Nr. 1 / 2013
Indiskretionen

Kantonsrat Kanton Zürich c. «Tages-Anzeiger»/«Weltwoche» Stellungnahme des Presserates vom 9. Januar 2013

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I. Sachverhalt

A. Am 13. September 2010 setzte der Kantonsrat des Kantons Zürich im Zusammenhang mit Korruptionsvorwürfen rund um die Beamtenversicherungskasse des Kantons Zürich eine Parlamentarische Untersuchungskommission ein (nachfolgend: PUK BVK). Am 27. Juni 2012 unterbreitete die PUK BVK den Entwurf ihres Berichts unter anderem 27 von der Kommission angehörten Personen zur Stellungnahme.

B. Im Zeitraum zwischen dem 28. August 2012 und dem 10. September 2012 enthüllte Arthur Rutishauser im «Tages-Anzeiger» «brisante neue Fakten» aus dem ihm zugespielten Berichtsentwurf:

– Im Artikel «BVK: Ein Astrologe bestimmte bei Investitions-Entscheiden mit» («Tages-Anzeiger» vom 28. August 2012) moniert Rutishauser, es wirke grotesk, dass man sich bei der BVK in den Jahren 2000 und 2001 bei Investitionsentscheiden auf die Hilfe eines Astrologen verlassen habe.

– Tags darauf berichtete Rutishauser («Die Finma schaltet sich in die BVK-Affäre ein»), das «skandalöse» Geschäftsgebaren in der BVK habe bereits wesentlich früher begonnen, als zuvor bekannt war. Die Vorgeschichte gehe bis ins Jahr 1996 zurück.

– Am 30. August 2012 kritisierte der «Tages-Anzeiger» («Die BVK-PUK verpasste es, einen der wichtigsten Zeugen zu befragen»), ausgerechnet beim Chef der Investmentgesellschaft BT & T, bei der die BVK den grössten Verlust erlitt, habe die PUK BVK nicht nachgefragt.

– Schliesslich wies der «Tages-Anzeiger» am 10. September 2012 («Seit Anfang der Neunzigerjahre zeigten Revisionsberichte Mängel») darauf hin, der Berichtsentwurf zeige auf, dass bereits 1992 erste Verdachtsmomente aufgetreten seien. Als 1996 die Revisionsfirma der BVK ein «denkbar schlechtes Zeugnis ausstellte», sei sie einfach ausgewechselt worden. Einer der frühen Warner stehe nun selber «in der Schusslinie» der PUK.

C. Am 6. September 2012 veröffentlichte die «Weltwoche» einen Artikel von Alex Baur zum Thema («Und keiner wollte es wahrhaben»). Der Lead des Berichts lautet: «Während Jahren wurden Hinweise auf Korruption und Misswirtschaft bei der Beamtenpensionskasse (BVK) des Kantons Zürich hartnäckig ignoriert. Eine PUK sucht nun nach einem Sündenbock, der auch vom Versagen der parlamentarischen Kontrolle ablenken soll.» Der ausführliche Artikel befasst sich bloss gegen Schluss mit der PUK und deren Berichtsentwurf: «Der inzwischen vorliegende provisorische PUK-Bericht ist geheim. Doch was der ‹Tages-Anzeiger›, der offenbar über eine Kopie verfügt, in jüngerer Zeit publik machte, lässt wenig Gutes erahnen. (…) So will die PUK dem Vernehmen nach die eingangs erwähnten Geschenke zugunsten der Angestellten und der Staatskasse ausblenden, die das Parlament im Frühling 1998 im Börsenrausch beschlossen hatte und die wesentlich zur finanziellen Schieflage der BVK beigetragen haben. (…) Offenbar denkt die PUK auch nicht daran, die Warner, welche die Missstände schon vor Jahren präzise gedeutet haben, zu rehabilitieren. Vielmehr bekommt auch Ernst Züst im Entwurf zum Schlussbericht sein Fett ab. Mit seinen Vorstössen im Parlament, so wird moniert, habe er den falschen Weg gewählt.»

