I. Sachverhalt
A. Am 19. Februar 2004 veröffentlichte die «WochenZeitung» (nachfolgend WoZ) einen Artikel von Jürg Frischknecht mit dem Titel «Sigi Widmers letztes Ei». Der Obertitel lautete: «Paul Grüninger. Die ÐNZZ am Sonntagð hilft, den Fluchthelfer zu verleumden». Darin bezog sich Frischknecht auf eine zuvor am 8. Februar 2004 in der «NZZ am Sonntag» erschienene Besprechung Urs Raubers einer in der Schriftenreihe der «Rechtsaussenvereinigung» Pro Libertate erschienenen Broschüre von Shraga Elam mit dem Titel «Paul Grüninger – Held oder korrupter Polizist und Nazi-Agent?». Frischknecht warf der «NZZ am Sonntag» vor, sie habe mit dieser lobenden Besprechung die längst widerlegten unbewiesenen und verleumderischen Thesen Elams weiterverbreitet, wonach Grüninger angeblich als korrupter Polizist im Dienste von Nazi-Deutschland gestanden habe. Als möglichen Grund dieser Publizität durch die «NZZ am Sonntag» erwähnte die WoZ, der verstorbene frühere Stadtpräsident Sigi Widmer habe die Publikation des Manuskripts von Elam bei der Pro Libertate eingefädelt. Sigi Widmer sei zudem der Schwiegervater des Chefredaktors der «NZZ am Sonntag», Felix E. Müller, gewesen.
B. Ebenfalls auf die Besprechung von Elams Broschüre durch Urs Rauber in der «NZZ am Sonntag» reagierte das jüdische Wochenmagazin «Tachles». Darin ging Gisela Blau am 5. März 2004, ähnlich wie Jürg Frischknecht in der WoZ, vor allem der Frage nach, warum Elams Thesen dank dieser Rezension wieder «aufgewärmt» worden seien und welche Zeitungen sich in der Folge darauf eingelassen hätten. Ebenfalls zu Wort kamen Felix E. Müller, der sich zu der Rezension seines Mitarbeiters äussern konnte, und, in Kästchenform, Stefan Keller mit einem Leserbrief an die «NZZ am Sonntag», der von dieser nicht abgedruckt worden war. Schliesslich wurde auch der Historiker Georg Kreis im Artikel von Gisela Blau in «Tachles» auszugsweise zitiert. Dieser hatte zuvor am 26. Februar 2004 in der WoZ eine Entgegnung zu Elams Thesen mit dem Titel «Die Motive des Motivforschers» veröffentlicht.
C. Am 2. Mai 2004 gelangte Shraga Elam mit einer Beschwerde gegen die beiden Artikel – von Jürg Frischknecht in der WoZ und von Gisela Blau in «Tachles» – an den Presserat. Er und seine Befunde seien in beiden Medienberichten «verunglimpft» worden, ohne dass die beiden schreibenden Personen sich die Mühe genommen hätten, seine Befunde und Interpretationen «sachlich und inhaltlich zu widerlegen». Seine zentralen Fragen seien überhaupt nicht behandelt und auf die Einholung seiner Stellungnahme sei ganz verzichtet worden. Damit hätten WoZ und «Tachles» die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht) und 3 (Unterschlagung wichtiger Information) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Im Falle von «Tachles» komme noch eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» hinzu (Unterlassung nicht gerechtfertigter Anschuldigungen). Gisela Blau habe ihn als «Geschichtsrevisionisten» bezeichnet, was in der Öffentlichkeit mittlerweile mit Holocaust-Leugnung gleichgesetzt werde. Ausserdem habe sie ihn abschätzig als «Hobbyjournalisten und Hobbyhistoriker» betitelt.
D. In einer Stellungnahme vom 2. Juni 2004 wies Urs Bruderer die Beschwerde namens der WoZ als unbegründet zurück. Jürg Frischknecht habe «die historischen Methoden Elams differenziert, konkret und nachvollziehbar kritisiert.» Shraga Elam habe mit seiner Publikation einmal mehr einen «auf übel wollenden Gerüchten und Agentenklatsch» beruhenden alten Verdacht aufgewärmt.
