Nr. 48/2013
Identifizierung / Privatsphäre

(X. c. «SonntagsBlick») Stellungnahme vom 21. August 2013

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Zusammenfassung

Liebesbeziehungen eines Verwahrten
Darf eine Zeitung über die «neue Knast-Liebe» eines verwahrten Straftäters berichten? Für den Presserat ist dies im Prinzip zu verneinen, da private Angelegenheiten eines Strafgefangenen wie Liebesbeziehungen und Heiratspläne die Öffentlichkeit nichts angehen. Hat ein Strafgefangener aber früher selber aktiv dazu beigetragen, dass solche Themen in Bezug auf seine Person öffentlich diskutiert worden sind, muss er es sich gefallen lassen, wenn ein Medium seine angebliche neue Liebesbeziehung gegen seinen Willen thematisiert.

Der Schweizer Presserat weist eine Beschwerde eines Verwahrten gegen den «SonntagsBlick» ab. Dieser berichtete im Frühjahr 2013 über eine neue «Knast-Liebe» des Beschwerdeführers. Der Presserat verneint im konkreten Fall eine Verletzung der Privatsphäre des Betroffenen, da dessen Fall zu den bekanntesten der jüngeren Schweizer Kriminalgeschichte gehöre. Da er wegen seiner Delikte zu den öffentlichen Personen gehöre, dürften die Medien auch 15 Jahre nach seiner Verurteilung identifizierend über ihn berichten. Hier sei auch die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Resozialisierung und das «Recht auf Vergessen» zu relativieren.

Demgegenüber geht Privates eines Strafgefangenen wie Liebesbeziehungen und Heiratspläne die Öffentlichkeit grundsätzlich nichts an. Denn selbst wenn Prominente die Öffentlichkeit weitgehend an ihrem Privatleben teilhaben lassen, darf man daraus gemäss Presserat kaum je ableiten, dass sie ganz auf den Schutz ihrer Privat- und Intimsphäre verzichten. Nachdem der Beschwerdeführer aber wiederholt selber aktiv dazu beitrug, dass diese Themen im Zusammenhang mit seiner Person öffentlich erörtert worden sind, muss er hinnehmen, dass der «SonntagsBlick» seine angebliche neue Liebe gegen seinen Willen zum Medienthema macht.

Riassunto

Gli amori di un detenuto
Può un giornale riferire che il criminale in prigione ha una nuova amante?  In linea di principio no, dice il Consiglio della stampa, perché faccende private come un innamoramento o l’intenzione di sposarsi, anche se l‘interessato è un pregiudicato in carcere, non sono di interesse pubblico. Se tuttavia in passato l’individuo in questione si è attivato perché di queste sue faccende private si parlasse nei media, ora non può avere ragione di opporsi a che se ne riparli.

Il Consiglio della stampa ha respinto il reclamo presentato contro il «SonntagsBlick». da un criminale detenuto in un carcere. Il giornale riferiva di un suo nuovo «amore dietro le sbarre». La pubblicazione del nome e cognome non rappresenta nello specifico una violazione della sfera privata – osserva il Consiglio – intanto perché tutti si ricordano del caso come di uno dei più clamorosi della recente storia giudiziaria. E se è vero che sono passati 15 anni dalla condanna, dare nome e cognome della persona non dev‘essere ritenuto necessariamente un ostacolo alla sua futura risocializzazione, e neppure un’infrazione al «diritto all’oblio».  

Circa i «nuovi amori» e i progetti di matrimonio dell’individuo in questione, è vero – dice il Consiglio della stampa – che le persone famose si espongono volentieri a questo tipo di pubblicità: non si dovrebbe però dedurne senz’altro che accettano di rinunciare senz’altro alla protezione della loro sfera privata o intima. Nel caso, è il reclamante stesso che si è dato da fare per alimentare le chiacchiere della gente. Non deve perciò stupirsi se un giornale lo ritira in ballo.