D. Am 4. September 2012 reichte der Kantonsrat des Kantons Zürich bei der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich Strafanzeige wegen Amtsgeheimnisverletzung (Artikel 320 StGB), Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen (Artikel 293 StGB) sowie Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung (Artikel 292 StGB) ein.

E. Am 12. November 2012 beschwerte sich der Kantonsrat des Kantons Zürich beim Schweizer Presserat über die obengenannte Berichterstattung von «Tages-Anzeiger» und «Weltwoche». Der Kantonsrat beanstandet, der «Tages-Anzeiger» und die «Weltwoche» hätten mit der Veröffentlichung der beanstandeten Berichte die Richtlinie a.1 – Indiskretionen der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

Die beiden Medien hätten durch die vorzeitige Veröffentlichung von Details aus dem Untersuchungsbericht, dessen Publikation «vor den Herbstferien» geplant gewesen sei, eine Indiskretion im Sinne der Richtlinie a.1 begangen. Dabei wäre es ohne Weiteres möglich und zumutbar gewesen, mit der Publikation von Einzelheiten bis zur öffentlichen Vorstellung des Berichtes zuzuwarten, die dann schliesslich am 2. Oktober 2012 stattfand.

Im Einzelnen rügt der Kantonsrat:

– Es seien keine guten Gründe erkennbar, warum eine Publikation bereits im August bzw. Anfang September und nicht erst später erfolgt sei. Ein öffentliches Interesse habe diesbezüglich nicht bestanden. Die Jagd nach einem «Primeur» sei kein Rechtfertigungsgrund.
– Das Thema oder Dokument sei keineswegs dauerhaft als geheim klassifiziert oder vertraulich deklariert worden.

– Schliesslich habe die vorzeitige Veröffentlichung äusserst wichtige Interessen tangiert. Eine PUK sei für ihre Arbeit auf Vertraulichkeit angewiesen und habe das rechtliche Gehör zu garantieren. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass man ihr wesentliche Informationen vorenthalte.

F. Die «Weltwoche» beantragt in ihrer Beschwerdeantwort vom 13. Dezember 2012 zunächst, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Dies, weil der Kantonsrat zum identischen Sachverhalt auch Strafanzeige erstattet habe. Ohnehin ergebe sich aus dem beanstandeten «Weltwoche»-Artikel in keiner Weise, dass die «Weltwoche» vertrauliche Informationen veröffentlicht habe. Sie sei nämlich nie im Besitz des geheimen Entwurfs des PUK-Abschlussberichts gewesen. Alex Baur habe sich auf Archivinformationen und eigene Recherchen gestützt. Auf den PUK-Bericht selbst nehme der Autor einzig in einer Passage Bezug und verweise dabei auf den «Tages-Anzeiger» als Quelle.

G. Die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion «Tages-Anzeiger» beantragt in ihrer Beschwerdeantwort vom 21. Dezember 2012 ebenfalls, angesichts des im gleichen Zusammenhang hängigen Strafverfahrens sei auf die Beschwerde nicht einzutreten.

In der Sache weist der «Tages-Anzeiger» darauf hin, im PUK-Verfahren gebe es keine Parteirechte, welche von den Medien zu beachten seien. Die Anhörung der Betroffenen durch die PUK sei durch die Publikation der Beschwerdegegnerin weder erschwert noch verhindert worden. Ebenso wenig habe die Veröffentlichung der beanstandeten Artikel äusserst wichtige Geheimnisse verletzt. Es treffe zwar zu, dass der Kantonsrat die Publikation des Berichts «kurz vor den Herbstferien» angekündigt habe. Ende August sei aber noch kein Publikationstermin bekannt gewesen. Da vor der Verabschiedung noch 27 Personen anzuhören waren, sei Arthur Rutishauser davon ausgegangen, die Publikation werde noch länger auf sich warten lassen.