E. Mit Schreiben vom 11. Juni 2004 bewertete Gisela Blau namens von «Tachles» die Beschwerde ebenfalls als haltlos. Ihr sei es in ihrem Artikel nicht um die Broschüre von Shraga Elam, sondern vielmehr um den publizistischen Umgang mit diesem Text gegangen. Deshalb habe sie ihn vor der Veröffentlichung deklariertermassen nicht angehört. Sie habe Shraga Elam keineswegs als Holocaust-Leugner betitelt. Dagegen habe sie ihn schon früher mehrmals als «Hobbyjournalisten» und «Amateurhistoriker» bezeichnet, wogegen er sich nun jedoch zum ersten Mal wehre. Beide Begriffe seien jedenfalls nicht abschätzig gemeint und zudem sachlich zutreffend.
F. Am 16. Juni 2004 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde von der 1. Kammer behandelt, bestehend aus Franco Ballabio, Luisa Ghiringelli Mazza, Pia Horlacher, Kathrin Lüthi, Philip Kübler, Edy Salmina und Peter Studer (Präsident).
G. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 18. Juni 2004 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Der Presserat hat bereits in der Stellungnahme 34/2004 – dort ging es um den oben erwähnten Artikel von Urs Rauber in der «NZZ am Sonntag» – daran erinnert, dass es nicht seine Aufgabe ist, zu historischen Kontroversen Stellung zu nehmen. Er verfügt auch nicht über die hiefür benötigten Mittel.
Deshalb äussert sich auch diese Stellungnahme weder zu den von Shraga Elam in seiner Broschüre vertretenen Thesen, noch zu der daraus entstandenen öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Historiker Stefan Keller und Exponenten der Bergier-Kommission. Soweit der Beschwerdeführer rügt, seine Recherchen, Befunde und Interpretationen zum Fall Grüninger seien verunglimpft worden sowie WoZ und Tachles hätten sich nicht die Mühe genommen, seine Arbeit sachlich und inhaltlich zu widerlegen, tritt der Presserat entsprechend nicht auf die Beschwerde ein.
Zu prüfen hat der Presserat hingegen zwei weitere Rügen Shraga Elams: Erstens habe die WoZ mit ihrer Kritik an seinen Thesen die Grenzen der Kommentarfreiheit überschritten. Zweitens habe «Tachles» mit der Verwendung des Begriffs «Geschichtsrevision» sowie mit der Bezeichnung Elams als «Hobby-Journalist» und «Amateur-Historiker» sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen erhoben. Zu behandeln ist schliesslich auch die zumindest implizit gegenüber beiden Medien geltend gemachte Verletzung der Anhörungspflicht bei schweren Vorwürfen.
2. a) Nach Auffassung des Beschwerdeführers hat die WoZ insbesondere mit folgenden Passagen die Grenzen der Kommentarfreiheit überschritten: «Elam zitiert fleissig aus Polizei- und Justizakten und zieht munter Folgerungen, die durch die präsentierten Zitate nicht oder ungenügend gedeckt sind (…) Ohne Beleg fantasiert Elam weiter, die Nazis hätten wohl Ðeinem wichtigen aufgeflogenen Agentenð eine alternative Anstellung angeboten. (…) Es lohnt sich, nicht nur diese Seite 25 einmal vor- und einmal rückwärts zu lesen und selbst zu prüfen, wie weit Elams Schlüsse durch die gerade präsentierten Indizien und Beweisstücke gedeckt sind oder eben nicht. Was einem bald einmal zum eigenen Schluss führt, dass sich die Broschüre hervorragend als Fallbeispiel für eine lehrreiche Übung in der Journalistenausbildung eignen würde. Wie fabriziere ich mit richtigen Zitaten ein möglichst schiefes Bild einer Person?»