I. Sachverhalt

A. Am 28. April 2013 publizierte Walter Hauser im «SonntagsBlick» unter dem Titel: «Der Baby-Quäler hat eine neue Knast-Liebe – X. will sich scheiden lassen» einen Artikel über den 1998 vom Zürcher Geschworenengericht zu 17 Jahren Zuchthaus verurteilten und gleichzeitig verwahrten X.. Der «bekennende Homosexuelle» sorge in der Strafanstalt Pöschwies «mit einer neuen Liebesbeziehung für Aufruhr». 2009 habe er einen Mithäftling heiraten wollen. Als ihm die Gefängnisleitung dies verwehrt habe, sei er erfolglos in einen Hungerstreik getreten. Kaum wieder gesund habe er – «diesmal mit dem Segen der Gefängnisleitung» – Ende 2010 einen heute 73-jährigen Rentner geheiratet. Jetzt sorge X. mit seinem Liebesleben abermals für Aufsehen und werfe damit die Frage auf, «was Schwerverbrechern im Gefängnis alles erlaubt sein soll». X. sei seit rund einem halben Jahr mit einem 38-jährigen Mithäftling, «ein mehrfach vorbestrafter Kinderschänder», liiert, wolle diesen heiraten und sich deshalb von seinem bisherigen Partner scheiden lassen. «Den Ehewunsch haben sie gegenüber der Anstaltsleitung geäussert», welche den Fall gegenüber dem «SonntagsBlick» nicht kommentiere. Die Gefängnisleitung sei über die «Liaison» nicht erfreut und habe bereits ein Gesuch abgelehnt, das Familienzimmer zu benützen. Auch die Zürcher Justizdirektion äussere sich nicht zum konkreten Fall, sondern nur zu Beziehungen in der Anstalt im Allgemeinen. Danach würden sexuelle Kontakte unter Gefangenen «nicht toleriert», um «Prostitution, Abhängigkeit und die Bildung von Subkulturen» zu verhindern. «Gefangene dürfen das Familienzimmer nur benutzen, wenn ihre Partnerin oder Partner nicht inhaftiert sind.»

B. Am 23. Mai und 6. Juni 2013 beschwerte sich der im obengenannten Artikel erwähnte X. beim Schweizer Presserat, der «SonntagsBlick» habe mit der Publikation seine Privatsphäre (Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten») verletzt. Der beanstandete Bericht nenne seinen Namen und zeige ihn im Bild, ohne dass er dazu seine Einwilligung gegeben habe. Sein «Recht auf Vergessen» und auf Resozialisierung werde damit ebenso missachtet wie der Anspruch auf die Respektierung seiner Intimsphäre.

Zudem seien die Behauptungen des «SonntagsBlick» zu seiner angeblichen neuen Liebesbeziehung tatsachenwidrig (Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung»). Weder habe er einen Liebhaber noch wolle er die Scheidung von seinem eingetragenen Partner. Ebenso sei die Behauptung eine pure Verleumdung, er habe ein Gesuch für die Benützung des Familienzimmers eingereicht. Die beiden im Artikel als Quellen bezeichneten Behörden, die Justizdirektion und die Gefängnisleitung, hätten sich zu seinem konkreten Fall gar nicht geäussert. Und im Gegensatz zu den beiden im Artikel zitierten Behörden habe der Autor des Berichts weder ihn noch seinen Lebenspartner zu den Gerüchten angehört (Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» – Anhörung bei schweren Vorwürfen).

Verletzt habe der «SonntagsBlick» schliesslich auch die Ziffer 8 der «Erklärung» (Menschenwürde, Diskriminierung). Er habe seine gerichtlich ausgesprochene Strafe vollumfänglich verbüsst und damit die ihm zur Last gelegten Straftaten gegenüber der Öffentlichkeit gesühnt. Ausschlaggebend für die Veröffentlichung des Artikels sei offensichtlich seine sexuelle Orientierung.

Zusätzlich zur Beschwerde an den Presserat habe er gegen die Verantwortlichen des «SonntagsBlick» auch Strafanzeige eingereicht.

