Waffe anvertraut. Noch mehr ärgerte sich der VBS-Angestellte darüber, dass der Artikel einen AZ-Journalisten auf das Thema aufmerksam machte. Aufgrund von dessen Recherche habe der Autor ein Geständnis ablegen müssen. Eine Erhebung zu abgewiesenen Secondos existiere gar nicht.»
C. Am 23. Mai 2012 beschwerte sich der ehemalige Präsident der Vereinigung der Bundeshausjournalisten beim Presserat über die beiden Kurzmeldungen. Die Frage stelle sich, ob es zu den Methoden des Hauses AZ-Medien gehöre, «im Zug per Zufall (oder mit Absicht) mitgehörte Gespräche systematisch zu veröffentlichen» und ob dieses Vorgehen nicht gegen die Ziffern 4 (Lauterkeit der Recherche) und 7 (Respektierung der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstosse.
D. Am 23. Juni 2012 wies Chefredaktor Patrik Müller die Beschwerde namens der Redaktion «Der Sonntag» als unbegründet zurück. Die Redaktion sei von einem bei einem anderen Unternehmen angestellten Journalisten, der im Zug sass und «Zwangszuhörer» des Gesprächs Blocher/Leutenegger war, auf «diese doch ungewöhnliche Unterhaltung coram publico aufmerksam gemacht worden». Der Journalist habe nämlich live aus dem Zug über das Gespräch getwittert. Darauf habe sich der Redaktor von «Sonntag» beim betreffenden Journalisten gemeldet und ihn über die Situation befragt. Gestützt darauf habe der Redaktor die Splittermeldung geschrieben. Es sei nicht unlauter, ein in einem vollen Zug geführtes lautes Gespräch zweier öffentlich bekannter Personen in einer Splittermeldung zum Thema zu machen.
Ebenso wenig verletze die Veröffentlichung der Meldung die Privatsphäre von Christoph Blocher und Filippo Leutenegger. «Es handelt sich um zwei Personen des öffentlichen Interesses, die sehr wohl wissen, dass sie damit rechnen müssen, ‹Zwangszuhörer› zu haben – und dass gerade im Zeitalter der Social Media solche Gespräche auch den Weg in die Öffentlichkeit finden können.» Ziffer 7 der «Erklärung» sei auch darum nicht verletzt, weil der Inhalt des Gesprächs wenig brisant und schon gar nicht persönlichkeitsverletzend sei.
E. Ähnlich argumentiert Chefredaktor Christian Dorer für den Medienverbund AZ in seiner Stellungnahme vom 10. Juli 2012. Es sei nicht unlauter, ein in einem vollen Zug morgens um halb acht zwischen Zürich und Bern geführtes lautes Gespräch zum Thema zu machen. Zumal die Meldung substanziell keine heiklen Inhalte enthalte. Die Privatsphäre des fraglichen VBS-Angestellten sei nicht verletzt, weil weder der Name noch die genaue Funktion erwähnt werde.
F. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Francesca Snider (Kammerpräsidentin), Michael Herzka, Pia Horlacher, Klaus Lange, Francesca Luvini, Sonja Schmidmeister und David Spinnler (Mitglieder) angehören.
G. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 6. Dezember 2012 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Zunächst ist zu prüfen, ob die beiden Zeitungen mit der vom Beschwerdeführer beanstandeten Veröffentlichung der Kurzmeldungen die Ziffer 4 der «Erklärung» (Lauterkeit der Recherche) verletzt haben. Vorliegend hat der «Sonntag» die publizierte Information nicht selber recherchiert. Vielmehr wurde diese durch einen anderen Journalisten getwittert. Demgegenüber hat im zweiten Fall offenbar ein Journalist der «Aargauer Zeitung» die Informationen selber mitgehört.
Weder «Der Sonntag» noch die «Solothurner Zeitung» haben aber unlautere Methoden eingesetzt, um an die Informationen zu gelangen. Wer in einem Zug mit anderen Passagieren sitzt und zufällig Gespräche von Mitpassagieren mithört, ist weder verpflichtet, sich als Journalist vorzustellen (Richtlinie 4.1 – Verschleierung des Berufs) noch ist das passive Mithören als verdeckte Recherche im Sinne der Richtlinie 4.2 zur «Erklärung» zu werten. «Der Sonntag» und die «Solothurner Zeitung» haben deshalb die Ziffer 4 der «Erklärung» nicht verletzt.
2. a) Näher zu prüfen ist hingegen die vom Beschwerdeführer in den Raum gestellte Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» (Privatsphäre). Wer in der Öffentlichkeit für Dritte wahrnehmbare Gespräche über Privatangelegenheiten oder Geschäftliches führt, willigt damit nicht automatisch ein, dass diese Informationen medial weiterverbreitet werden. Medien dürfen nicht alles, was öffentlich wahrnehmbar ist oder was Journalisten im öffentlichen Raum zufälligerweise mitbekommen, voraussetzungslos weiterverbreiten (Stellungnahmen 1 und 43/2010). Mithin dürfen Journalistinnen und Journalisten zufällig im Zug mitgehörte Gesprächsinhalte nicht einfach beliebig weiterverbreiten.
b) Die Richtlinie A.1 der «Erklärung der Rechte» knüpft die Veröffentlichung von Informationen, die Medien durch Indiskretionen bekannt geworden sind, an eine Reihe von Voraussetzungen: Die Informationsquelle muss dem Medium bekannt sein; das Thema muss von öffentlicher Relevanz sein; es muss gute Gründe dafür geben, dass die Information jetzt und nicht erst viel später publik werden soll; der Vorteil im publizistischen Wettbewerb genügt nicht als Rechtfertigung; es muss erwiesen sein, dass das Thema oder Dokument dauerhaft als geheim klassifiziert oder als vertraulich deklariert wird und es nicht bloss einer kurzen Sperrfrist von einigen Stunden oder Tagen unterliegt; die Indiskretion durch die Informantin oder den Informanten muss absichtlich und freiwillig erfolgt sein, die Information darf nicht durch unlautere Methoden (Bestechung, Erpressung, Wanzen, Einbruch oder Diebstahl) erworben worden sein; die Veröffentlichung darf keine äusserst wichtigen Interessen wie z.B. schützenswerte Rechte, Geheimnisse usw. tangieren.
c) Nach Auffassung des Presserats sind diese Voraussetzungen vorliegend erfüllt. Bei den von den beiden Zeitungen kolportierten Gesprächen geht es inhaltlich nicht um reine Privatangelegenheiten. Die Frage, welche Rolle Christoph Blocher bei der «Basler Zeitung» spielt und ob er Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung und die Zusammensetzung der Redaktion nimmt, ist seit längerem Gegenstand einer öffentlichen Kontroverse (Stellungnahme 34/2011). Ebenso ist es von öffentlicher Relevanz, wenn dem «Schweizer Soldat» vorgeworfen wird, sich in einem Artikel auf eine nicht existierende Erhebung zu berufen.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. «Der Sonntag» («Newsroom» vom 6. Mai 2012) und die «Solothurner Zeitung» («Aufgeschnappt» vom 19. Mai 2012) haben die Ziffern 4 (Lauterkeit der Recherche) und 7 (Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.