b) Der Presserat hat in seinen Stellungnahmen zur Kommentarfreiheit wiederholt darauf hingewiesen, dass sich ein Kommentar in den Grenzen des berufsethisch Zulässigen bewegt, wenn sowohl die Wertung wie die ihr zugrundeliegenden Fakten für das Publikum erkennbar sind, und wenn sich die Wertung zudem auf eine genügende sachliche Grundlage stützt (vgl. zuletzt die Stellungnahmen 12, 19 und 20/2004 mit weiteren Hinweisen).
c) Aus Sicht des Presserates hat sich die WoZ in den beanstandeten Passagen an die beschriebenen Grenzen der Kommentarfreiheit gehalten. Für die Leserschaft sind die Wertungen das Autors – «Folgerungen, die durch die präsentierten Zitate nicht oder ungenügend gedeckt sind»; «ohne Beleg fantasiert Elam», «Broschüre als Fallbeispiel etc.» – ohne weiteres als solche erkennbar. Ebenso macht Jürg Frischknecht transparent, auf welche Fakten er s
eine Wertungen stützt. Ob diese angemessen oder wie von Shraga Elam geltend gemacht verleumderisch sind, ist wie oben ausgeführt vom Presserat nicht zu prüfen. Jedenfalls erscheint es zumindest nicht verwunderlich, wenn die vom Beschwerdeführer scharf kritisierten Historiker der Bergier-Kommission und weitere Kreise mit ebensolcher Kritik auf seine provokativen Thesen reagieren.
3. Ziffer 7 der «Erklärung» gebietet den Journalistinnen und Journalisten, sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen zu unterlassen. Shraga Elam sieht derartige Anschuldigungen in zwei Bereichen:
a) Auf der Titelseite vom 5. März 2004 wies «Tachles» mit der Schlagzeile «Publizistischer Umgang mit Geschichtsrevision – Paul Grüningers letzte Schlacht» auf den Artikel von Gisela Blau hin. Der Haupttitel des Beitrags im Innern lautete: «Geschichtsrevision und Paul Grüninger». Im Lauftext schrieb Blau: «Auf den Inhalt der neuesten Elam-Publikation wird ÐTachlesð hier nicht eingehen. Unter anderem geht ÐTachlesð mit einem schweizerischen Gericht einig, das in einem Urteil gegen einen Holocaust-Leugner festgehalten hat, hinlänglich dokumentierte Tatsachen wie der Holocaust stünden nicht mehr zur Diskussion. Dies gilt auch für Grüninger. Seit Jahren versucht Elam, Grüninger als korrupten Naziagenten zu enttarnen».
Zwar mutet es fragwürdig an, die Holocaust-Tatsache mit Tatsachen rund um den Fall Grüninger zu vergleichen und einen Zweifler an Grüningers Rettungsleistung als Geschichtsrevisionisten zu bezeichnen. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann der Artikel von «Tachles» von einer unbefangenen Leserschaft aber trotzdem nicht dahin missverstanden werden, er, Shraga Elam, sei ein Holocaust-Leugner. Der Begriff «Geschichtsrevisionist» ist – wie auch der Beschwerdeführer einräumt – ziemlich offen. Zudem ist den Ausführungen von Gisela Blau eindeutig zu entnehmen, dass sie die Auffassung vertritt, ebenso wie die Tatsache des Holocaust stehe auch die «offizielle» Bewertung der Rolle und der Taten des Flüchtlingshelfers Paul Grüninger ein für allemal unverrückbar fest, weshalb eine weitere Diskussion zu diesem Thema ausgeschlossen sei. Zwar mag eine derartige Forderung von «Diskussionsverboten» unter dem Gesichtspunkt eines offenen Diskurses als zweifelhaft erscheinen. Das begründet aber noch nicht eine Verletzung der berufsethischen Pflichten.