Es habe zudem gute Gründe dafür gegeben, bereits Ende August 2012 an die Öffentlichkeit zu gelangen. Die Ungereimtheiten um die BVK seien seit Jahren ein Thema und seit dem Eklat um Daniel Gloor seien auch schon wiederum zwei Jahre vergangen, ohne dass bis zur Publikation zählbare Ergebnisse vorgelegen hätten. Zurzeit befänden sich Vorlagen in der parlamentarischen Beratung, bei denen es um die dringende Sanierung der BVK gehe. Gemeinden und Firmen stünden vor dem Entscheid, bei der BVK zu bleiben oder eine Lösung mit einer anderen Versicherungskasse zu suchen. Vor diesem Hintergrund sei zu befürchten gewesen, dass bis zur Publikation des Berichts noch viel Zeit verstreichen könnte.

H. Der Presserat wies die Beschwerde der 3. Kammer zu, der Max Trossmann (Kammerpräsident), Marianne Biber, Matthias Halbeis, Peter Liatowitsch und Markus Locher angehören. Jan Grüebler und Franca Siegfried traten von sich aus in den Ausstand.

I. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 9. Januar 2013 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. a) Sofern sich berufsethische Grundsatzfragen stellen, kann der Presserat gemäss Artikel 10 Absatz 2 seines Geschäftsreglements auch dann auf eine Beschwerde eintreten, wenn im Zusammenhang mit dem Beschwerdegegenstand ein Gerichtsverfahren hängig ist.

b) Vorliegend ist parallel zum Presseratsverfahren ein Strafverfahren hängig, in dem es im Wesentlichen um die gleichen Fragen geht. Zudem hat sich der Presserat bereits in früheren Stellungnahmen mit der Veröffentlichung vertraulicher Informationen befasst (vgl. beispielsweise die Stellungnahmen 2/1994, 2/1995 und 1/1997). Bei der Beschwerde des Kantonsrats Zürich stellt sich aber eine Grundsatzfrage, zu der sich der Presserat bisher noch nie explizit geäussert hat: Wie lange ist es zumutbar, mit der Publikation eines vertraulichen Berichts zuzuwarten, wenn dessen Inhalt (allenfalls in überarbeiteter Form) zwar nicht dauerhaft aber noch längere Zeit geheim ist? Um diese Frage zu klären, tritt der Presserat trotz des parallel hängigen Strafverfahrens auf die Beschwerde ein.

2. Die «Weltwoche» macht darüber hinaus geltend, der Entwurf des PUK-Berichts habe ihr gar nicht vorgelegen, weshalb der Vorwurf der Veröffentlichung eines vertraulichen Dokuments ihr gegenüber gegenstandslos sei. Alex Baur habe sich für seinen Artikel vielmehr auf bereits veröffentlichte Informationen und auf eigene Recherchen abgestützt.

Zwar erwecken einige Formulierungen des letzten Teils des Artikels – «so will die PUK dem Vernehmen nach», «Offenbar denkt die PUK nicht daran» – beim Lesen den Eindruck, der Autor zitiere aus dem Bericht und entsprechend könnte der Autor doch Zugang zum Berichtsentwurf gehabt haben. Zumindest ebenso plausibel erscheint allerdings der Einwand der «Weltwoche», Baur habe sich auf andere Quellen und jedenfalls nicht direkt auf den Entwurf abgestützt. Insgesamt ist für den Presserat der vom Kantonsrat gegenüber der «Weltwoche» erhobene Vorwurf der Indiskretion deshalb nicht belegt. Entsprechend ist die Beschwerde, soweit sie sich gegen die «Weltwoche» richtet, bereits aus diesem Grund abzuweisen.