C. Am 20. Juni 2013 teilte der Presserat der Redaktion «SonntagsBlick» mit, das Presseratspräsidium beabsichtige ungeachtet der parallel hängigen Strafanzeige auf die Beschwerde einzutreten. Im Fall des Beschwerdeführers stelle sich die grundlegende, vom Presserat bisher nicht beantwortete Frage, inwiefern es sich im Zusammenhang mit einem aufsehenerregenden Verbrechen auch 20 Jahre nach einer Verurteilung noch rechtfertigt, in identifizierender Weise über das Privatleben des Verurteilten
zu berichten.

D. Am 5. August 2013 teilte die anwaltlich vertretene Redaktion «SonntagsBlick» mit, da der Beschwerdeführer vor der Beschwerde an den Presserat bereits sowohl eine Zivil- als auch eine Strafklage erhoben habe, sei auf die Beschwerde nicht einzutreten. Die Redaktion «SonntagsBlick» verzichte unter diesen Umständen auf jeden Fall auf eine Beschwerdeantwort.

E. Der Presserat wies die Beschwerde der 3. Kammer zu, der Max Trossmann (Kammerpräsident), Marianne Biber, Jan Grüebler, Matthias Halbeis, Peter Liatowitsch und Markus Locher angehören. Franca Siegfried, Redaktorin im Newsroom der «Blick»-Gruppe, trat gestützt auf Artikel 14 Absatz 2 des Geschäftsreglements des Presserats von sich aus in den Ausstand.

F. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 21. August 2013 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Gemäss Artikel 10 Absatz 2 seines Geschäftsreglements kann der Presserat auf eine Beschwerde eintreten, auch wenn der Beschwerdeführer parallel zur Presseratsbeschwerde ein Gerichtsverfahren eingeleitet hat, sofern sich berufsethische Grundsatzfragen stellen. Diese Voraussetzung ist für den Presserat bei der vom Beschwerdeführer gerügten Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» erfüllt. Denn der Presserat hat sich bisher nie zur Frage geäussert, ob eine identifizierende Berichterstattung bei aufsehenerregenden Kriminalfällen, bei denen der Name des Täters allgemein bekannt geworden ist, auch Jahre nach der Verurteilung weiterhin zulässig ist und ob dabei auch das Privatleben des Betroffenen thematisiert werden darf. Insoweit tritt der Presserat deshalb auf die Beschwerde ein.

Soweit der Beschwerdeführer darüber hinaus eine Verletzung der Wahrheitspflicht, der Pflicht zur Anhörung bei schweren Vorwürfen und des Diskriminierungsverbots rügt, tritt der Presserat hingegen nicht auf die Beschwerde ein. Die Frage, ob die Ausführungen im beanstandeten «SonntagsBlick»-Artikel über die angebliche neue «Knast-Liebe» des Beschwerdeführers der Wahrheit entsprechen, können staatliche Behörden in einem förmlichen Beweisverfahren eher klären. Eine Verletzung der Anhörungspflicht (Richtlinie 3.8) fällt offensichtlich ausser Betracht, da der «SonntagsBlick»-Artikel» keine schweren Vorwürfe gegenüber dem Beschwerdeführer erhebt. Ebenso ist eine Verletzung von Ziffer 8 der «Erklärung» offensichtlich zu verneinen. Der beanstandete Bericht enthält keinerlei diskriminierende Anspielungen.