b) Gisela Blau schreibt am Ende des ersten Abschnitts: «Doch die Behauptung, er sei kein Flüchtlingsretter gewesen, sondern ein Naziagent, dazu noch korrupt, will einfach nicht sterben, weil ein Israeli in Zürich namens Shraga Elam, der sich als Hobbyjournalist und Amateurhistoriker betätigt, trotz allem nicht locker lässt.» Für den Beschwerdeführer zeugt diese «abschätzige» Bezeichnung von Unkenntnis seiner Arbeit. «Meinen historischen Forschungen wurden auch von ÐBerufshistorikernð wie dem bekannten Shoa-Experten Prof. Randolph L. Braham Seriosität attestiert und meine journalistische Tätigkeit bekommt weltweit Anerkennung.» Gisela Blau entgegnet dazu, beide Begriffe seien nicht abschätzig. Sie anerkenne, dass sich der Beschwerdeführer, mit dem Thema «Holocaust-Debatte und Schweiz im Zweiten Weltkrieg» befasst habe. Shraga Elam sei ihr vorher jahrelang von weitem einzig als Mitarbeiter der Ringier-Dokumentationsabteilung bekannt gewesen. Zudem habe sie ihn «phasenweise als Exil-Israeli, der in der WoZ über israelische Politik schrieb», wahrgenommen, später dann als Mitautor eines Buchs zur Holocaustdebatte sowie mit seinen Thesen zu Paul Grüninger.
Ebensowenig wie zum Historikerstreit über Paul Grüninger hat sich der Presserat abschliessend zu den Fähigkeiten des Beschwerdeführers als Historiker und Publizist und zum Umfang dieser Tätigkeiten zu äussern. Aufgrund der Argumentation der Parteien und der dem Presserat vorliegenden Unterlagen ist aber bezüglich des Umfangs der journalistischen Tätigkeit des Beschwerdeführers festzustellen, dass dieser dazu keinerlei quantitative Angaben macht, sondern lediglich auf die weltweite Anerkennung hinweist. Ein derartiges qualitatives Urteil ist aber auch bei einem nebenberuflich tätigen Journalisten ohne weiteres denkbar. Der Presserat vermag deshalb in der Verwendung des Begriffs «Hobbyjournalist» keine sachlich unrichtige Anschuldigung zu erkennen, zumal der Begriff «Journalist» ohnehin keine allzu scharfen Konturen aufweist. Schliesslich ist eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» auch in Bezug auf die Bezeichnung «Amateurhistoriker» zu verneinen. Shraga Elam setzt sich in seiner Beschwerdeschrift argumentativ selber in Gegensatz zum «Berufshistoriker» Prof. Randolph L. Braham und macht auch darüber hinaus nicht geltend, studierter Historiker zu sein oder eine entsprechende Erwerbsarbeit (voll-)beruflich auszuüben.
4. Schliesslich rügt Shraga Elam zumindest implizit eine Verletzung der Anhörungspflicht bei schweren Vorwürfen (Richtlinie 3.8 zur «Erklärung»), wenn er in seiner Beschwerde ausführt, sowohl WoZ wie auch «Tachles» hätten zudem darauf verzichtet, ihn zu ihrer Kritik Stellung nehmen zu lassen. Diesbezüglich ist allerdings auf die Stellungnahme 25/2004 hinzuweisen. Danach würde das Anhörungsprinzip überdehnt, wenn eine Anhörung bei jeglicher harscher, kommentierender Kritik an öffentlich abgegebenen Äusserungen für zwingend erklärt würde. Die Kommentierung bereits veröffentlichter Fakten, die vom Beschwerdeführer selber an die Öffentlichkeit getragen worden sind, erfordert deshalb auch vorliegend keine obligatorische Anhörung. Allerdings – auch wenn dieses Verhalten nicht gegen die «Erklärung» verstösst – hätte es der Presserat begrüsst, wenn gerade «Tachles» weniger die Person des Beschwerdeführers angegriffen und sich stattdessen auf die Kritik an seinen Thesen und seiner Arbeitsweise beschränkt hätte (vgl. hierzu die Stellungnahme 34/2000).
III. Feststellung
Die Beschwerde wird abgewiesen.