3. a). Gemäss der Richtlinie a.1 – Indiskretionen dürfen Medien Informationen veröffentlichen, die ihnen durch Indiskretionen bekannt geworden sind, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind:

– die Informationsquelle muss dem Medium bekannt sein;
– das Thema muss von öffentlicher Relevanz sein;
– es muss gute Gründe dafür geben, dass die Information jetzt und nicht erst viel später publik werden soll; der Vorteil im publizistischen Wettbewerb genügt nicht als Rechtfertigung;
– es muss erwiesen sein, dass das Thema oder Dokument dauerhaft als geheim klassifiziert oder als vertraulich deklariert wird und es nicht bloss einer kurzen Sperrfrist von einigen Stunden oder Tagen unterliegt;
– die Indiskretion durch die Informantin/den Informanten muss absichtlich und freiwillig erfolgt sein, die Information darf nicht durch unlautere Methoden (Bestechung, Erpressung, Wanzen, Einbruch oder Diebstahl) erworben worden sein;
– die Veröffentlichung darf keine äusserst wichtigen Interessen wie z.B. schützenswerte Rechte, Geheimnisse usw. tangieren.

b) Der Presserat hat bereits in seiner Stellungnahme 2/1994 darauf hingewiesen, dass die Aufgabe der Massenmedien, Öffentlichkeit herzustellen, voraussetzt, dass ihre Recherchen unbegrenzt sind und dass sie über alles berichten, was sie für öffentlich relevant halten. Es widerspricht der Pressefreiheit, wenn der Staat bestimmt, worüber berichtet werden darf.

Und in seiner Stellungnahme 1/1997 zum Fall Jagmetti ergänzte er: «Massenmedien sollten immer dann Öffentlichkeit herstellen, wenn ein öffentliches Interesse an Aufklärung besteht, unabhängig davon, ob die Quelle zugänglich oder vertraulich ist. Bei der Veröffentlichung vertraulicher Informationen ist eine sorgfältige Güterabwägung nötig, bei der auch überprüft werden muss, ob schutzwürdige Interessen verletzt werden. Interne diplomatische Lageberichte sind mit Recht vertraulich, aber nicht in jedem Fall äusserst schutzwürdig. Die Kritik- und Kontrollfunktion der Medien schliesst auch die Aussenpolitik mit ein.»

Und in der Stellungnahme 2/1995 führte der Presserat aus, wenn eine vertrauliche Information ein polizeiliches Ermittlungsverfahren berührt und ihre Offenlegung dessen Erfolgsaussichten gefährdet, könne man von Journalistinnen und Journalisten erwarten, dass sie einige Tage mit der Publikation zuwarten. «Dies ist der Fall bei einem Ermittlungsverfahren wegen Missbrauchs des schweizerischen Territoriums für illegalen Waffenhandel. Das Amtsgeheimnis kann gegenüber den Journalistinnen und Journalisten nur unter klarer Darlegung der Gründe im jeweiligen Fall geltend gemacht werden. Eine solche Begründung ist für Medienschaffende zur Beurteilung der Frage notwendig, ob sie aus berufsethischer Sicht verpflichtet sind, sich angesichts des öffentlichen Interesses über das Publikationsverbot hinwegzusetzen.»

c) Der Kantonsrat beanstandet mit seiner Beschwerde, drei der in der Richtlinie a.1 genannten sechs Voraussetzungen seien im Zusammenhang mit der Publikation des PUK BVK-Berichtsentwurfs nicht erfüllt: Weder habe zeitliche Dringlichkeit für die Veröffentlichung bestanden, noch sei der Inhalt des PUK BVK-Berichts dauerhaft geheim oder vertraulich. Vor allem aber tangiere die Veröffentlichung äusserst wichtige Interessen.

d) Hatte der «Tages-Anzeiger» gute Gründe dafür, die Informationen aus dem zugespielten PUK BVK-Berichtsentwurf vor dessen Freigabe durch die Behörden publik zu machen?

