Nr. 59/2006
Kommentarfreiheit / Respektierung der Menschenwürde

(X. c. «Züri Rundschau») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 7. Dezember 2006

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I. Sachverhalt

A. Am 11. August 2006 äusserte sich die Redaktorin Y. in der 14-täglich erscheinenden Gratiszeitung «Züri Rundschau» in der Rubrik «In eigener Sache» in einem Kommentar zur Bestrafung pädophiler Täter. Darin erhob sie schwere Vorwürfe gegen «all jene Richter, die sexuellen Kindsmissbrauch als Kavaliersdelikt bezeichnen und der Meinung sind, eine solche Krankheit lasse sich therapieren. Denn Fakten belegen, dass viele dieser perversen Täter sehr glimpflich davon kommen, ja nicht einmal ins Gefängnis wandern, sondern aufs Sofa des Therapeuten liegen und ihm Reue und Schuld vorgaukeln. Sagen Sie mal, lieber Herr Richter, der dieser Ansicht ist, haben Sie ihr Patent beim Strassendealer um die Ecke gekauft oder am Jahrmarkt beim Schiessbudenstand ersteigert? Wenn ja, geben Sie es doch bitte zurück und werden Sie Türklinkenputzer! Dort richten Sie am wenigsten Schaden an. (…) Machen wir diesen perversen Übeltätern endlich ein Ende und hören wir auf, sie therapieren zu wollen. Glauben Sie mir, liebe Bezirksgerichte, diese Täter machen sich nach so einem milden Urteil über uns lustig, amüsieren sich, weil wir ihnen abkaufen, sie würden das nie mehr machen. Aber sagen Sie mal, wie naiv sind Sie eigentlich? Diesen Perversen gehört das Glied abgeschnitten. Diese Täter sollten Tage und Nächte bis aufs Unerbittlichste gequält und dann erst eliminiert werden. Eine Genugtuung für uns Beobachter und Mitfühler, ein kitzekleiner Trost für die Opfer. Mag sein, das tönt jetzt vielleicht etwas zu brutal. Aber sind es nicht genau diese Arten von Bestrafung, die in anderen Ländern funktionieren?»

B. Am 15. August 2006 gelangte X. mit einer Beschwerde gegen den Kommentar von Y. an den Schweizer Presserat. Die Kommentatorin ereifere sich in einer für ihn untragbaren Art und Weise gegenüber dem schweizerischen, weltweit beispielhaften Rechtssystem. «Hinter der Verurteilung oder des Freispruchs eines Pädophilen stehen Dutzende von qualifizierten Fachpersonen, die mit einem sehr grossen persönlichen Engagement das Beste leisten. Unsere Gerichte und ihre Berater/innen derart zu diffamieren widerspricht jeglicher journalistischer Ethik. Soweit Y. in ihrem Kommentar zudem fordere, dass «diesen Perversen das Glied abgeschnitten gehört», stelle sie «das Recht auf die Integrität und die Unantastbarkeit des eigenen Körpers in Frage, das seit dem 18. Jahrhundert eine der wesentlichsten Leistungen unserer Zivilisation» darstelle. Es dürfe nicht sein, dass man derart primitive Aussagen in einer in Grossauflage verteilten Zeitung in der wirtschaftlich stärksten Region der Schweiz ohne Konsequenzen verbreiten könne.

C. Am 21. September 2006 beantragte Chefredaktor Franz Welte namens der Redaktion der «Züri Rundschau», die Beschwerde sei abzuweisen. Beim Beitrag von Y. handle es sich um einen «persönlichen Kommentar». Dieser enthalte keine falschen Tatsachenbehauptungen und ebenso wenig einen direkten Angriff auf eine namentlich erwähnte Person. Das Recht auf freie Meinungsäusserung beinhalte auch das Recht, unser Rechtssystem zu kritisieren, sowie rechtliche Vorschriften und die Gerichtpraxis zu hinterfragen. Die von Y. für pädophile Täter geforderten Strafen gingen zwar sehr weit, seien jedoch «auf das starke Mitgefühl der Autorin für die betroffenen, enorme Leiden erfahrenden Kinder zurückzuführen». Nach der Annahme der Verwahrungsinitiative sei es gestattet, «weitere Schritte zu fordern, um unschuldige Kinder vor Pädophilen zu schützen, um so mehr, als die Zahl der aufgedeckten Fälle weiter zunimmt. Die gefällten Strafen scheinen eine ungenügende Abschreckungswirkung zu haben, was breite Bevölkerungskreise in höchstem Masse bewegt.»

D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener Morscher als Präsidentin an sowie Thomas Bein, Andrea Fiedler, Claudia Landolt Starck, Peter Liatowitsch, Daniel Suter und Max Trossmann.

E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 7. Dezember 2006 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Der Beschwerdeführer rügt zweierlei: Einerseits die «Diffamierung» des schweizerischen Rechtssystems und der Justiz. Andererseits beanstandet er, dass die Kommentatorin ein grundlegendes Menschenrecht in Frage stelle. Bei beiden Rügen stellt sich die Frage nach der Tragweite und den Grenzen der Kommentarfreiheit. In seiner Praxis zur Kommentarfreiheit (Ziffer 2 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten») hat der Presserat immer wieder den grossen Freiraum des Kommentars betont. Allerdings sollten sich in einem Kommentar geäusserte Meinungen besonders auch dann durch eine gewisse Fairness auszeichnen, wenn Einschätzungen von Personen bzw. deren Fähigkeiten wiedergegeben werden (Stellungnahme 3/1998). Auch wenn berufsethisch keine formale Trennung zwischen Nachricht und Kommentar vorgeschrieben ist, sollte die Leserschaft bei stark kommentierenden Berichten in die Lage versetzt werden, zwischen Informationen und Wertungen zu unterscheiden (Richtlinie 2.3 zur «Erklärung»; Stellungnahme 17/2000). Gerade bei pointierter Kritik sind die Medienschaffenden verpflichtet, dem Publikum die den negativen Meinungsäusserungen zugrundeliegenden sachlichen Grundlagen mitzuliefern (29/2001).