2. a) Die Ziffer 7 der «Erklärung» verlangt von den Journalistinnen und Journalisten, die Privatsphäre von Personen zu respektieren, sofern an einer Berichterstattung kein überwiegendes öffentliches Interesse besteht. Für den Presserat ist vorliegend zwischen der generellen Zulässigkeit einer identifizierenden Berichterstattung über den Beschwerdeführer (Richtlinie 7.2) und der Frage zu unterscheiden, ob der «SonntagsBlick» darüber hinaus auch Tatsachen aus dem Privat- und sogar aus dem Intimleben des Beschwerdeführers veröffentlichen darf (Richtlinie 7.1).

b) Der Fall des Beschwerdeführers gehört zu den bekanntesten Gerichtsfällen der jüngeren Schweizer Kriminalgeschichte. X. ist aufgrund der Medienberichterstattung über seine Delikte landesweit bekannt geworden. Zudem lässt sich kaum behaupten, dass der Beschwerdeführer seit seiner Verurteilung vor 15 Jahren alles getan hat, um nicht neuerlich in den Fokus der Medien zu geraten. So berichteten Schweizer Medien in den letzten Jahren verschiedentlich breit über seine bisher erfolglosen Bemühungen, seine Verwahrung in eine andere Massnahme umzuwandeln. Ebenso waren auch Liebesbeziehungen und Heirat im Gefängnis bereits früher ein Thema. Dabei trug der Beschwerdeführer bisweilen auch selber zur öffentlichen Aufmerksamkeit bei, sei es durch einen Hungerstreik, durch Briefe an Medienredaktionen oder dadurch, dass er seinen Anwalt ermächtigte, sich zu seinem Fall zu äussern.

Da der Beschwerdeführer im Zusammenhang mit seinen Delikten mithin zu den öffentlichen Personen gehört, ist es deshalb nicht zu beanstanden, wenn Medien auch 15 Jahre nach der Verurteilung identifizierend Weise über den Beschwerdeführer berichten und dabei auch die ihm zur Last gelegten Verbrechen in verhältnismässiger Weise erwähnen. Insoweit ist deshalb auch die Rücksichtnahme auf die Resozialisierung (Richtlinie 7.4) und das «Recht auf Vergessen» zu relativieren, hält doch die Richtlinie 7.5 zu letzterem fest, dass dieses Recht nicht absolut gilt. Medienschaffende dürfen danach über eine länger zurückliegende Verurteilung berichten, sofern dafür ein aktueller Anlass besteht (vgl. dazu auch die Stellungnahme 22/2008).

c) Weniger klar zu beantworten ist hingegen die Frage, inwieweit Journalistinnen und Journalisten dabei auch Informationen veröffentlichen dürfen, die der Privat- oder gar der Intimsphäre des Beschwerdeführers zuzuordnen sind. Die Richtlinie 7.1 zur «Erklärung» hält dazu fest, dass auch Prominente Anspruch auf den Schutz ihres Privatlebens haben. Öffentliche Personen können zwar nicht beanspruchen, dass über sie nur in genehmem Zusammenhang berichtet wird. Selbst wenn Prominente die Öffentlichkeit in weitem Umfang an ihrem Privatleben teilhaben lassen, lässt sich daraus aber kaum je ein gänzlicher Verzicht auf den Schutz der Privat- und Intimsphäre ableiten (Stellungnahme 52/2006).

Grundsätzlich gilt deshalb, dass private Angelegenheiten eines Strafgefangenen wie Liebesbeziehungen und Heiratspläne etc. die Öffentlichkeit nichts angehen. Nachdem der Beschwerdeführer in der jüngeren Vergangenheit aber auch selber aktiv dazu beigetragen hat, dass diese Themen im Zusammenhang mit seiner Person öffentlich diskutiert worden sind, muss er es sich gefallen lassen, dass der «SonntagsBlick» seine angebliche neue Liebesbeziehung und die sich daraus ergebenden Komplikationen gegen seinen Willen erneut zum Medienthema macht. Zumal sich der beanstandete Bericht auf eine nüchterne Wiedergabe des (vom Beschwerdeführer bestrittenen) Sachverhalts beschränkt und somit die Verhältnismässigkeit wahrt.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit der Presserat darauf eintritt.

2. Der «SonntagsBlick» hat mit der Veröffentlichung des Artikels «Der Baby-Quäler hat eine neue Knast-Liebe – X. will sich scheiden lassen» vom 28. April 2013 die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Privatsphäre – Recht auf Vergessen) nicht verletzt.