Der «Tages-Anzeiger» bejaht dies unter anderem mit den Argumenten, die Aufdeckung der Missstände um die BVK hätten sich bereits viel zu lange hingezogen, Sachverhalte hätten zu verjähren gedroht und angesichts einer Vernehmlassung bei 27 Personen sei der in Aussicht gestellte Präsentationstermin «vor den Herbstferien» nicht plausibel erschienen. Dieser Argumentation des «Tages-Anzeiger» könnte man allerdings entgegenhalten, angesichts der langen Dauer zwischen der Einsetzung der PUK BVK und der Veröffentlichung ihres Berichts sei es nicht mehr entscheidend, ob dieser nun einen oder zwei Monate früher oder später publik wird.

Angesichts des unbestritten grossen öffentlichen Interesses am Thema BVK, das in den Medien seit Monaten für Schlagzeilen gesorgt hatte, und nachdem auch aufgrund des im gleichen Zusammenhang geführten Strafverfahrens schon viele Informationen publik waren, hält der Presserat dafür, dass es – vorbehältlich der Gefährdung wichtiger öffentlicher oder privater Interessen – legitim war, wenn sich der «Tages-Anzeiger» nicht von vornherein damit zufrieden gab, die Freigabe des PUK BVK-Berichts durch die Behörden abzuwarten. Jedenfalls würde es in diesem Fall zu kurz greifen, die vorzeitige Veröffentlichung von Informationen aus dem Berichtsentwurf auf eine blosse Jagd auf Primeurs zu reduzieren.

e) Wäre es hingegen zumutbar gewesen, mit der Veröffentlichung von Informationen aus dem Bericht wenigstens bis zu den Herbstferien zuzuwarten? Der Kantonsrat wendet diesbezüglich zu Recht ein, das Dokument, um das es gehe, sei gar nicht dauerhaft als geheim klassiert. Vielmehr sei der (definitive) PUK BVK-Bericht ohnehin zur Veröffentlichung vorgesehen gewesen.

Der Presserat hat dazu in der bereits erwähnten Stellungnahme 2/1994 festgehalten, dass es bei einem überwiegenden öffentlichen Interesse zwar zulässig ist, wenn Journalistinnen und Journalisten ihnen zugespielte geheime oder vertrauliche Informationen veröffentlichen. Sie müssen sich dabei aber an die Grundsätze der Fairness und der Verhältnismässigkeit halten. In Bezug auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung hielt der Presserat damals fest: «Es muss gewährleistet sein, dass das Thema oder das Dokument für immer oder für längere Zeit als geheim oder vertraulich eingestuft ist und nicht bloss mit einer Sperrfrist von wenigen Tagen oder Stunden belegt ist. Wenn ein Medium eine Sperrfrist bricht, an die sich alle anderen halten, so ist die Veröffentlichung ungerechtfertigt.»

Mithin ist die Veröffentlichung einer vertraulichen Information entgegen der vom Kantonsrat vertretenen Auffassung nicht nur dann zulässig, wenn ein Dokument auf unbestimmte Zeit als geheim klassiert ist, sondern auch dann, wenn die Geheimhaltung zwar befristet ist, aber über einen relativ kurzen Zeitraum hinausgeht. Entsprechend ist im Einzelfall abzuwägen: Handelt es sich nur um eine kurze Frist bis zur Freigabe einer Informationen durch eine Behörde – in der Richtlinie a.1 ist ausdrücklich von «einigen Stunden oder Tagen» die Rede – so ist den Medien Stillschweigen zuzumuten. Anders verhält es sich hingegen, wenn ein Medium mehrere Wochen oder gar Monate mit der Publikation zuwarten müsste.