2. In der Stellungnahme 50/2002 hat der Presserat festgehalten, dass ein sich gegen eine Gruppe namentlich nicht genannter Richter oder die Justiz im Allgemeinen richtendes Pamphlet, das die «Genfer Justiz» im Zusammenhang mit einer kritisierten Verhaftung als Clique mittelmässiger, mehrheitlich unfähiger, auf Kosten der Allgemeinheit lebender Nichtstuer bezeichnete, sich noch innerhalb der Grenzen der Kommentarfreiheit bewege. Obwohl diese extreme Bewertung jeglicher Fairness entbehre, sei sie derart pauschal und allgemein formuliert, dass sie kaum geeignet sei, einzelne Personen zu verletzen. Ähnlich ist auch die Kritik von Y. an namentlich nicht bezeichneten Richtern, Gerichten und am Rechtssystem insgesamt einzuordnen. Diese Polemik wäre berufsethisch dann als sachlich ungerechtfertigte Anschuldigung (Ziffer 7 der «Erklärung») zu werten, wenn sie sich gegen bestimmte, identifizierbare Einzelpersonen oder Gerichte richten würde. Allgemeine polemische Vorwürfe gegen «den Richter» oder die «lieben Bezirksgerichte», so unhaltbar und daneben sie inhaltlich im Einzelnen auch erscheinen mögen, liegen noch innerhalb des weit gesteckten Rahmens der Kommentarfreiheit. Denn auch wenn die Autorin mit unpassenden Bezeichnungen wie «haben Sie ihr Patent beim Strassendealer um die Ecke gekauft» ihr missliebige Richter lächerlich zu machen versucht, wird die Allgemeinheit der Richter dadurch nicht in ihrem Menschsein herabgewürdigt.

3. Anders ist nach Auffassung des Presserates hingegen der zweite Teil des Kommentars von Y. zu bewerten. Zwar werden auch hier keine Individuen namentlich genannt oder sonstwie identifizierbar gemacht. Mit ihrer (sinngemässen) rechtspolitischen Forderung nach Wiedereinführung von Körperstrafe, Verstümmelung, Folter und Todesstrafe für pädophile Straftäter ruft sie vorab die Öffentlichkeit, mittelbar aber auch die Justiz, zur Missachtung der Menschenwürde dieser Tätergruppe auf.

Zwar wendet die Redaktion der «Züri Rundschau» zu Recht ein, es müsse zulässig sein, den rechtlichen Umgang unserer Gesellschaft mit pädophilen Kriminellen sowie die entsprechende Gerichtspraxis zu kritisieren und härtere Strafen, beispielsweise die Wiedereinführung der Todesstrafe, für diese Tätergruppe zu fordern. Dabei übersieht sie jedoch, dass auch die Berufsethik der Freiheit des Kommentars und der Kritik Grenzen setzt, indem beispielsweise sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen zu unterlassen sowie die Privatsphäre und die Menschenwürde zu respektieren sind. Die Pflicht zur Respektierung der
Menschenwürde (Ziffer 8 der «Erklärung») verlangt von den Journalistinnen und Journalisten, dass sie Menschen in ihrer Berichterstattung nicht verunglimpfen und in unnötiger, sachlich unbegründeter Weise in ihrem Menschsein herabsetzen (Stellungnahme 53/2001 mit weiteren Hinweisen). Der Schutz vor Folter, unmenschlicher Behandlung sowie vor Körperstrafe sowie der Anspruch auf körperliche Integrität stellen als Kerngehalte des verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsschutzes zentrale Konkretisierungen der Menschenwürde dar. Die von Y. in ihrem Kommentar erhobene pauschale Forderung, pädophilen Straftätern sei das Glied abzuschneiden und sie seien nicht «bloss» zu «eliminieren», sondern sollten darüber hinaus zuvor «Tage und Nächte bis aufs Unerbittlichste gequält werden» spricht diesem Personenkreis die genannten zentralen Aspekte der Menschenwürde ab und trägt der in der Richtlinie 8.1 zur «Erklärung» im Einzelfall geforderten Abwägung zwischen Informationsfreiheit und Menschenwürde in keiner Weise Rechnung. Bei Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsprinzips wäre es ihr hingegen ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen, ihre rechtspolitische Forderung nach härterer und anderer Bestrafung in einer die Menschenwürde respektierenden Weise zu formulieren.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Der Schutz vor Folter, unmenschlicher Behandlung und vor Körperstrafe sowie der Anspruch auf körperliche Integrität stellen als Kerngehalte des verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsschutzes zentrale Konkretisierungen der Menschenwürde dar. Mit dem Abdruck der pauschalen Forderung, pädophilen Straftätern sei das Glied abzuschneiden und sie seien nicht «bloss» zu «eliminieren», sondern sollten darüber hinaus zuvor «Tage und Nächte bis aufs Unerbittlichste gequält werden» hat die Redaktion der «Züri Rundschau» in ihrer Ausgabe vom 11. August 2006 die Grenzen der Kommentarfreiheit überschritten und die Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Menschenwürde) verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.