Wie der «Tages-Anzeiger» glaubhaft ausführt, ging er Ende August davon aus, die Verabschiedung der definitiven Fassung des Berichts werde noch länger auf sich warten lassen und eine Publikation vor den Herbstferien sei deshalb nicht realistisch. Unter diesen Umständen war es – vorbehältlich entgegenstehender äusserst wichtiger Interessen – nicht zumutbar, mit der im öffentlichen Interesse liegenden Publikation einen Monat oder länger zuzuwarten.

f) Standen der vorzeitigen Veröffentlichung Ende August äusserst schützenswerte Rechte entgegen, die einen Verzicht auf die Publikation nahe gelegt hätten? Der Kantonsrat macht in diesem Zusammenhang geltend, dem Interesse des «Tages-Anzeiger» an der Publikation von Einzelheiten aus dem Berichtsentwurf stehe ein übergeordnetes Interesse entgegen: die Vertraulichkeit gewahrt zu sehen, die eine Untersuchungskommission für ihre Arbeit benötige und um ihre Informanten zu schützen. Diesen schulde sie im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens das rechtliche Gehör, das ihnen mit der Zustellung des Berichtsentwurfs zur Stellungnahme eingeräumt worden sei.

Selbstverständlich ist den Grundprinzipien der Verfahrensfairness gerade auch vor einer Parlamentarischen Untersuchungskommission ein hohes Gewicht beizumessen. Dennoch ist vorliegend für den Presserat konkret nicht von vornherein zu sehen, inwiefern die vorzeitige Publikation von Einzelheiten aus dem Berichtsentwurf die Arbeit der PUK beeinträchtigt haben soll. Und wenn die Betroffenen von vornherein wussten, dass der definitive Bericht offen gelegt würde, erscheint es wenig wahrscheinlich, dass eine vorzeitige Veröffentlichung von Informationen aus dem Entwurf sich negativ auf die Bereitschaft der Informanten auswirkt, sich gegenüber der Kommission zu äussern. Der Kantonsrat legt denn auch nicht näher dar, welche Nachteile die durch die PUK angehörten Personen aufgrund der vorzeitigen Publikation erlitten haben sollen. Und er räumt selbst ein, dass zwischen dem Berichtsentwurf und dem definitiven Bericht nur marginale Differenzen bestehen. Unter diesen Umständen fällt die Güterabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an einer vorzeitigen Publikation von Einzelheiten aus dem PUK-Berichtsentwurf und dem entgegengesetzten Interesse an der Wahrung der Vertraulichkeit des Berichts und der Anhörung der von der PUK befragten Personen zugunsten der Veröffentlichung aus.

4. Der Presserat hat bereits in der mehrfach erwähnten Stellungnahme 2/1994 festgehalten, dass ein ausgedehnter Geheim- und Vertraulichkeitsbereich die Indiskretionen geradezu fördert. «Die Medien verschaffen sich den Zugang zu den vertraulichen Informationen gleichwohl. Allerdings sind sie kaum je in der Lage, sich ohne Hilfe von Insidern vertrauliche Informationen zu beschaffen. (…) Die Regel ist aber, dass sie die Informationen durch Beamte oder durch Parlamentsmitglieder zugespielt erhalten. Das heisst: Es braucht immer zwei, nämlich jemand, der die Information herausgibt, und jemand, der sie dankbar in Empfang nimmt und veröffentlicht.» Und da es in der Praxis meistens nicht möglich ist, herauszufinden, wer die informierende Person war, ist es ungerecht, wenn sich die Strafverfolgung faktisch einzig gegen die Medienschaffenden richtet. Der Presserat begrüsst deshalb den neuen Anlauf zur Abschaffung von Artikel 293 des Strafgesetzbuches (Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen) in Form einer parlamentarischen Initiative, der bisher die beiden Rechtskommissionen von National- und Ständerat zugestimmt haben.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Der «Tages-Anzeiger» (Berichte vom 28., 29., 30. August und 10. September 2012 zum Berichtsentwurf PUK BVK) und die «Weltwoche» (Artikel «Und keiner wollte es wahrhaben» vom 6. September 2012) haben die Richtlinie a.1 (Indiskretionen) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.